Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 14.3


Lange Zeit dunkel. Ohne Denken und Fühlen. Ohne Wahrnehmung. Dann nach langer Zeit ein Rhythmus, ein Pochen, ein Schmerz, der das Dunkel wie Flammen durchzuckte. Übelkeit und wieder Dunkel. Rhythmus. Bewegung. Halt. Boden unter ihm. Brausen in den Ohren. Unmöglich die Augen zu öffnen. Doch dann wurden aus den scheinbar unartikulierten Lauten, die ihn umgaben, differenzierbare Wörter.
´Endlich´, sagte eine harte, nicht ganz fremde Stimme. ´Wo habt ihr euch herumgetrieben, ihr faulenzenden, nutzlosen Schufte? Wo sind die andern drei?´
´Sie sind verschwunden, Kommandant´, sagte jemand widerwillig. ´Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Und es waren nur zwei.´
Der  Kommandant Genannte fluchte. ´Schlechte Ausrede, Ingro. Behauptest du nicht sonst immer, das Gelände zu kennen wie deine Manteltasche?´
´Wir waren ihnen stets dicht auf den Fersen´, verteidigte sich Ingro. ´Obwohl auch unsere Pferde nach den letzten Tagen erschöpft sind, holten wir sie am Idrimsee ein, als sie eines ihrer Pferde verloren. Sie flohen zu Fuß in den Wildtobel über dem See. Als wir sie zum letzten Mal sahen, waren sie keine zwanzig Meter mehr vor uns. Was mit dem ersten war, weiß ich nicht. Aber der hintere glitt aus. Ich sah ihn fallen.  Doch als ich die Stelle erreichte, war dort niemand.´
“Der Fluß, du Kröte! Sie werden in den Fluß gesprungen sein.”
“Ich habe Männer in den Fluß geschickt. Und an die Einmündung in den See. Und in den Tobel. Dort ist im Umkreis von Kilometern keine lebende Seele.”
“Du bist nur unfähig! Ich werde den Fürsten darauf hinweisen, Unterführer Ingro!”
“Ganz wie du willst. Er wird sicherlich auch wissen wollen, wie du vor zwei Tagen ihre Spur verloren hast, Kommandant.”
“Ich habe etwas, dass der Fürst will”, sagte der andere verächtlich. “Im Gegensatz zu dir, Ratte!”

Langsam kam Robins Erinnerung wieder. Es war nicht angenehm, aus der Bewußtlosigkeit zu erwachen. Der höllische Schmerz in seinem Kopf wurde immer schlimmer und die Übelkeit kam wieder. Vermutlich eine Gehirnerschütterung. Der Arm brannte wie Feuer. Da hatte wohl ein Schwert getroffen. Und auch sonst. Vielleicht war es gut, dass der Kopf so weh tat, dass er das andere gar nicht richtig wahrnehmen konnte. Er hoffte, dass er kein Geräusch machte. Sicher konnte er nicht sein. Dieses Brausen in den Ohren übertönte fast alles. Selbst diese zwei lauten Stimmen waren wie eine Radiosendung voller Rauschen. Aber, was er begriff, war gut. Béarisean und Dorban waren entkommen. Erleichterung durchflutete ihn. Dann glitt er zurück in das wohltätige Dunkel.
Ein plötzliches neues Aufflammen des Schmerzes katapultierte ihn in die Gegenwart zurück. Kommandant Urkha hatte befunden, daß es an der Zeit sei, den Gefangenen einer Befragung zu unterziehen. Die Wirkung des Schlages, der den Ritter im Kampf außer Gefecht gesetzt hatte, mußte nun seiner Berechnung nach allmählich nachlassen. Er hatte ihn selbst ausgeführt. Lange hatte er es vermieden, selbst einzugreifen, hatte zuerst versucht diesen seltsamen Zauber, der auf dem Ort lag, ganz niederzureißen.  Doch als der vierte seiner Leute fiel, war er selbst eingeschritten. Mit einem gezielten Tritt gegen den verletzten Arm half er jetzt dem Erwachen des Gefangenen nach. Robin stöhnte auf, und Urkha höhnte: ´Sieh an, der Herr Ritter geruhen wach zu werden. Der hohe Herr scheinen etwas wehleidig zu sein. Dürfte ich Euer Durchlaucht um den ehrwürdigen Namen bitten.´ Ein weiterer Tritt verlieh der Aufforderung Nachdruck.

