Donnerstag, 30. Dezember 2010

Schwarzes Pferd I - Kapitel 1.3


Für das, was jetzt kommt, dann doch ein weiterer Kommentar. Sowohl Béarisean als auch Robin haben 
je eine bedeutende Schwachstelle, durch die später alles gefährdet werden wird. Beide sind sich vollkommen klar, was es ist´, und sie denken, sie haben es im Griff. Leider ist es umgekehrt. Das stellt sich, wie kann es anders sein, gerade dann heraus, wenn sich auch noch andere Umstände gegen sie verschworen zu haben scheinen. 
 Das folgende Gespräch war eine der schwierigsten Stellen am ganzen Text und brauchte heftige Überarbeitung. Jetzt erscheint es mir erstmals flüssig und nicht gestellt. Die Sprachlosigkeit zu überwinden in Glaubensangelegenheiten, ohne zu offensichtlich zu werden oder zu moralisieren, ist eine echte Herausforderung.
 

Es waren nur wenig mehr als zehn Minuten, um seine Unterkunft zu erreichen. Doch zehn Minuten mit einem schweigenden Fremden trugen nicht unbedingt zu Robins Ausgeglichenheit bei. Er fragte sich besorgt, auf was er sich hier tatsächlich einließ. Was wenn es umWaffengeschäfte ging? Ein Bekannter hatte einmal von seltsamen Dingen erzählt, die ihm widerfahren waren. Wusste er dann jetzt schon zuviel? Andererseits wäre es schon ein sehr merkwürdiges Zusammentreffen, wenn er zufällig die richtigen Antworten in einem ihm unbekannten Code gegeben hätte. Er schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass alles gut ausgehen würde.

Der Fremde, Kurt, blickte sich scheinbar flüchtig im Wohnzimmer um., bevor er sich einen Sessel anbieten ließ. Ein Getränk lehnte er höflich ab.Auf einer kleinen Ikone blieb sein Blick etwas länger haften als auf anderen Dingen.
„Herr – Kurt?“ erkundigte sich Robin.
„Lassen wir es dabei“, meinte der andere. „Mein Name ist hier unwesentlich. Es geht darum, wer Sie sind.“
„Mein Name ist Ihnen bekannt“, entgegnete Robin. „Doch Sie wollten möglicherweise etwas von mir. Ich kann Ihnen aber nur antworten, wenn Sie auch Fragen stellen. Oder darf ich die Fragen stellen?“
„Eine Pattsituation“, bemerkte der Ältere. „Jede Mitteilung meinerseits könnte eine Information sein, die ich nicht preisgeben darf, wenn Sie nicht der richtige Adressat sind. Und Sie, haben Sie etwas zu befürchten?“
„Nicht dass ich wüsste“, antwortete Robin. „Gut. Stellen Sie die Fragen!“

Der andere beugte sich vor und fasste ihn fest in den Blick. „Meine Frage ist kurz. Wen oder was lieben Sie? Mehr als alles.“
Robin stand auf. „Eine etwas ungewöhnliche Frage für vollkommen Fremde!“
Kurt zuckte mit den Schultern. „Ich stelle sie keinem Fremden. Ich stelle sie Ritter Anno.“
„Ritter Anno“, sagte Robin flach. „Ritter Anno hat darauf eine simple Antwort: Es gibt keinen, den er mehr liebt als seinen Herrn und König.“
„Simpel. In der Tat. Vielleicht zu simpel. – So ein Ritter, woraus definiert er sich? Seine Abstammung? Sein Besitz? Seine Bündnisverpflichtung? Sein Können? Das, für das er verantwortlich ist? Notfalls auch gegen einen König?“
Robin setzte sich wieder und betrachtete stirnrunzelnd seinen Gast. „Der Ritter, von dem ich spreche, ist, was er ist, durch das Wort, das er gegeben hat und das Wort, das ihn zu dem gemacht hat, was er ist.“
Kurt bewegte den Kopf abwägend. „Treue ist essentiell für einen Ritter, sonst wäre er nur ein Söldner.  Aber Bündnisse können aufgelöst und neu geschlossen werden. So wird die Treue nicht gebrochen.“

„Es mag Bündnisse geben, bei denen dies möglich ist“, räumte Robin vorsichtig ein.
Der andere studierte ihn wieder eingehend. „Ich habe Sie vorhin sehr genau beobachtet. Sie haben wirklich auf so eine Begegnung gewartet. Sie würden es wahrscheinlich nicht als reinen Unsinn abtun, wenn ich sagte, es gebe da eine andere Welt, Abhaileon, und es gebe beschreitbare Wege dorthin.“
„Ich würde es nicht völllig ausschließen“, gab Robin zu.
„Nehmen wir an, es wäre, wie ich sagte, und dass dort eine wichtige Aufgabe wartet und dass es schon immer Ihre Berufung war, dorthin zu gehen.“
„Nehmen wir es einmal an“, sagte Robin.
„Nehmen wir weiter an“, fuhr der andere fort, „die Aufgabe dort verlangte, eine Verpflichtung einzugehen, die mit Verpflichtungen nicht zu vereinbaren wäre, die Sie hier eingegangen sind.“
„Und das wäre?“
Der Mann, der sich Kurt nannte, lächelte unverbindlich. „Es gibt nicht nur einen König“, sagte er dann. „Aber niemand kann zweien davon dienen. Sie haben da, denke ich, eine solche Verpflichtung, die aufgekündigt werden müsste.“
Robin benötigte nicht viel Zeit, um alle Möglichkeiten durchzudenken. „Immer vorausgesetzt, wir sprächen von der gleichen Sache“, begann er.
„Vorausgesetzt dem wäre so“, stimmte der andere zu.
„Dann wäre da in der Tat eine Verpflichtung, die ich nicht auflösen würde.“

