Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 2.1


II Wege im Nebel

Croinathír - Festung
Airen lächelte begütigend. „Du solltest mit dem Jungen wirklich nicht so streng sein“, sagte sie dann und legte eine Hand auf Estohars Arm.

Der Ratsvorsitzende erwiderte ihr Lächeln unwillkürlich. Selbst jetzt, da ihre Haare grau waren, war die Lady in seinen Augen immer noch eine wunderschöne Frau. Er selbst war inzwischen wohl auch zu alt, um noch einmal zu heiraten. Dennoch, falls sie eines Tages einwilligen würde, in dieser Angelegenheit würde er sich nicht mit Vernünfteleien aufhalten. Diese braungrünen leuchtenden Augen und diese Stimme, sie ließen ihn nie los. Er musste sich konzentrieren, um die Antwort zu geben, die er geben wollte. „Genau das ist das Problem“, sagte er so hart er konnte. „Er ist ein Junge, kein Offizier der Wache. Ich hätte nie darauf eingehen sollen, ihn zum Hauptmann zu machen. Und vielleicht ist das der Anlass, es zu revidieren.“

Er hätte wissen sollen, dass er mit Airen nicht streiten konnte. Er hatte es noch nie gekonnt. Es war, als hätte sie seinen Tonfall und die Worte gar nicht richtig zur Kenntnis genommen, so lächelte sie ihn weiter an. Er wusste, dass sie eine irrationale Schwäche für den jungen Offizier hatte und niemals zugestehen würde, ihm den Rang abzuerkennen – und sie war es, die als Herrin über die Festung von Croinathír die Befehlsgewalt über die Palastwache hatte. Er war lediglich als militärischer Kommandant eingesetzt. „In allen Berichten, die ich bekomme, steht nur Positives über Hauptmann Ciaran“, sagte sie freundlich. „Die anderen Offiziere schätzen ihn, die Mannschaften folgen ihm gern, seinen Dienst tut er untadelig.“
„Und er prügelt sich in seiner Freizeit in Tavernen“, warf Estohar ein. „Ein Offizier der Wache ...“
„Du sagtest letzthin, er stehe unverbrüchlich zu Alandas und dem König“, bemerkte Airen. „Eine seltene Eigenschaft heutzutage.“
„Er ist ...“ Estohar wandte sich ab. Er wusste, dass er verloren hatte. „Er ist zu hitzig in diesem wie in allem“, sagte er geschlagen.
„Ich hörte, er kam gleich nach der Angelegenheit zu dir und übernahm die Verantwortung“, bemerkte Airen. „Du sagst, er versuchte es zu vermeiden, die Namen der anderen zu nennen?“
„Sie werden alle einen Tadel erhalten“, erklärte Estohar zornig.
Airen nickte. „Aber sei nicht zu streng!“ mahnte sie.

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Robins Suche an der kleinen Brücke blieb erfolglos wie die des Abhaileoners. Beide bemühten sich, ihre Enttäuschung nicht allzu sehr zu zeigen.
„Was jetzt?“ fragte Robin, als sie zurück nach Hause gingen. „Außer Abwarten. – Was ist eigentlich mit deinem Pferd?“
„Du kannst doch reiten?“ erkundigte Béarisean sich mit einer gewissen Besorgnis. „Ich meine, hier in Arda, nun ja …“
„Ich kann reiten“, beruhigte ihn Robin. „Ich habe sogar einmal die Grundbegriffe für den Kampf mit einem Zweihandschwert gelernt. Japanisch. Kendo. Aber das wird nicht für viel taugen und ist auch schon länger her.“

Der andere blickte ihn kritisch an. „Breannains Prophezeiung sagt, dass du den Schwarzen Fürsten besiegen musst.
„Dann kann ich nur hoffen, dass es nicht um Schwertkampf geht. Ist davon die Rede, dass es ein Duell sein muss?“
„Nun ja, es war von deiner Waffe die Rede, mit der du das Dunkel besiegst. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass Colins Bogen wieder auftaucht.“
„Ich fürchte, ich bin auch kein geübter Bogenschütze“, bemerkte Robin. „Und außerdem, nach dem, was du bisher über den Schwarzen Fürsten angedeutet hast, besteht ohnehin keine Chance, dass ich so einen Kampf gewinne.“

