Donnerstag, 6. Januar 2011

Schwarzes Pferd I - Kapitel 1.5


Am nächsten Morgen erwachte Robin mit dem frohen Bewusstsein, dass die Tage, bis endlich der so lange erhoffte Aufbruch kommen würde, gezählt waren. Er war immer noch ärgerlich über diesen Mann namens Kurt, der in so in die Enge getrieben hatte. Aber nicht zu sehr, weil er verstand, dass dieser sich der Sache hatte sicher sein wollen und weil er auch nicht vor sich abstreiten konnte, dass der unangenehmste Teil daran, auf sein eigenes Konto zu rechnen war. An diesem Vormittag begann Béarisean, ihm möglichst viel von dem mitzuteilen, was er brauchen würde, um in Abhaileon zurecht zu kommen.

„Langsam“, unterbrach Robin nach einer Weile. „Lass mich das mal soweit wiederholen: Arda- so nennt ihr die Welt hier. Die Erde.“
„Nein“, schüttelte Béarisean den Kopf. „Das hört sich nur ähnlich an wie Erde. Arda ist da Ganze hier mit allen Sternensystemen.“
„Und Abhaileon ist so eine Art Anderswelt. Wie die von der die Iren Sagen haben. Überhaupt sind einige von diesen keltischen Geschichten tatsächlich Erinnerungen daran, dass es zwischen unseren zwei Welten Verbindungswege gibt. Darum haben wir irgendwo in grauer Vorzeit gemeinsame Vorfahren. “ Sein Gast nickte dieses Mal. „Und Breannain oder Brendan ist der irische Mönch, von dem wir hier wissen, der behauptet, in dieser Anderswelt gewesen zu sein, vor vielen hundert Jahren.“ Wieder bestätigte Béarisean die Aussage. „Aber Abhaileon ist anders, als das in seiner Reise in die Anderswelt beschrieben wird. Es ist ein bisschen wie unser Mittelalter, aber in vielem auch nicht. Die Regierungsform ist zum Beispiel eine Art konstitutionelle Monarchie, was es bei uns erst seit der Neuzeit gibt. Das Staatsoberhaupt ist eigentlich der Regent. Aber um als Regent anerkannt zu werden, braucht es einen bestimmten Siegelring, und der ist seit Jahrhunderten verschwunden. Darum regiert der Rat, den es schon so lange wie den Regenten gibt, derzeit allein, und gewählter Vorsitzender des Rates ist dein Tutor Estohar. – Zwischenfrage: Was in aller Welt ist so besonders an diesem Siegelring, dass es keinen Regenten geben kann, außer er würde wieder auftauchen? Ach ja, und ist nicht inzwischen der Ratsvorsitzende so gut wie der Regent geworden?“

Das Gesicht seines Gastes verdüsterte sich etwas. „Da kommen wir auf das Hauptproblem zu sprechen. Es gibt Parteiungen, die fordern, sich nach etwa dreihundert Jahren endlich den Gegebenheiten anzupassen und die abhaileonische Regierungsform zu ändern. Was wohl in erster Linie hieße, dem gewählten Ratspräsidenten die Machtbefugnisse des Regenten auf Zeit zu übertragen. Denn die Fürsten der Provinzen sind nicht bereit, einfach jemanden zu akzeptieren, der auf Dauer die Befugnisse des Regenten hätte. Diesem wären sie nämlich zur Treue verpflichtet und müssten sich weitgehend an dessen Anordnungen halten.
Die jetzige Rolle Estohars ist eher repräsentativ. Er wird nicht völlig ignoriert, muss aber taktieren, um Mehrheiten für Beschlüsse zu erhalten.“

„Die Forderung nach einer Änderung klingt unter den Umständen nicht unvernünftig“, bemerkte Robin. „Wo also liegt das Problem?“
„Das Problem liegt bei Alandas“, erklärte Béarisean. „Der Fürst von Alandas ist der, der vor dem König für Abhaileon verantwortlich ist. Er delegiert diese Aufgabe an den Regenten, der ihm gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Er gibt ihm den schon erwähnten Siegelring.“
„Ich sehe noch immer kein Problem“, meinte Robin. „Gut. Der Siegelring ist verschwunden. Warum wird der Regent nicht auf andere Weise ernannt? Oder wieso lasst ihr dann nicht einfach diesen Fürsten, der anscheinend das Erbrecht auf die Regierung hat, diese ausüben?“
„Wie ich schon sagte“, entgegnete Béarisean, dem man ansah, dass ihm die ganze Situation zunehmend unangenehm war, „das Problem liegt bei Alandas. Du scheinst zu denken, es sei eine der abhaileonischen Provinzen. Aber das ist es nicht. Alandas liegt hinter den Nordbergen und derzeit ist keiner der altbekannten Pässe und Zugänge dorthin passierbar. Nein, lass mich ausreden“, hinderte er seinen Gastgeber an einer weiteren Frage. „Alandas ist nicht Teil der Welt Abhaileon und daher auch nur durch entsprechende „Tore“, Zugänge, erreichbar, so wie Arda. Aber Alandas ist auch völlig anders als Arda. Dort wohnen nur Boten des Königs – ihr würdet wohl Engel sagen.“