„Es gibt in Abhaileon eine Prophezeiung“, sagte Kurt. „Sie stammt von Brennain. Aber das meiste ist nur in Sagen überliefert. Drei Dinge warten auf diesen Ritter Anno: große Macht, ein rubinbesetztes Schwert und ein Pferd schwarz wie die Nacht.“

„Ein schwarzes Pferd“, wiederholte Robin und schloss die Augen. Der Fremde konnte das nicht wissen. Darauf hatte er sein ganzes Leben lang gewartet. Davon hatte er in vielen Nächten geträumt und an langen Tagen hatte er darauf gehofft. Selbst das Rubinschwert war ihm nicht ganz unbekannt. Aber es hatte ihm nie viel bedeutet. Noch weniger bedeuteten ihm Versprechen über Macht. Aber das Pferd. Die Freiheit. Die Hoffnung, die sich damit verband. Es war nicht leicht, das alles aufzugeben. Er konnte schon jetzt die Leere füllen, die das hinterlassen würde. – Er schüttelte den Kopf und versuchte das Aufflammen des Gefühles von Verlust zu ignorieren. „Ich werde mein Wort nicht zurücknehmen“, erklärte er.

„Ehrenhaft gesprochen“, sagte der Fremde. „Doch dürfen Stolz und Ehre wichtiger sein, als das, was bestimmt ist? Darf die Ehre gepflegt werden, wenn andere damit mit großer Not bezahlen müssen? Ohne dich, Ritter Anno, wird Abhaileon an den Feind fallen.“
Robin sah ihn halb betäubt an. „Es geht hier nicht um Stolz“, sagte er schließlich. „Sie verstehen einfach nicht.“
„Ich verstehe ganz ausgezeichnet“, entgegnete Kurt. „Von deiner Entscheidung hängt das Schicksal einer Welt ab und aller, die dort leben.“

Robin kämpfte, um noch klare Gedanken fassen zu können. Es war nicht einmal die ihm unbekannte Welt, die ihm so plötzlich aufgelastet worden war. Von ihr hatte er bis vor kurzem nicht einmal den Namen gehört gehabt. Und was das nun über ihn aussagte, dass ihm das Schicksal dieser Welt so wenig bedeutete, darüber dachte er jetzt lieber auch nicht nach. Später mochte die Verantwortung schwerer auf ihm lasten, aber was ihn jetzt fast zerbrach, war das Scheitern der alten Träume. „Sie müssen gehen!“ sagte er entschlossen. „Wie Sie sagten, es wird meine Verantwortung sein.“

Der Fremde stand auf. „Ich kann später wieder kommen“, bot er an.
„Kommen Sie nicht wieder!“ antwortete Robin. „Ich werde Sie nicht anhören. Es ist nicht möglich.“
Sein Besucher ging ohne weitere Einwände zur Tür. Dort wandte er sich nochmals um. „Béarisean hatte recht“, sagte er und verbeugte sich leicht. „Ritter Anno.“

Robin nahm kaum noch wahr, was der Fremde sagte oder tat. Er wartete nur mit aller Beherrschung ab, dass sich die Tür hinter diesem schloss, bevor er sich, wo er stand, zu Boden sinken ließ und das Gesicht in den Händen vergrub.

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Béarisean empfing den Zurückkehrenden voller Ungeduld. „Er ist es!“ sagte er, ohne einen Bericht abzuwarten.
„Daran können nicht viele Zweifel bestehen“, gab sein Gastgeber zu. „Und möglicherweise ist er sogar der Aufgabe gewachsen, die ihm bevorsteht.“
„Darüber weißt du, wie es scheint, mehr als ich“, bemerkte Béarisean. „Darf ich es nun auch erfahren?“
„Du weißt, was du wissen musst“, antwortete Kurt.
„Und was weiß er?“ drängte Béarisean. „Welchen Weg nach Abhaileon nehmen wir? In den letzten Stunden habe ich begriffen, wie leid ich es bin, auch nur eine weitere Stunde auf Arda zu bleiben. Ich will endlich wieder  nach Hause.“ Seine grauen Augen blitzten. „Es ist an der Zeit.“