Robin biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien und versuchte sich aufzurichten. Die Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt und auch die Füße gebunden, wie er jetzt feststellte, doch es gelang ihm, sich wenigstens in sitzende Stellung zu erheben. Der Anstrengung folgte ein Schwindelanfall. Aber er konnte sich aufrecht halten. Er musterte den Kommandanten möglichst kühl und sagte: ´Ihr wisst nur zu wohl, wer ich bin. Brannte Euch mein Schwert nicht in den Händen? Mein Name selbst kann dem nichts hinzu fügen.´
Urkha lachte verächtlich. “Dein Schwert. Ja, ich weiß, wo dieses Schwert herkommt. Aber du, du bist nur Erde und Asche. Wer immer auch solch eine Waffe an dich verschwendete, wird es bald genug bereuen. – Dein Name!”
“Ich bin nur der Diener meines Herrn”, erklärte Robin. Das Lächeln kam von selbst mit der Erinnerung an Ríochan, der einst diese Worte von sich gesagt hatte.

Urkhas Augen funkelten auf. Sein wütender Tritt warf den Gefesselten wieder ganz zu Boden. Seine gereizte Stimme war sehr laut: “Wage es nicht noch einmal, dir solche Worte anzumaßen! Ich weiß, von wem du sie gehört hast. Doch du bist nicht unsergleichen. Ha, Sklave magst du sein. Wenn auch nur in Ermangelung von Besseren. Du Nichts!”
Es war sehr schwer, auch nur wieder in sitzende Stellung zu kommen, aber Robin war fest entschlossen, hier bis zum letzten Atemzug Ehre einzulegen. “Nicht für meine Ehre”, flüsterte er sich selbst Mut zu, als er sich hoch kämpfte. Die Balance war schwer, aber es gelang ihm zu stehen. “Ich bin ein Ritter des Königs”, sagte er und blickte Urkha gerade an. Er reichte diesem Riesen nicht einmal bis an die Schulter. “Darüber hinaus mag mein Name für Euch ‘Nichts’ sein.”

Urkhas Augen verengten sich. “Gut, dreckiges Nichts! Wer sind die beiden anderen? Und wo ist der vierte von Eurer Gruppe?”
“Ich weiß von keinem vierten”, sagte Robin. “Und über die anderen habe ich Euch nichts mitzuteilen.”
“Du wirst noch reden”, zischte Urkha. “Auf die Knie, Sklave, vor dem Herrn über Cardolan.”
“Nicht freiwillig”, erwiderte Robin sanft. “Wissend in wessen Namen ich hier stehe, solltet Ihr es sein, der niederkniet und wärt Ihr der Schwarze Fürst selbst.”
Urkha wurde immer mehr dunkle Drohung. “Sterben vor Angst würdest du, Wurm, würde ich mich dir wahrhaft zeigen!”
“Gebt mir mein Schwert zurück und dann zeigt Euch, wie Ihr wollt, wenn Ihr es wagt.”
Urkha brüllte auf. “Sehen sollst du mich. Doch dein Schwert ist verloren für dich.” Ein Windstoß fegte Robin zu Boden. Schwärze wirbelte auf, doch dann warf sich eine andere Gestalt dazwischen mit gezogenem Schwert. “Ihr vergesst Euch, Kommandant!” Die verächtliche Betonung auf der Anrede, rief Robin sofort das Gespräch ins Gedächtnis, dass er zuvor mitgehört hatte. Das musste jener Ingro sein.

