Es liegt Schnee. Nein, nicht draußen auf den Straßen. Der Regen hat die Puderzuckerkappen auf den Häusern schon weggewaschen. Das einzige, das an den weißen Zauber erinnert, ist die Nässe auf dem Asphalt und in der Luft. Und gar der Himmel. Der ist grau und so voller Wolken, daß man es kaum bemerkt, wann die Nacht eigentlich aufhört und der Tag beginnt. Die Morgendämmerung war nur noch wie ein grauer Schatten gekommen, und grau sieht auch die Welt aus. Die Leute haben sich in dicke Mäntel gehüllt und stapfen vorbei ohne aufzublicken: Weihnachtsbesorgungen machen. In Gedanken sind sie schon halb im Winterurlaub oder vielleicht noch in der nahen Vergangenheit bei dem Ärger in der Firma, am Arbeitsplatz. Ungut muß es gewesen sein, denn ganz offenbar haben sie alle Sorgen, so finster blicken sie. Doch, ab und zu grüßen sich auch manche und sagen mit einem Lächeln: "Frohe Weihnachten!". Denn heute ist der Tag vor der heiligen Nacht. Und ganz selten kommt jemand mit strahlendem Gesicht die Straße entlang, wahrscheinlich mit den Gedanken noch bei den Freunden oder irgendeinem angenehmen, frohen Ereignis. Oder der Vorfreude? Wie ein Komet streift er oder sie vorbei, und dahinter breitet sich wieder der graue Tag aus.
Dennoch, es liegt Schnee. Nur einen Atemzug entfernt; nur ein Flimmern in der Luft, und er wäre da, so daß jeder ihn sehen könnte. Schließlich ist heute ein besonderer Tag, ein Tag, an dem der Himmel die Erde berührt, und was sonst unmöglich wäre, könnte geschehen. Graue Straßen, graue Menschen, graue Wolken - und darüber schwebt ein Geheimnis. Irgendwo. Fast kann ich es sehen.
Ich schließe die Augen, und es geschieht. Statt der nassen Straße liegt da ein weiß verschneiter Weg. Aus einer anderen Welt oder einer anderen Zeit. Ich weiß es nicht. Menschen sind keine mehr zu sehen. Aber der Zauber des Tages ist der gleiche geblieben. Statt der Vorstadthäuser steht dort nur noch ein einsames Holzhaus. Und vor dem Holzhaus steht ein Pferd und erwartet mich. Es gibt keinen Zweifel, daß es auf mich wartet, ich halte schon seine Zügel in der Hand. Und welche Zügel! Wie der Sattel sind sie aus rot-braunem Leder, mit blank geputztem Messing beschlagen. Auch der Wintermantel hat sich verwandelt, in einen Reitumhang. Die etwas abgewetzten braunen Stiefel sehen endlich so aus, wie die Stulpenstiefel aus Leder, die sich einfach in keinem Geschäft auftreiben lassen.
He! Da bleibt nur noch eines zu tun: aufgesessen und auf den Weg. Wo das Ziel liegt, weiß ich zwar nicht, aber das Pferd wendet sich zielbewußt nach Süden, einen schmalen Pfad zwischen schneebeladenen Bäumen entlang. Lange Kilometer stapft es langsam zwischen den Tannen und Fichten hindurch. Die Welt ist voller Stille. Nur der Schnee knirscht unter den Pferdehufen und manchmal fällt mit einem dumpfen Laut etwas davon von den schwerbeladenen Bäumen. Alles ist so voller Erwartung. Aber nicht wie in der Windstille vor einem kommenden Wirbelsturm. Mehr wie das Stocken des Atems vor dem Sprung von einer Schanze. Warten auf den Augenblick des Aufsetzens.
Schließlich verläßt der Weg die dichten Bäume, führt auf ein weites, weißes Feld und - heda - , als mein Blick der breiter werdenden Straße folgt, hält ihn etwas fest: fern am Horizont strahlt ein helles Licht. Voller Überraschung ziehe ich die Zügel an und betrachte eine Weile dieses seltsame Licht. Es ist schwer, den eigenen Augen zu trauen: aber dort steht der Weihnachtsstern. Etwas anderes kann es gar nicht sein, denn plötzlich tanzt die Freude in meinem Herz und ich weiß, wohin mein Weg geht.