Béarisean schien auf Robins Reaktion zu warten, bevor er mit seiner Erläuterung fortfahren würde. Robin runzelte die Stirn und wollte nach kurzem Überlegen wissen:. „Wenn das Engel sind, warum können dann sie nicht die Grenze überschreiten?“
Béarisean schien über die Frage geradezu erleichtert. Was hatte er denn befürchtet? „Sie können sicherlich“, sagte er. „Aber nach allem, was wir wissen, werden sie nicht, weil es gegen die Regeln ist.“
„Und die Regeln sind?“ versuchte Robin ihm zum Weiterreden zu bringen.
„Der Fürst von Alandas und der Schwarze Fürst und alle, die zu ihnen gehören, können nur nach Abhaileon, wenn sie dazu eingeladen werden. Wir befürchten, dass jemand das in Bezug auf den letztgenannten getan hat oder bald tun wird.  Es ist schon früher geschehen. Das letzte Mal um die Zeit Colins des Großen.Die Festungen Carraig, an der Nordgrenze Dalinies, und Cardolan, in der Ostheide, die er damals besaß, wurden geschleift und es soll keine Spur mehr von ihnen zu sehen sein.“ Er seufzte. „Die Ostheide ist eine verlassene Gegend, aber sie ist kein solches Hindernis wie die Nordberge. Wenn jemand dort mit ihm Kontakt aufnimmt …“

„Jenseits der Ostheide liegt also auch eine andere Welt, sagst du?“
Béarisean nickte. „Und bevor du weiterfragst. Die Westgrenze, der Ozean,  ist die mit Arda, und keiner – wirklich niemand weiß, ob oder was jenseits der Südwüste ist. Falls sie in Imreach Sagen darüber haben sollten, kenne ich sie nicht.“
„Ähm“, Robin musterte seinen Gast vorsichtig. „Nordberge. Ostheide. Südwüste. Das klingt irgendwie, na ja, jedenfalls nicht sehr einfallsreich. Hat schon einmal jemand versucht, sie zu durchqueren und zu sehen, was am anderen Ende ist?“
Béarisean meinte lakonisch: „Die Abhaileoner unterscheiden sich in den meisten Dingen kaum von den Ardanern. Natürlich haben sich schon welche in den Grenzgegenden verirrt. Manche haben den Weg schließlich zurückgefunden, andere nicht. Wo auch immer sie es probierten, sie streiften nur durch öde Gegenden. Es ist nicht so, als ob Abhaileon an irgendeiner Stelle in eine andere Welt übergeht. Es gibt nur die Tore, an denen das möglich ist. Wer die nicht findet, bleibt in den Randbereichen Abhaileons.

„Und woran erkennt man diese Tore?“ wollte Robin wissen. „Wie sehen sie bei euch aus und wie könnte man hier eines erkennen?“
„Man erkennt sie gar nicht“, sagte Béarisean. „Jedenfalls nicht die nach Arda. Es heißt zwar, sie seien meist von Dunst oder Nebel umgeben. Aber oft sind man wirklich nichts. Da ist die Landschaft, die sich in nichts von der Umgebung unterscheidet, und wer nicht weiß, wo die Nahtstelle zwischen den Welten ist, kann einen Schritt entfernt an ihr vorbeigehen, ohne es je zu bemerken. Mit den Übergängen nach Alandas war es anders. Aber die sind aus verschiedenen Gründen nicht mehr aufzufinden. Bei Geata Tir hat es Erdrütsche gegeben. Gleann Fhírinne (Aussprache: Glann Irinne) ist unpassierbar und so geht es weiter.“
„Und wie bist du hierher gekommen, nach – Arda?“
„Estohar kennt eines der Tore. Damals war es noch sicher, es zu durchqueren. Aber kurz nachdem ich das tat, ist die Verbindung mit Abhaileon weitgehend zusammengebrochen. Kurt sagt, der Feind überwache es. Darum können wir dort nicht durch. – Die einzige uns bisher bekannte Alternative muss hier sein.“