“Du wagst es, das Schwert gegen mich zu ziehen!” schrie Urkha.
“Ihr seid dabei, Alandas Handhabe zu geben, in Abhaileon einzudringen!” schrie Ingro zurück.
“Sollen sie doch kommen. Ich fürchte sie nicht!” brüllte Urkha.
“Wie Ihr wünscht. Ihr würdet natürlich nicht dem expliziten Befehl des Fürsten zuwider handeln.”
Eine Weile herrschte daraufhin Stille. Selbst Urkha brauchte nicht lange, um sich die Konsequenzen vorzustellen, die es mit sich bringen würde, Barraids Pläne zum Scheitern zu bringen. Nach einer Weile fuhr Ingro fort: “Dieser ... Mensch da,  hat ganz gezielt versucht, Euch zu provozieren, weil er weiß, was die Folgen wären.”
“Denkst du, dass wüsste ich nicht”, fauchte Urkha. “Ich war nur dabei, ihm eine Lektion zu erteilen.”
“Der Fürst wollte ihn unversehrt”, sagte Ingro. “Mir scheint, er ist gerade schon lädiert genug dafür. – Nun, entschuldigt mich jetzt. Ich kam nur, um mich abzumelden. Die Wache, die ich bei Idrim zurückgelassen habe, muss verstärkt werden, wenn wir das Gelände noch einmal gründlich durchkämmen sollen.”
“Dann geh!” schrie ihn Urkha an. “Und komme nicht mit leeren Händen zurück!”

Ingro verbeugte sich knapp und ging zu seinem Pferd, das in der Nähe stand. Eine Gruppe Berittener wartete dort. “Dafür wirst du noch bezahlen”, murmelteUrkha, als sie davon ritten.
Er warf einen hasserfüllten Blick auf Robin, behelligte ihn aber fürs erste nicht weiter. “Echod”, rief er. “Sofort mit Botschaft nach Carraig! Dem Fürsten persönlich. Wir haben einen der gesuchten Ritter. Und Unterführer Ingro hat Dorban und die anderen durch seine Unfähigkeit entkommen lassen.”

Der zweitägige Ritt nach Cardolan war eine Tortur für Robin. Sein Zustand schwankte zwischen permanenter Übelkeit und willkommener Bewußtlosigkeit. Man hatte ihn auf ein Pferd gefesselt – es war nicht der Falbe, den hatte er nicht mehr gesehen – denn allein hätte er sich nicht im Sattel halten können. Man gab ihm gelegentlich Wasser. Auch Nahrung wurde ihm angeboten, aber er sah sich außerstande, irgendetwas hinunterzuwürgen. Er hätte nicht einmal zu sagen vermocht, wie lange sie eigentlich unterwegs waren. Sie bewegten sich nach Nordosten und es wurde wieder stetig kälter. Wenn er wach war, fror er erbärmlich.
So konstatierte er es mit einer gewissen Erleichterung, als aus den trostlosen und kahlen Weiten der Ostheide endlich die schwarzen Mauern einer großen Festung aufragten. Das war wohl Cardolan. Da drinnen würde es wohl wenigstens etwas wärmer sein. Und schließlich, viel schlimmer als dieser Ritt konnte es wohl kaum noch werden. Auch sein Kopf schien endlich wieder etwas klarer zu werden. Er konnte jetzt schon wieder zusammenhängender denken, ohne dass der Kopfschmerz zu schlimm wurde. Was nur wollte Barraid mit ihm? Immerhin schienen seine Anweisungen ihn vor dem Tod zu bewahren. Würden sie ihn zurück nach Carraig bringen lassen?