„Wir müssen sowieso zuerst nach Alandas“, sagte Béarisean. „Wir brauchen unsere Schwerter von dort.“
Robin lachte. „Und das, wenn wir nicht einmal den Weg nach Abhaileon finden. Du sagtest, seit Jahrhunderten war niemand in Alandas.“
„Es hat ja auch seit Jahrhunderten keine Ritter des Königs gegeben“, entgegnete Béarisean. „Es wird sich jetzt alles finden.“
Robin fragte sich, ob der andere das wirklich so fest glaubte oder sich selbst zu überreden versuchte. Doch das war nicht so wichtig. Er wollte sich gerne in Optimismus üben, wenn das hieß, seinen Träumen näher zu kommen.
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Kurt ließ nichts von sich hören. Weder an diesem Tag noch in den folgenden Wochen.
Robin und Béarisean lernten sich allmählich etwas besser kennen, auch wenn beide je ein Thema hatten, das sie nach Möglichkeit vermieden. Bei Béarisean war es dessen Familie. Am zweiten Tag ihrer Wartezeit hatte er so knapp wie möglich über die Folgen der Tragödien, die sich da zugetragen hatte, berichtet. Sein Vater, Lord von Sliabh Eoghai, war Mitglied des Rates in der Hauptstadt Croinathír gewesen. Das war ein Amt, das durchaus nicht allen Lords des Kernlandes zufiel. Aber auf Sliabh Eoghai wohnten die letzten entfernten Nachfahren des Nationalhelden Colins des Großen, und somit die Anwärter auf den irgendwann wieder herzustellenden Regententitel, der oft vererbt worden war.
Mehr noch, in der nun schon mehrfach in Bruchstücken zitierten Prophezeiung Breannains hieß es, dass einer der Ritter des Königs aus der Eoghai-Linie kommen sollte.

„Das wurde meinen Eltern wahrscheinlich zum Verhängnis“, berichtete Béarisean am zweiten Abend. „Sie wurden auf dem Weg in die Hauptstadt überfallen. Es gab keine Überlebenden.“
„Wer überfiel sie?“ fragte Robin.
„Das wurde nie völlig ermittelt. Es war die Rede von einer der Banditengruppen, die damals aus dem Grenzland zu Dalinie auftauchten. Aber es war das einzige Vorkommnis dieser Art. Der Rest sonst waren einfache Raubüberfälle. Gelegentlich ein Toter. Aber keine ganze Reisegesellschaft die ausgelöscht wurde.“ Er blickte einige Zeit zu Boden, bevor er fortfuhr. „Meine Zwillingsschwester Rilan und ich waren auf der Burg geblieben. Aber Freunde meines Vaters, die Gruppe um Estohar, die dann später auch für seine Wahl als Ratsvorsitzender sorgte, holten uns von dort weg. Wahrscheinlich eine gute Entscheidung. Denn nur einige Wochen später brannte die Burg nieder.
Wir lebten unter falscher Identität. Unsere Beschützer fürchteten weitere Attentate. Wohl zu Recht. Drei Jahre später – wir waren damals elf Jahre alt – wurden meine Schwester und ein Junge, mit dem sie spielte, ermordet. Es waren zwei Berittene. Ich beobachtete sie aus einem Versteck. Ich hörte, wie der eine sagte, dass aus Eoghans Blut kein Gegner mehr erwachsen würde.“