„Und diesen Zugang kennt der Feind nicht?“
Béarisean zuckte mit den Schultern. „Es scheint so. Sonst hätte er wahrscheinlich unsere Begegnung verhindert oder wäre schon hier aufgetaucht. Allerdings …“
„Allerdings, konnte ich die genaue Stelle gestern auch nicht finden. Es muss in der Nähe dieser Brücke bei der Trauerweide sein. Glaub mir, ich habe gesucht. Die Aussicht, wenigstens für ein paar Minuten, wieder in Abhaileon zu sein … Ich würde sonst etwas dafür geben. Leider, war es nicht zu finden.“
„Vielleicht ist da kein Übergang.“
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Der Übergang muss da sein. Wir sind uns begegnet. Also stimmte der Teil der Prophezeiung. Dann wird der andere auch zutreffen. Vielleicht findet Kurt noch mehr heraus.“
„Vielleicht kann ich den Übergang finden“, schlug Robin vor.
„Wir sollten das versuchen“, stimmte Béarisean zu. „Am besten noch heute. Aber wenn du keinen Erfolg hast, sollten wir danach fürs erste von dort weg bleiben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Feind auch davon wissen wird.“

*******
Festung Cardolan, an der östlichsten Grenze Abhaileons
“Die Karten!” verlangte Akan mit gleichgülter Stimme. Seine dunkelgrauen Augen waren hart und undurchdringlich. Niemand konnte ihm ansehen, dass er in Gedanken mehr bei dem Ereignis war, das auf Arda geschehen war als bei den Problemen auf Cardolan. Wie lange würde es dauern? Drei Wochen? Vier oder mehr, bis der Bote aus Carraig ihn in den Westen rief? Kaum genug Zeit, um hier auf Cardolan alles zu ordnen. Wie lange dann noch, bis er Arda erreichen konnte? Drei bis vier Wochen von der Ostheide bis nach Carraig. Wenigstens weitere vier bis in den Westen. Selbst wenn auf Arda die Zeit langsamer verstrich, wie viel mochte bis dahin geschehen sein. Hätte Barraid ihn nur auf Arda seine Arbeit tun lassen! – Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Hauptmann von Cardolan zu, der sich noch immer nicht zu einer Antwort entschlossen hatte. Der Gesichtsausdruck des anderen anwesenden Cardolaner Offiziers, Ingro, wies untrüglich darauf hin, dass es Schwierigkeiten gegeben hatte.

“Sie sind noch nicht fertig”, gab Hauptmann Urkha widerwillig zu.  “Wir sind es hier nicht gewohnt, unsere Zeit mit solchen ...”
“Ich gebe dir noch zwei Wochen”, schnitt Akan ihn ab. “Bis dahin wird alles vorliegen, wie ich es verlangt habe.” Urkha taugte nicht für den Posten hier. Aus für Akan unerfindlichen Gründen zog Barraid es vor, manche Positionen mit den grobschlächtigsten Leuten zu besetzen, nicht mit den geeignetsten. Dazu kam, dass Akan seine Autorität hier erst etablieren musste. Unter Asrains Kommando war es zu Nachlässigkeiten gekommen. Manche begriffen es schnell, dass es klüger war, Akans Befehl zuverlässig nachzukommen. Manche, solche wie Urkha, mussten erst lernen, dass exakte Arbeit kein Indiz für einen Mangel an Stärke war.

Urkha zögerte kurz. Lord Akan stand, soweit er wusste, an Rang unter Fíanael und Asrain, die nun nacheinander den Befehl auf Cardolan geführt hatten. Der Neue wirkte viel unscheinbarer als jene beiden, aber ein Instinkt warnte ihn, dass sein neuester Kommandant gefährlicher war, als man es ihm anmerkte. Urkha hasste Pedanten wie diesen Akan. Die unnötige Arbeit, die sie verursachten. Eine vollständige Kartographie des Geländes im Umkreis von hundert Meilen! Lord Asrain hätte darüber gelacht. Lord Fíanael, nun Fíanael war unberechenbar in solchen Dingen, aber seit Asrain in Abhaileon war, zählte er ohnehin weniger. Nur, Asrain war auf Carraig mit dem Fürsten selbst, und deswegen hatte er diesen Akan vor der Nase.

Ingro, Urkhas Stellvertreter, sagte beflissen: “Ich kenne die Ostheide ausgezeichnet. Wir können es leicht vervollständigen in dieser Zeit.” Er beobachtete Urkha aus den Augenwinkeln, aber seine Aufmerksamkeit galt dem unnahbaren Lord. Ingro erkannte Macht, wenn er sie sah. Er hatte nicht vor, auf ewig in Cardolan festzusitzen. Wenn es ihm gelang, diesem neuen Kommandanten in wünschenswerter Weise aufzufallen, eröffnete es vielleicht Möglichkeiten.
Urkha warf seinem Untergebenen einen finsteren Blick zu. Dem hatte jemand wie Akan gerade noch gefehlt. – Er fühlte den Blick des Lords auf sich ruhen und wie stets in solchen Augenblicken lief ihm ein Schauder über den Rücken. Akan sprach nicht viel. Er tobte nie wie die anderen Lords. Nie. Er schien dennoch so tödlich wie eine Kobra. “Wie Ihr befehlt!” sagte Urkha mit einer leichten Verbeugung und einem finsteren Blick auf Ingros weißblonden Hinterkopf.
(Ende des 1. Kapitels)

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