Es war etwas wärmer im Kerker der Burg, um die positiven Seiten aufzuzählen. Das lag daran, dass dort kein Wind wehte. Und es war nicht so dunkel wie damals auf Carraig. Das einzige Fenster der Zelle, die dunkel und feucht war, befand sich hoch oben in der Wand. Zugig war es dennoch. Seinen Mantel hatten sie ihm gelassen. Das reichte aus, um nicht zu erfrieren. Aber warm sollte es ihm damit nicht mehr werden, wie es schien. Das Essen wärmte auch nicht. Nur Wasser und etwas Brot, manchmal etwas Fettiges. Viel Möglichkeiten, sich zu bewegen hatte er ebenfalls nicht. Sein Kopf vertrug zwar allmählich wieder Erschütterungen, aber die Ketten, die ihn an die Wand fesselten, verhinderten das meiste. Auch mit dem Hinlegen sah es ungünstig aus, er kam dem Boden nicht weiter entgegen als bis auf die Knie. Wenigstens das eröffnete eine gewisse Perspektive. Er hatte viel Zeit, an Ríochan und Alandas zu denken - allein der Gedanke schien es etwas wärmer werden zu lassen – und Dorban und Béarisean für ihren Weg zurück in den Westen allen Segen zu wünschen.
Zweimal gab es eine eingeschränkt angenehme Abwechslung in den nächsten Wochen. Urkha ließ ihn in den Thronsaal von Cardolan holen. Das Angenehme war, dass es dort deutlich wärmer war, dass der Weg dahin eine Möglichkeit bot zu laufen und dass Urkha jedesmal ziemlich außer sich war, wenn er wieder weggebracht wurde. Die Einschränkung bestand in Urkha selbst und seinen Methoden. Der Kommandant von Cardolan baute sich beide Male vor dem Thronsessel auf. Er saß nicht darauf, stellte Robin fest. Er erinnerte sich, dass Dorban gesagt hatte, ein Lord Akan herrsche auf Cardolan – es schien, dass Urkha ihn fürchtete. Interessanterweise reizte es den Kommandanten am meisten, wenn er auf seine meist verbalen Attacken mit Sanftmut reagierte, äußerst unkooperativer Sanftmut natürlich. Es war ein richtiger Wettkampf zwischen ihnen. Besonders da ihnen beiden, wenn auch in verschiedenem Sinne, die Hände gebunden waren. Ingro sah er nicht wieder. Aber aus dem, was er hörte, schloß er, dass die Kameraden wirklich entkommen waren.

                                                                  *******
Der Winter hielt die Festung Cardolan schon in eisernem Griff, als nach zwei Monaten endlich ein Bote zurückkehrte. Die wilden Eisstürme jagten fast täglich um die festen Mauern. Die Pfade waren schon lange unter Schneewehen verschwunden. Aber es war nicht Echod, sondern Asrik, der sich durch die Verwehungen plagte. Bei Idrim war das Pferd unter ihm zusammengebrochen und er hatte sich von da an zu Fuß durch den Schnee kämpfen müssen. Das hatte ihn unter den Witterungsbedingungen fast eine Woche gekostet.
Ingro empfing ihn schon im Hof. “Welch Überraschung. Hast du Botschaft von Carraig?”
Asrik nickte. “An Urkha persönlich. Der Fürst war bei Gleann Fhírinne, als wir auf ihn trafen. Urkha kann froh sein, dass er nicht in Reichweite war, als das Ergebnis der ganzen Jagd bekannt wurde.”
“Er rechnet fest mit einer Belobigung”, Ingro lächelte boshaft. “Du warst also immer noch bei Asrain?”
“Ich stehe ganz vorn auf seiner schwarzen Liste, seit mein Posten am Uibhnefenn durchbrochen wurde. Ein Posten, den es nie gegeben hätte, wäre es nach ihm gegangen. Er hatte Pläne für mich, denke ich. - Übrigens, Urkha versuchte, den Fehlschlag auf dich zu schieben.”
“Und?” Ingro wirkte leicht beunruhigt.
“Du kennst doch den Fürsten. Nicht einmal ich habe die Hälfte von dem geglaubt, was Urkha ausrichten ließ. Der Fürst tobte, dass der Gefangene nicht sofort zu ihm geschickt wurde. Er hat die Wahrheit aus Echod herausgeholt; der dürfte fürs erste nicht mehr reisefähig sein. Es war ein Anblick für sich, zu sehen, wie Lùg und Asrain vor ihm krochen, als er ihren Bericht auseinandernahm. Soweit man es verfolgen kann, während man selbst versucht, möglichst unsichtbar zu bleiben.”