Kurt betrachtete ihn nachdenklich. „An der Zeit wofür?“ fragte er dann.
„Ich habe eine Aufgabe“, sagte Béarisean geduldig. „Du weißt mehr davon als ich. Ich werde gebraucht in Abhaileon. Anno wird gebraucht. Wer weiß, was der Gegner dort schon erreicht hat?“
„Wer weiß“, bestätigte Kurt. „Auch ich habe schon längere Zeit keine Nachrichten mehr. Ihr werdet auf keinen Fall, den Weg benutzen können, auf dem du gekommen bist. Er steht schon lange unter Beobachtung.“
„Wie stand es, als die letzte Nachricht kam? Du hast mir nie etwas davon weiter gegeben.“
„Du wirst vieles verändert finden“, sagte Kurt, „Wenn ihr sofort gehen könntet, würde ich dir mehr sagen, aber so ist es besser, wir warten ab. Nur sei darauf gefasst, dass Abhaileon dir fremder geworden sein wird, als du dir vorstellen kannst.“
Béarisean runzelte die Stirn. „Es ist also immer noch nicht Zeit zurückzukehren“, sagte er ernüchtert. „Wie lange noch?“
„Wir müssen abwarten. Der König wird es zur rechten Zeit ermöglichen“, versicherte Kurt. „Du bist bereit?“
Béarisean nickte. „Ich habe alles in die Satteltaschen und ein großes Bündel verstaut. Ich hätte Scairt gleich dort lassen sollen.“
„Du musst das Pferd zurücklassen“, sagte Kurt. „Es ist eine Verbindung nach Abhaileon, über die du leichter gefunden werden kannst. Wir haben das schon diskutiert.“

Béarisean antwortete nicht. Er ging zum Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. Doch er sah nicht den nächtlichen Garten, sondern eine lang vergangene Szene: Zwei Reiter kamen langsam eine gewundene Straße entlang geritten. Es war ein herrlicher Sommertag. Am Waldrand spielten zwei Kinder. Die Reiter zügelten ihre Pferde und riefen eines davon herbei ... - Béarisean riss sich los von diesen Erinnerungen. „Du hast recht“, sagte er dann. „Es ist besser, ihnen gar keinen Anhaltspunkt zu liefern. Vielleicht ist es nötig, zuerst alles zu verlieren, bevor ein neuer Anfang kommen kann.“
Er blickte Kurt direkt in die Augen und sagte ruhig: „Eines Tages wird jemand die volle Rechnung bekommen für alles, was ich in meinem Leben verlieren musste, und ich wünschte, der Tag wäre schon da.“
„Hass und Zorn sind schlechte Wegbegleiter“, bemerkte Kurt.
„Das mag sein.“ Béarisean zuckte die Schultern. „Ich bin nicht zornig. Aber ich vertraue auf eine ausgleichende Gerechtigkeit.“ Kurt wusste, dass jedes weitere Wort zwecklos war, wenn der junge Lord auf dieses Thema zu sprechen kam. Er würde allen vernünftigen Argumenten letztendlich zustimmen und sich kurz darauf doch wieder von seinen Gefühlen mitreißen lassen. Gefühle, die weitaus stärker waren als sein vernunftbetontes Äußeres.

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Schwarzes Pferd I - Kapitel 1.2


Der Bussard war nicht mehr zu sehen. Béarisean (Aussprache: Be-ri-schan), der ihm für ein paar Augenblicke nachgeschaut hatte, ließ seine braune Stute wieder antraben. Er wünschte, er hätte Flügel wie der Raubvogel.
Er wünschte, er könnte den Tag damit verbringen, die Aussicht von hoch oben zu genießen und nach Beute Ausschau zu halten.
Er wünschte, er bräuchte diese ganze Gegend hier nicht mehr zu sehen.
Er wünschte, er könnte nach Hause nach Sliabh Eoghai (Aussprache: Schlu Ochi), wo er so viele Jahre verbracht hatte.
Er wünschte - kurzum, Béariseans Laune lag wenigstens genauso unter dem Nullpunkt wie die Außentemperaturen. Der Optimismus, der ihn am Morgen dieses Tages noch getragen hatte, war allmählich verflogen. Warum hatte er nur in diese unsinnige Geschichte hineingeraten müssen? Warum hatte er nicht einfach ein kleiner Lord auf dem Besitz seines Vaters werden können? Er könnte schon lange verheiratet sein ... Rilan würde ihn oft besuchen oder er sie. Rilan, o Rilan. Warum musste das alles nur geschehen? Er hatte nie ein normales Leben kennen lernen können.

Scairt, sein Pferd, unterbrach mit einem leisen Wiehern seine Gedanken. Béarisean schüttelte sich. Es war nicht gut, an Rilan zu denken. Der Schmerz brannte nur wieder neu, fast wie damals. Ihr Tod musste irgendeinen Sinn gehabt haben. Darum war er hier.
Vielleicht hatte er sich nur darum so entschlossen auf das alles eingelassen. O Rilan! Es musste Rache geben! Wenn es schon nicht die Mörder traf, dann wenigstens die Drahtzieher. Béarisean ließ seine Stute langsamer gehen; der Pfad war hier sehr schmal und überwachsen. Sie näherten sich wieder der alten Trauerweide, wo Kurt wartete.