Béarisean stand auf und ging an das Fenster. Er legte die Hände fest auf das Sims, als wolle er verhindern, dass sie sich zu Fäusten ballten. Seine Stimme war ganz ausdruckslos und ruhig. „Es wurde verbreitet, ich sei tot. Ich lebte unter falschem Namen. Als ich vor ein paar Jahren alt genug war, wurde ich nach Arda geschickt, um dich zu finden. Estohar war gerade zum Vorsitzenden gewählt worden. Ich hoffe, ihm ist es mittlerweile gelungen, wieder mehr Ordnung herzustellen. Leiser fügte er hinzu: „Manchmal fürchte ich, auch Estohar nicht wiederzusehen. Er war wie ein erwachsener Bruder zu mir. Das letzte, was ich an Familie hatte. Mein Pferd war sein Abschiedsgeschenk an mich.“ Nach einer ganzen Weile des Schweigens fügte er noch hinzu: „Ich habe es jetzt zurücklassen müssen. Das Pferd. Es wäre eine Spur nach Abhaileon, und sie dürfen uns nicht finden.“

Robin wäre gerne zu ihm getreten, um einen Trost zu vermitteln. Aber er war sich zu unsicher, wie der andere es auffassen würde. Von Béarisean strahlte nicht nur Schmerz aus, sondern auch eine entschlossene Unnahbarkeit.
„Merkwürdig“, sagte er nach längerer Zeit, „zu wissen, dass ich einen Feind habe, der mir eventuell nach dem Leben trachtet wegen einer Prophezeiung. Du meinst, sie würden versuchen, uns zu töten? Das wäre schon ungewöhnlich hier.“
„Sie würden es wie einen Unfall aussehen lassen“, sagte Béarisean. „Solange wir leben, können wir ihre Pläne verhindern. Wenn wir sterben, ist die Prophezeiung nichtig, und nichts kann sie aufhalten. Höchstens …“ Dieses Mal war sein Schweigen nachdenklich.
„Höchstens was?“

„Damals zur Zeit Colins des Großen gab es drei Ritter. Wir wissen nichts über einen dritten. Aber vielleicht gibt es ihn auch jetzt. Oder er wurde bereits eliminiert, ohne dass wir je von ihm erfuhren.
Es waren Colin, Elianna und Mharig, die damals die Entscheidung brachten. Alle drei hatten ein Schwert aus Alandas. Das Colins war mit Smaragd verziert, Eliannas mit Saphir.“
„Und Mharigs mit Rubin“, ergänzte Robin. „War Mharig aus Arda?“
„Er war ein Fürst von Ruandor. Eine Provinz im Süden, nördlich von Imreach, westlich von Eannas.“
„Eine Karte wäre wirklich nützlich“, warf Robin mit einem Seufzer ein.
Béarisean beachtete die Bemerkung nicht weiter. Er grübelte selbst über etwas: „Ich weiß es nicht genau. Aber es gibt Geschichten darüber, dass Mharig und Elianna in Arda waren. Möglicherweise auch Colin. Es sind leider nur noch Sagen, die erhalten sind.- Nein, keiner von ihnen war Ardaner. Elianna war aus Dalinie und Colin aus Tireolas, eine der Kernprovinzen.“

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in Croinathír
Turgan von Amradin war reisefertig.  Seine Kutsche und die Begleitreiter warteten bereits im Hof.  Aber Donnacha, wie Turgan ein Mitglied des Rates von Croinathír, war dabei, die Nerven zu verlieren. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, lief er nervös in Turgans Arbeitszimmer auf und ab. „Es muss doch noch eine andere Lösung geben.“ Sein Ton war gehetzt.
Der Lord von Amradin ließ keine Regung in seinen dunklen Augen erkennen. „Dann sollte dir diese Lösung möglichst schnell einfallen. Die Prüfungskommission tagt in etwa einer Woche.“
„Ich bräuchte nur das Geld.“ Donnachas Stimme blieb flach.
„Das dürfte bei dieser Summe nicht leicht sein“, bemerkte Turgan gleichgültig. „Außerdem, so ungeschickt deine Transaktionen auch waren, sie haben uns einen Weg eröffnet, Estohar gründlich diskreditieren zu können.“