Das Pferd trabt an, Schnee staubt auf. Felder über Felder ziehen an uns vorbei. Mit dem Wind singe ich zu den alten Obstbäumen in den Äckern Lieder vom Advent, vom Messias, der auf die Erde kommen will. Zuerst leise, eher für mich. Aber dann läßt sich die Freude nicht mehr einsperren. Später begegne ich auch anderen Menschen auf der Straße. Sie gehen so schweigend vor sich hin, wie vor kurzem noch die Leute in der Stadt. Meine losgelassene Freude kann sie nicht einfach so gehen lassen: "Grüß dich, Bruder, grüß dich Schwester´, rufe ich. "Sei nicht länger traurig. Heute ist doch ein ganz besonderer Tag. Schau hin, dort ist ein Stern erschienen. In der heutigen Nacht kommt das Licht auf die Welt. Komm mit, komm mit!"
Manche lachen zurück und antworten:"Ich weiß schon, ich weiß schon. Wir sind schon unterwegs." Andere blicken verwundert. Wer weiß, was sie sehen. Doch um mich singt die Welt, über die die Nacht fällt. Die Sterne singen Gloria, der Wind braust: ´Er ist da! er ist da!´, die Bäume flüstern: ´Heute, heute!´ Der Hufschlag des Pferdes klingt wie Glockengeläut, und das Licht kommt näher, näher.
Endlich erreiche ich ein Dorf. Die Straßen sind verlassen, nur in manchen Fenstern leuchtet Licht. Aber auch mein Licht ist nahe. Mitten im Festtagsglanz steht ein hohes Gebäude. Ich sitze ab, streiche meinem Pferd über den seidigen Hals und sage ihm: „Warte auf mich.“ Dann steige ich die Stufen des Gebäudes hinauf.
Im Innern sind schon viele andere. Es ist ganz still. Mitten durch sie hindurch ist ein schmaler Durchgang frei geblieben. Gerade als ich die vordersten Menschen erreiche, geschieht das Wunder. Ich stehe vor Ihm, der gerade in diese Welt gekommen ist. Nicht dass ich viel sähe. Aus der Dunkelheit kommend, sind meine Augen ganz geblendet von einer unglaublich strahlenden Helligkeit, mein Herz rast im Trommelwirbel, der Atem stockt: ich bin da, in Bethlehem, wo immer es ist. Da tue ich das einzige, was zu tun ist. Ich knie nieder und flüstere: "Mein Herr und König, ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich bete dich an."
Einen Augenblick schließe ich die Augen in einer Welt voll Licht und Glück. Als ich sie wieder öffne, ist wieder etwas verändert. Ich befinde mich in der Kirche meines Heimatortes. Neben mir kniet der Freund, mit dem ich mich hatte treffen wollen, um uns stehen die Leute, die keinen Platz auf den Bänken gefunden haben (wie das eben nur in der Christmette vorkommt), und vor mir erhebt der Priester am Altar die Hostie.
"Herr", flüstere ich nochmals - so leise, daß es nur der hören kann, für den es bestimmt ist. Einen Sekundenbruchteil streift mich nochmals eine Vision von Licht und unbändiger Freude.
Die Straße, auf die wir einige Zeit später treten, ist immer noch grau und naß. Aber irgendwo dort über den Wolken tanzen noch immer die Sterne, der Wind flüstert über weiße Felder: Er ist da, er ist da! und irgendwo klingt Hufschlag wie fernes Glockengeläute. Nur einen Atemzug, nur einen Herzschlag entfernt ...
"Frohe Weihnachten! Du strahlst wie der Weihnachtsstern persönlich", sagt mein Begleiter.
"Frohe Weihnachten", lächele ich zurück. "Wie könnte es anders sein. Wir sind doch gerade Gott begegnet."