„Was ist?“, der ältere Mann runzelte nach einem Blick auf ihn besorgt die Stirn. „Hast du etwas“, er zögerte kurz, als sei das folgende Wort mit äußerster Vorsicht zu wählen, „Ungewöhnliches gesehen?“

Béarisean schüttelte den Kopf. „Nichts. Es ist nur dieses Warten.“ Ihm lag nicht daran, dass irgendjemand erfuhr, wie sehr er noch unter diesen lange vergangenen Ereignissen litt. Es war nicht rational. Schon jetzt war der Schmerz wieder verblasst. „Ob er wohl noch kommt?“

Der grauhaarige Mann zuckte mit den Schultern. „Uns bleibt nichts übrig, als weiter zu warten.“

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Auf den Feldern gaben sich die Krähen ein Stelldichein. Im Winter stolzierten sie oft über die Äcker, flogen auf, wenn man sich ihnen näherte und riefen ihr lautes Krah. Die Dämmerung war jetzt nah. Im Dickicht um die Mühle war ein wenig Schnee liegen geblieben. Robin ließ Gebäude und Hain links liegen und überquerte den überwachsenen Bahndamm und den Graben.
Jetzt kam eine wichtige Stelle auf seinem Rundgang. Dort kreuzte ein zweiter Bach (oder Graben) den Weg. An einer mit Gras bewachsenen Brücke stand dort eine alte Trauerweide, deren Zweige fast den Boden erreichten. Und auf das Grasstück zwischen der Weide und dem Rand des Brückchens kam es ihm an. Dorthin stellte er sich gewöhnlich während seines Spazierganges und schaute den kleinen Bach hinauf. Das Bachbett war gemauert und meist floss nur ein recht schmales Rinnsal über die Steinstufen. Dennoch erschien ihm der Platz immer geheimnisvoll. Das Ufer war dicht mit Hecken, Büschen und kleinen Bäumen bewachsen, die sich von beiden Seiten aufeinander zuneigten und einen grünen Torbogen bildeten. Daher reichte der Blick nur etwa zwanzig, dreißig Meter bachaufwärts, so dass nicht ganz auszuschließen war, dass hier in ganz geringer Entfernung vielleicht doch das Tor zu einem Märchenreich lag. Oft schien ihm dann, dass ein Zauber in der Luft läge, irgendein Geheimnis.

An diesem Wintertag war sein Lieblingsplatz allerdings schon besetzt. Bereits von weitem sah er zwei menschliche Gestalten und ein Pferd. In der stillen Hoffnung, dass sie gehen würden, bevor er dorthin kam, verlangsamte er seinen Schritt. Leider verdeckten ihm nicht nur die langen, jetzt blattlosen, Weidenzweige, sondern auch das Pferd den genaueren Blick auf die beiden Eindringlinge. Und sie rührten sich keinen Schritt von der Stelle, während er so langsam wie möglich vorbeischlenderte.

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Béarisean studierte zum mindestens dreißigsten Mal an diesem Tag von der Brücke aus die Beschaffenheit des Grabens unter ihm. Er hatte starke Bedenken, dass sie wirklich an der richtigen Stelle warteten. "Quelle" schien eine bodenlose Übertreibung zu sein für das Rinnsal, das sich da durch die gemauerte Seitenbefestigung des sonst fast ausgetrockneten Grabens presste. Ansonsten gab es nur ein paar Blätter und dürre Zweige. Es war ein sehr unwahrscheinlicher Platz für so ein Treffen. Wie ganz Arda ein unwahrscheinlicher Ort war, einen Ritter zu finden. Und diese alten Schriften, die Kurt und er nach monatelangem Suchen in den Archiven von Bibliotheken und Universitätsfakultäten aufgestöbert hatten, die waren genau genommen  recht vage gewesen. Sie stützten sich doch in Wahrheit nur darauf, weil die Zeit drängte. Abhaileon schien weiter entfernt denn je. Leise sagte er: „Mein König, wenn diese ganze Geschichte mit der Weissagung nicht doch barer Unsinn ist, dann lass schnell etwas geschehen.“ Dann drehte er sich um - und sah den näherkommenden Spaziergänger.

Er fühlte sein Herz schneller schlagen und fragte sich, warum das so war. So ungewöhnlich sah der Fremde nicht aus. Eigentlich unterschied ihn nichts von den vielen anderen, die sie heute schon gesehen hatten. Ein dunkelhaariger, schlanker junger Mann. Und doch. Wie er da so die Stelle, an der sie warteten, im Blick behielt. Sein Schritt wurde immer langsamer, als warte er darauf, dass etwas geschehe. Gleich musste er zu ihnen herüberkommen. Vielleicht würde er sie grüßen, das entscheidende Wort sagen. Aber nein, nur ein kurzes Zögern. Ein letzter, fast hoffnungsvoll scheinender Blick in ihre Richtung, und der andere ging weiter.
Béarisean blickte auf Kurt. Dem schien nichts aufgefallen zu sein. Béarisean raunte ihm zu: „Er ist es! Sag etwas!“ Kurt zögerte. Der Fremde schlug einen schnelleren Schritt an. Béarisean fühlte Panik in sich aufsteigen. Etwas in ihm war er felsenfest überzeugt, dass das der Augenblick war. Er zischte Kurt zu: „Wenn dir nichts einfällt, dann rufe ich laut „Ritter Anno, hier sind wir!“

„Bist du des Wahnsinns?“ raunte Kurt zurück. Aber er sah, dass Béarisean es ernst meinte. Das war ein wenig überraschend bei dem jungen Abhaileoner, der sonst immer etwas unsicher wirkte. Kurt selbst war in Sorge, ein Risiko eingehen. Der Gegner war ihnen schon dicht auf den Fersen. Dennoch, diese Chance zu verpassen, konnte noch verheerender sein.