Ingro nickte. Barraids Zorn traf stets die am heftigsten, die einen gewissen Rang hatten. Mit zitternden Untergebenen, die am Boden lagen, gab er sich selten ab. “Jedenfalls beorderte er dann mich zu sich. Meine Erleichterung war groß, dass alles, was er von mir wollte, war, seinen Befehl nach Carraig zu überbringen. Urkha ist im Thronsaal?”
“Wie meist”, Ingro verzog das Gesicht zu einem schrägen Grinsen. “Er starrt den Thron an. Aber seit Akan hier das Kommando hat, wagt er es nicht mehr, ihn zu benutzen. – Kommt er bald wieder?” Akan war ein Enigma für Ingro. Jeder der Lords, der Cardolan im Laufe der Jahrtausende befehligte, hatte von diesem Thron geherrscht. Und in ihrer Abwesenheit hatte der jeweilige Kommandierende das Recht für sich in Anspruch genommen. Um es eilends aufzugeben, wenn ein Höhergestellter nach Cardolan kam. Nicht Akan. Er stand vor dem Herrschersitz von Cardolan, wenn er Befehle erteilte. Warf nie auch nur einen Blick darauf.
“Lord Akan?” Asrik zuckte die Achseln. “Ich hörte nichts von ihm. Er kommt sicher nicht vor dem Frühjahr zurück.”
“Er ist anders”, sagte Ingro. “Anders als die anderen hohen Herren.”
“Das ist er.” Asrik sagte das sehr abschließend, aber Ingro ließ nicht locker: “Wie kommt man in seinen Mitarbeiterstab?”
“Zum einen, indem du nicht über ihn redest”, antwortete Asrik abweisend. “Fragen wie diese können dich den Kopf kosten.”
Ingro dachte kurz nach. “Durch wen?” erkundigte er sich dann. Aber Asrik gab ihm keine Antwort mehr. Sie hatten auch schon fast den Thronsaal erreicht.

Ingro trat zuerst ein. “Ein Bote von Seiner Hoheit, Kommandant”, sagte er mit einer Verbeugung.
“Bleib!” befahl Urkha. Dann wandte er sich Asrik zu. “Was ist mit Echod? Und warum hast du dir soviel Zeit gelassen?”
“Echod wurde nach Carraig befohlen. Der Fürst beauftragte mich bei Gleann Fhírinne. Die Winterstürme setzten vor fast drei Wochen ein. Habt Ihr schon versucht, in den letzten Wochen den Osten zu durchqueren? Ich habe mein Pferd bei Idrim eingebüßt.” Die Stimme des Boten enthielt eine Spur von Bitterkeit.
Urkha runzelte die Stirn. Asrik würde noch seine Strafe erhalten für seine Frechheit. Aber jetzt war die Botschaft wichtiger. Würde Ingro abberufen werden? Eine Beförderung war ihm selbst sicher. Asrik zog ein versiegeltes Pergament unter seinem nassen und noch immer schneeverkrusteten Wintermantel hervor. Urkha griff danach, aber Asrik schüttelte den Kopf. “Seine Hoheit befahl, es Euch zuerst vor mindestens einem Zeugen vorzulesen. Ihr seid aufgefordert, seinen höchsteigenen Worten Ehrerbietung zu erweisen.” Er selbst kniete nieder. Ingro folgte sofort seinem Beispiel. Urkha zögerte, aber ihm blieb keine Wahl.