„Ja, ja, es bot eine Möglichkeit. Aber dann das! Wenn sie nur nicht letzte Woche die Bücher durchgegangen wäre!“
„Du hättest deine Kusine besser kennen sollen“, Turgan gab sich immer noch gleichgültig. Er warf einen Blick in den Spiegel, überprüfte noch einmal den Sitz der sorgsam gewellten braunen Haare. „Ich muss jetzt aufbrechen. Bei Nacht sind die Wege noch unsicherer.“ Nicht dass ihn das sehr beunruhigt hätte. Er hatte schließlich gewisse Abkommen getroffen. Restacs Banditen waren keine Gefahr für ihn. Andere opportunistische Wegelagerer würden es kaum wagen, sich an seiner gut bewaffneten Begleitmannschaft zu vergreifen. Er warf den leichten Reisemantel über. „Aber falls du diese Angelegenheit nicht zu meiner Zufriedenheit geregelt hast, bis ich zurück bin, fordere ich auch meinen Kredit an dich zurück.“
„Das kannst du nicht machen!“ Donnacha blieb endlich stehen.
„Ich kann nur nützliche Geschäftspartner gebrauchen“, erklärte Turgan kalt. „Ich habe jetzt lange genug gewartet. Du hättest ihn schon längst aus dem Weg räumen sollen. Was übrigens auch für deine Kusine gilt. Ihr ist es zu verdanken, dass Estohar immer noch die Kontrolle über die Garde hat. Du warst ja unfähig, das in die Hand zu nehmen. Nutze die Gelegenheiten, die ich dir jetzt eröffnet habe.“ Er verließ das Zimmer.

Donnacha ließ sich in einen der Sessel fallen und stützte den Kopf in beide Hände. Airen war dickköpfig und stur in manchen Entscheidungen, aber dennoch, sie war auch nicht wie Estohar. Er hatte ihr sogar einiges zu verdanken. Und obwohl sie von einigen seiner nicht ganz glücklichen Unternehmungen gewusst hatte, hatte sie selten ein Wort darüber verloren. Selbst jetzt, als sie hinter diese Sache mit den unterschlagenen Geldern gekommen war, hatte sie ihm eine Chance eingeräumt, es zu bereinigen.
Einer von Turgans Dienern kam herein. Er machte sich in dem Zimmer zu schaffen. Donnacha verstand die stille Botschaft, es war Zeit zu gehen. Er stand auf. Er musste gehen, und  sobald er dieses Zimmer verließ, würde alles unwiderruflich sein. Turgan würde schon bald Ratsvorsitzender werden und Donnacha würde die Position seiner Kusine übernehmen und darüber hinaus als stellvertretender Ratsvorsitzender zumindest bis Turgans Rückkehr der Alleinherrscher in Croinathír sein. Vielleicht würde es ihm sogar gelingen, Turgans Position zu untergraben, bis dieser zurück war. Turgan war vorsichtig und einflussreich, aber Alan konnte sich auch da als nützlich erweisen. Doch jetzt eins nach dem anderen.

Der Weg zur Burg war nicht allzu weit. Dennoch dauerte es zu Fuß seine Zeit. Es war nicht üblich, für Wege innerhalb der Stadt Pferde zu nehmen. Auch Eskorten waren nicht üblich oder nötig. Die Stadtgarde hatte die Straßen selbst in der Nacht gut unter Kontrolle. Jetzt war es erst früher Nachmittag. Auf halbem Weg entschied er sich, doch noch zuerst mit Alan zu sprechen. Dessen Lieblingsschenke war nicht weit entfernt. Er traf ihn allein an. Umso besser. Es war klüger, wenn er nicht zu viel mit Alans „Geschäften“ in Berührung kam.
„Neues?“ erkundigte sich Alan. Vor ihm stand ein fast unberührter Becher Wein. „Hat er noch etwas gesagt vor dem Aufbruch?“

Alan war meistens äußerst gut informiert. Donnacha ließ sich also nicht beeindrucken. „Ich will mit dir noch einmal unseren Antrag im Rat diskutieren“, erklärte er. „Nicht hier.“ Alan von Trebo war ebenfalls Ratsmitglied. Niemand konnte etwas Verdächtiges an diesen Worten finden.
„Ich bin perfekt vorbereitet“, meinte Alan gelangweilt. „Aber wie du meinst.“
„Ich wollte mit dir noch ein ganz besonder delikate Angelegenheit durchgehen“, begann Donnacha, als sie außer Hörweite waren.
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