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Croinathír, Hauptstadt Abhaileons
Ciaran sah sich mit funkelnden Augen um. Doch es zeigte sich kein neuer Gegner. Angus war einer der bekanntesten Schläger in ganz Croinathír, ein breitnackiger Bursche. Gewöhnlich wagte niemand, sich mit ihm und seinem Freund Donald anzulegen. Aber jetzt lag Angus bewusstlos auf dem Boden der Schenke. Nach Ciarans Meinung mussten ein paar seiner Rippen gebrochen sein, nichts Ernsteres. Wenn er nur sein Schwert hätte ziehen dürfen! Doch schon allein die Vorstellung war ungeheuerlich. Es wäre vermutlich sein letzter Tag als Offizier der Palastwache gewesen.
Das hatten die Kerle natürlich gewusst. Sie waren in der Überzahl gewesen. Knapp zwei Dutzend gegen sechs Mann der Palastwache. Jetzt waren nur noch acht von ihnen in der Schankstube. Keiner von ihnen noch  auf den Beinen. Die anderen, unter ihnen Donald,  hatten das Weite gesucht. Ciaran sah sich schnell um. Von den anderen Gardisten schien keiner mehr als ein paar blaue Flecken davongetragen zu haben. Auch der Sachschaden hielt sich wohl in Grenzen. Er gab den Gardisten einen Wink, aufzuräumen, richtete seine Uniform und bot dem Wirt die Münzen für das zerbrochene Geschirr an.

Der Wirt wollte abwinken, doch Ciaran wusste nur zu gut, was ihm selbst bevorstand, selbst wenn er jeden Schaden akribisch bereinigen würde. “Für den Tisch und die Stühle ist niemand von uns verantwortlich”, fügte er hinzu.
Der Wirt nickte kurz und warf einen raschen Blick auf Angus, der sich jetzt stöhnend den Kopf rieb. “Ich habe gesehen, auf wen das ging. Er hat Euch mit dem Tischbein von hinten angegriffen, Hauptmann. Während Ihr mit einem seiner Kumpane geredet habt.” Er zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, Donald wird für das aufkommen.“
Damit hatte er wahrscheinlich recht. Es gab jede Menge Zeugen für den Ablauf, und Donald würde es sich den Folgen seines Handelns nicht entziehen können. Unter der Regierung Estohar von Tarims herrschte strikte Ordnung in der Hauptstadt.

Ciarans Schulter schmerzte noch immer. Es war ein heftiger Schlag gewesen. Nur durch Zufall war nicht sein Kopf getroffen worden. Doch auch Angus würde seinen Fehler so schnell nicht vergessen. Ciaran war kein Hüne wie er, aber einer der geschicktesten Kämpfer der ganzen Stadt. Nicht nur mit dem Schwert. Es hatte nur wenige Sekunden gedauert, bis er seine Widersacher außer Gefecht gesetzt hatte. “Ich werde dem Kommandanten selbst Bericht erstatten”, sagte er.
Einer der Gardisten blickte besorgt auf. “Wir haben nicht damit angefangen, Hauptmann.”

Ciaran wusste, dass dieses Argument bei Estohar, ihrem Befehlshaber, nicht auf fruchtbaren Boden fallen würde. “Ich werde alles genau berichten, möglichst bevor den Kommandanten Gerüchte erreichen.”
Die Tür von der Straße öffnete sich. Zwei Männer der Stadtwache kamen herein und verschafften sich schnell einen Überblick. Sie waren nicht allzu gründlich, als sie die Männer der Palastgarde sahen. 
Ihnen auf den Fersen folgte Neill, ein anderer Offizier der Palastwache.
“Eine Meinungsverschiedenheit”, sagte Ciaran. “Es hat sich schon alles geklärt.”
Der Wirt wies mit einer Kopfbewegung in Richtung des bewusstlosen Angus: „Er ist für die Sachbeschädigung verantwortlich.“
Einer der Stadtgardisten nickte. „Wir nehmen ihn mit. Er kommt erst wieder raus, wenn er zahlt.“
Ein anderer schnaubte. „Oder wenn einer seiner ‚Freunde’ es für ihn tut.“

Ciaran verließ den Raum zusammen mit Neill. Sein Kamerad seufzte: “Was ist diesmal passiert?”
“Wir waren schon öfter hier, wenn wir dienstfrei hatten”, erklärte Ciaran. “Die anderen sind aus Dalinie wie ich.”
Neill nickte. Es gab nicht viele Dalinianer in der Hauptstadt Abhaileons. Dalinie war zwar schon von jeher offiziell Teil Abhaileons und nichts Äußerliches unterschied seine Einwohner von denen der zentralen Provinzen. In den Jahrhunderten seit Colin dem Großen hatte es auch keine kriegerischen Konflikte mehr zwischen der großen Ostprovinz und dem Kernland gegeben. Dennoch wahrten Dalinianer größeren Abstand zu allen anderen als selbst die fremdartigen dunkelhäutigen Imreacher aus dem Süden.