Asrik brach das Siegel des Fürsten auf und las: “Ich, Barraid, Herr über Winian, Carraig und Cardolan, über die Fürstentümer Ardas, die Gefilde von ...”, es folgte noch eine längere Aufzählung, “an Urkha, Kommandant der Festung Cardolan unter Lord Akan. Mit großem Mißfallen habe ich deinen Bericht entgegengenommen. Ich wünsche, den Gefangenen so bald wie möglich auf Carraig zu sehen. Nach deinem bisherigen Versagen sehe ich jedoch davon ab, dass du ihn persönlich dorthin eskortierst. Statt dessen werde ich im nächsten Frühjahr nach Cardolan kommen, um ihn selbst in Empfang zu nehmen. Ich erwarte, dass du die Gelegenheit nutzt, deine Fehler wieder gut zu machen und ich den Gefangenen kooperationsbereit vorfinde. Dir ist freie Hand gegeben, so lange du ihm keinen irreparablen Schaden zufügst.”
Kein Wort von Ingro. Was hatte Echod nur ausgerichtet, dieser Schwachkopf? Urkha schäumte innerlich vor Wut. Asrik stand auf und hielt ihm das Pergament mit Barraids Siegel hin. Urkha hasste das. Aber vor diesen beiden Zeugen, Akans Mann und dem verhassten Ingro konnte er sich keine Unregelmäßigkeit erlauben. Er küsste den Boden, bevor er das Pergament annahm und sich erhob. Auch Ingro stand erst jetzt auf. 
Immerhin, Urkha hatte freie Hand. Kein irreparabler Schaden. Keine große Einschränkung. Ein böses Lächeln trat auf sein Gesicht. Dieser unverschämte Ritter würde ihn jetzt erst richtig kennen lernen. Barraid sollte ein wahres Wunder an Kooperationsbereitschaft erleben, wenn er im Frühjahr kam.
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Der Sturm heulte. Schnee stob wild. Doch dem Beobachter der Festung konnten sie nichts anhaben. Auch nicht dem, der sich jetzt näherte. Rodil brauchte sich nicht umzudrehen. Er wußte, wer ihn in dieser Einöde aufgespürt hatte. Es war die Hand Ríochans, die sich leicht auf seine Schulter legte. ´Du wußtest, daß alles so kommen würde´, sagte Rodil. ´Nicht wahr?´ Der Fürst schwieg. ´Du wußtest, daß ich ihnen helfen würde, die Spuren zu verwischen. Und hätte nicht Dorban im Schneesturm die Führung übernommen, wären sie nun nicht alle in Schwierigkeiten.´
´Ich wußte, daß du dich nicht soweit einmischen würdest, daß der Feind Verdacht schöpft´, sagte Ríochan. Die Nacht schien heller, seit er gekommen war. ´Es war wichtig, daß sie bis hierher kamen, bevor sie ihm nicht mehr entgehen konnten.”
´Wohin sind Béarisean und Dorban geraten? Nicht einmal ich begreife, was da geschehen ist. Ist das Weltentor am Idrim nicht schon lange verschlossen? Selbst ich erinnere mich kaum daran.´
´Das Geschick dieser beiden Ritter ist für die nächste Zeit außerhalb unserer Kompetenz´, sagte der Fürst. ´Wir sollten uns um den kümmern, der hier geblieben ist. Wird es dir gelingen, unentdeckt in der Nähe zu bleiben?´
´Es ist schwierig. Aber ich denke ja, solange keiner ihrer großen Führer kommt.´ Er lächelte. “Du weißt, wie er die Treue hält, sonst könntest du jetzt nicht hier sein.”
´Tu, was du kannst´, sagte Ríochan. ´Er darf nicht hier sterben.´
´Das will auch unser Gegner nicht.´
´Nicht ihr Anführer. Aber er ist nicht hier.´
Rodil nickte. ´Urkha ist alles an Dummheit zuzutrauen. Und vielleicht wäre das so besser für diesen Ritter. Bis jetzt hält er sich, wie es nur ein wahrer Ritter des Königs kann. Aber seit der Bote aus Carraig kam, ist es absehbar, wann ihm die Kraft fehlen wird.´
Der Fürst schüttelte den Kopf. ´Es darf nicht geschehen. Du wirst ein Auge auf alles haben müssen.´
´Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten ist groß´, sagte Rodil. ´Warum schickst du mich nicht gleich nach Carraig?´

Ríochan lachte. Es war ein ungewohnter Laut in dieser Gegend, so nahe bei Cardolan. Selbst der Wintersturm hielt einen Moment den Atem an. Rodils Blick hing voll Bewunderung an ihm. ´Wer weiß´, sagte der Fürst. ´Vielleicht mußt du auch dieses Problem noch meistern.´ Dann wurde er wieder ernst. ´Wenn ich könnte, ginge ich selbst´, sagte er. ´Aber ich verteile nicht die Aufgaben, ich führe nur die meinen aus. Ich werde froh sein, das hier in deinen Händen zu wissen.´
´Ich werde mein Bestes tun´, sagte Rodil. ´Ich wünschte nur, ich hätte mein Schwert hier und könnte es auch einsetzen.´
“Der Tag wird kommen.” Ríochan berührte zum Abschied leicht seine Schulter und war gegangen, so leise, wie er gekommen war. Die Nacht war wieder dunkler.

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