Ciaran hatte keine engeren Freunde. Er brauchte es wohl gelegentlich, wenigsten mit anderen zu sprechen, die aus der gleichen Provinz kamen. Überraschenderweise wurde er stets sowohl als Offizier wie auch als Kamerad akzeptiert. Dieses Kunststück gelang nicht vielen. 
Der junge dalinianische Offizier strich sich seine widerspenstige Stirnlocke aus dem Gesicht. “Donnacha muss davon gehört haben, oder Turgan. Wir hatten uns heute kaum getroffen, als auch schon ein paar ihrer Leute hereinkamen. Sie rissen Witze über Estohar als Ratsvorsitzenden und versuchten uns zu provozieren.”
“Das scheint ihnen gelungen zu sein”, bemerkte Neill trocken.

“Es ging wirklich zu weit”, erklärte Ciaran. “Schließlich stand ich auf und sagte dem Unverschämtesten, dass das so nicht weitergeht. Prompt ging die Schlägerei los; sie wussten sich in der Übermacht.”
“Estohar wird das nicht gefallen.”
Ciaran warf ihm einen leicht resignierten Blick zu. “Darüber bin ich mir vollkommen im Klaren.”

******

Schon war Robin dabei, missvergnügt die letzte Station seines Weges, den alten, halb verfallenen Feldwachtturm anzusteuern. Aber als er einen letzten Blick zurückwarf, trat einer der beiden Männer unter der Weide hervor und winkte ihm zu. „Entschuldigen Sie bitte“, begann er mit zögernder Stimme.

„Ja?“ antwortete Robin fragend und ging wieder zurück Richtung der Weide. Jetzt sah er auch den zweiten der Fremden. Sein Herzschlag beschleunigte. Das musste der Reiter sein, den er kurze Zeit zuvor beobachtet hatte, denn der zweite trug den ungewöhnlichen Mantel. Kniehohe Stulpenstiefel ließen ihn noch abenteuerlicher erscheinen. Seine ganz gewöhnlichen Jeans sprachen jedoch dafür, dass er doch nicht ganz ins Reich der Sagen gehörte. „Ob es wohl eine Gelegenheit gibt, ihn zu fragen, wo er diesen Mantel her hat?“ überlegte Robin. Er musste ein wenig über sich lächeln; das war wieder ein Versuch, möglichst realistisch zu bleiben.

Es war der Reiter, der weiter sprach. „Dies hier ist doch die Heilige Quelle“, sagte er - mehr als ob es sich um eine Tatsache, als um eine Frage handle.

Robin war verwundert. Bisher hatte er nie gehört, dass die Stelle überhaupt einen Namen hatte. Auch wenn fast genau unterhalb der Brücke tatsächlich eine Quelle entsprang. Das heißt, entspringen konnte sie nicht. Sie war in einen gemauerten Ablauf gepresst worden, der mit den Jahren verstopft war. Nun drückte sich das Wasser durch die Steine der seitlichen Ummauerung. Er antwortete: „Eine Quelle gibt es hier schon.“ Gerne hätte er noch hinzugefügt, er halte diesen Ort tatsächlich für geheimnisvoll. Aber  es war besser mit solchen Äußerungen äußerst zurückhaltend zu sein. Manche Leute hatten gar keinen Sinn für Sagenhaftes.

Der Fremde ergänzte: „Wir suchen hier nämlich einen Ritter.“ Der Blick des ersten Fremden, der den Sprecher daraufhin traf, sagte nur zu deutlich, dass er dies für keine kluge Aussage hielt.

Eigentlich wollte Robin eine vernünftige Rückfrage stellen wie: „Können Sie mir etwas mehr erzählen über die Person, die sie suchen?“ Es musste schließlich eine ganz normale Erklärung für all das geben. Vielleicht waren das Hobby-Historiker oder etwas derartiges. Stattdessen hörte er sich plötzlich sagen: „Ich glaube, es ist kein Zufall, dass wir uns hier treffen.“

Die beiden Fremden tauschten einen kurzen Blick. Der ältere Mann wirkte zugleich erleichtert und angespannt. Der jüngere jedoch blickte seinen Begleiter geradezu triumphierend an, bevor er sich wieder Robin zuwandte. Er verschränkte die Arme wie zum Gruß vor der Brust, verbeugte sich leicht und sagte: „Anno, Ritter des Königs, wir sind gekommen, um dich zu treffen.“

Der Ältere rief ärgerlich: „Béarisean!“

Béarisean sah ihn ruhig an und schüttelte den Kopf: “Es ist meine Aufgabe, um die es hier geht. – Aber seltsam, dass du diesen Namen nennst, hier und jetzt.”

Kurt biss sich auf die Lippen. Es war lange her, dass er den jungen Abhaileoner mit seinem wirklichem Namen angeredet hatte. Hier war etwas Ungewöhnliches am Werk. War es der Gegner oder eine Macht wie die aus Alandas?

Robin bemühte sich, nicht wie erstarrt dazustehen. Anno war die Kurzform seines zweiten Namens Arnold. Bisher war er nur einmal damit angesprochen worden. In jenem Traum, aus dem er so unbarmherzig wieder erwacht war. Er musste diesmal umsichtiger sein und sich nicht zu sehr auf etwas einlassen, das sich als nicht real erweisen konnte. „Wer schickt euch?“ fragte er leise.

Jetzt zögerte Béarisean und blickte fragend auf seinen älteren Begleiter. Der jedoch schwieg.

Robin wurde verlegen. „Falls Sie wirklich mich suchen sollten“, fügte er möglichst sachlich hinzu. „Anno - Arnold - ist zwar mein Name. Aber das könnte ein zufälliges Zusammentreffen sein. Einen Adelstitel habe ich nicht und noch dazu nur sehr geringe Erfahrungen als Held und Kämpfer“, fügte er mit einem Lächeln hinzu. Und dann, als sei es Teil eines Scherzes. “Dennoch, wenn mich mein König rufen sollte, dann komme ich, wohin auch immer.“

Der ältere Mann musterte ihn nachdenklich. Doch der jüngere - Béarisean? – betrachtete ihn noch aufmerksamer. Mit einem Blick auf seinen Begleiter sagte er: „Ich heiße Béarisean und komme aus Abhaileon. Ich bin hierher gekommen, um dich zu suchen.“

Robin überdachte seine Antwort gründlich; das Gespräch schien ihm wie ein Gang auf dünnem Eis, das jederzeit um ihn herum einbrechen konnte. „Ich habe auf eine solche Nachricht gewartet“, sagte er schließlich. „Dennoch. Von Abhaileon habe ich nie gehört. Wo liegt das?“

Der Ältere hatte währenddessen unruhig die Umgebung betrachtet, und obwohl ihm nichts Beunruhigendes aufgefallen zu sein schien, legte er jetzt eine Hand auf Béariseans Arm und sagte: „Dies hier ist kein geeigneter Ort, um darüber zu sprechen. Du hast noch Vorbereitungen zu treffen. Und es ist besser, ich erkläre dem Herrn hier, nach was wir eigentlich suchen, bevor wir alle voreilige Schlüsse ziehen.“
Béarisean deutete mit einem kurzen Nicken seine Zustimmung an, ohne die Augen von Robin abzuwenden. „Wir treffen uns später wieder, Anno“, sagte er. „Kurt hier weiß besser, was ein Ardaner wissen kann und was nicht.“
Er wollte sich in den Sattel schwingen, als Robin bemerkte: „Mein Rufname ist Robin. Mir wäre es lieber, ihn zu verwenden. Anno, das ist …“ Er schwieg unsicher.

Kurt pflichtete ihm sofort bei. „Das kann ich nur begrüßen. Gehen wir!“ Er wandte sich Robin ganz zu. „Wäre es möglich, die Unterredung bei Ihnen zu Hause weiterzuführen?“

„Dort oder unterwegs“, meinte Robin. „Ich kann Ihnen auch die Adresse geben und wir telefonieren.“

„Kein Telefon“, entschied Kurt bestimmt. „Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie.“

Béarisean betrachtete ihn nachdenklich. „Warum bist du plötzlich so besorgt. Wir sind der Aufmerksamkeit des Feindes seit Jahren entgangen. Und noch vor einer Viertelstunde schienst du nicht sehr besorgt, er könne uns gerade jetzt aufspüren.“

Kurt verzog den Mund. „Vor einer Viertelstunde sah es noch so aus, als sei unser Hinweis falsch. Jetzt, da er stimmen könnte …“

„Der Feind“, begann Robin vorsichtig. „Wen genau bezeichnen Sie so?“

„Nicht hier“, drängte der Ältere. „Gehen wir!“
Und sie gingen. Béarean saß auf und trabte mit seinem Pferd davon. Robin schlug den Weg nach Hause ein, gefolgt von dem beharrlich schweigenden älteren Mann.

Dienstag, 28. Dezember 2010

Schwarzes Pferd I - Prolog und Kapitel 1.1

Teil I: Die Ritter des Königs

Prolog des Sehers Breanainn (Anm.: Aussprache: Brennin)
(entnommen aus den Archiven in Croinathír (Anmerkung, wird Kri-na-hir gesprochen); die Echtheit jener Schriftrolle ist in Abhaileon umstritten)

[Breanainn, engl. Brendan, war ein irischer Mönch, der im 6. Jahrhundert lebte und von dem berichtet wird, er sei auf einer Segelreise nach Tir Tairngire, einer anderen Welt gesegelt, einer von Nebel umgebenen Insel. Von dort sei er zurückgesandt worden, um in England zu missionieren.
Auch in den Annalen Abhaileons findet sich sein Name. Es heißt, er sei aus Arda gekommen und später dorthin zurückgekehrt. In Abhaileon blieb er unvergessen wegen seiner Visionen über die künftige Geschichte jener Welt und aller Welten]

Es war einmal ...
Ja, es war einmal.
Noch gar nicht solange her, auch wenn die Erinnerung daran schon fast verschwunden ist.
Die Nebel der Erinnerung legen sich bereits über die einzelnen Bilder und werden sie bald wieder verdecken. Wie so oft.
Der Wind treibt alte Wolkenschleier auseinander und öffnet neue Pfade, die auch bald wieder vergangen sein werden.
Manchmal treiben die Worte eines Liedes mit den grauen Wolken und Schwaden vorbei. Eine Weile hallen sie wider  in der kalten Luft, als würden sie für alle Ewigkeiten bleiben. Aber das Ende der Zeiten ist noch weit.  
Manchmal streift jemand gleich mir durch den Nebel. Doch tauschen wir nur einen Blick, ein Lächeln, bevor wir uns je wieder unserem eigenen Ziel zuwenden. Dem einen Ziel am Ende aller Pfade durch die Nebel. Ich höre sie noch die Worte eines dieser Lieder, kaum hörbar und doch in das Gedächtnis gegraben.

In dem Land aller Geschichten bei dem Ursprung allen Seins
liegt die Quelle aller Lieder – und einst floss daraus auch meins.
Nebel liegen auf den Wegen, Gegenwart nur ist im Licht
Zukunft ist uns noch verborgen, das Vergangne schon verlischt.       So weit, so weit

Reiter jagen durch den Nebel, Lieder klingen an mein Ohr,
kaum gehört sind sie verklungen, tanzen Schatten wie zuvor            
Fabeltiere ziehn durch Wälder, Kämpfe toben durch das Land
Große Taten, leise Worte, nie gehört und doch gekannt                                   So weit, so weit

Und ich ruf zum Herrn der Zeiten, der die Welten schuf und lenkt
dankend für die Welt der Lieder und all das, was mir geschenkt:                                        
Du bist da in Deinem Wort und hältst mein Leben in der Hand
gibst den Geist, der alles neu macht, Wunder schafft in jedem Land             So nah, so nah

So träum ich durch alle Zeiten, sehe Licht und Dunkelheit
singe meinem Herrn die Lieder aller Zeit und Ewigkeit
Durch die Nebel aller Zeiten seh ich Wege unbekannt
wandere durch Traum und Wahrheit bis in jenes ferne Land.                        So weit, so weit


Schau hin, hör hin. Da legt der Wind gerade wieder einen Weg frei. Ich sehe Reiter, weite Wälder, Dunkelheit.
Nein, noch weiter reißt der Wind den Pfad auf, vorbei an Drachenfeuer und hohen Bergen bis, ja bis zum Anfang einer Geschichte in einer weit entfernten Welt. Nicht hier in Abhaileon. Eine Welt mit Häusern hoch wie Steinschluchten, eine Welt aus der schon viele Wälder verschwunden sind. Eine Welt - nein, lasst uns den Anfang nicht verpassen, er zieht vorbei schnell wie ein jagender Raubvogel. Seht!



I Auftakt
bei einem Dorf in unserer Welt
1
"Kriiiiiieeek", ein Bussard verließ seinen Ausguck auf einem der in den verhangenen Himmel ragenden Äste eines kahlen Kirschbaumes und flügelte hinauf in das Grau. Auf manchen Äckern standen noch die Getreidestoppeln, die von der dünnen Schneeschicht kaum bedeckt worden waren. Der Wind hatte ein übriges getan und die spärlichen Erinnerungen an den kurzen Schneefall vom Morgen teils ganz aus den Ackerfurchen vertrieben, teils zu kleinen Häufchen zusammengeweht. Nur die Kälte war geblieben und die Luft roch frisch, nach Schnee.

Es war später Nachmittag. Die Tage waren nun schon recht kurz und in einer Stunde würde es bereits Nacht sein. Robin stand auf der Anhöhe jenseits der Ortschaft, in der er wohnte. Berg wurden solche Hügel dort genannt, aber es waren nur flache Erdwellen. Vielleicht war der "Berg" hier auch nur Teil einer alten Flussterrasse; der Strom und seine Nebenflüsse hatten in den letzten paar tausend Jahren viel Grabarbeit geleistet. Nun, Robin stand auf jenem Berg und schaute auf die Häuser des Dorfes zurück, die von einer Kirche überragt wurden, ließ den Blick weiterschweifen zur Flussebene weiter östlich, die sich Richtung Bergland in den Wolken verlor, und auf das Bachtal vor sich.
Bach war wieder eine Übertreibung. Seit langem schon war es nur noch ein gerader Graben mit dickichtüberwucherten Rändern.
Trotz allem - Flurbereinigung und Industrie in den Flußauen - er mochte diesen Weg durch die Äcker und Weinberge, besonders wenn ihn einmal wieder die Sehnsucht nach Ferne und Abenteuern überkam, die seine Welt so schmerzlich auszuschließen schien. Außer in der Erntezeit oder am Sonntagnachmittag traf man dort draußen selten Menschen. Beim Blick von der Anhöhe stellte er sich dann vor, dass er, wenn er nur wollte, einfach weitergehen könne, immer weiter, zu Abenteuern hinter fernen Bergen, wo es noch Ritter und Drachen gab.
Nicht, dass er daran wirklich geglaubt hätte. Da er den Weg schon so oft gegangen war und ihm auch die Umgebung im Umkreis von etlichen hundert Kilometern hinreichend bekannt war, wusste er natürlich, dass nichts Geheimnisvolles passieren würde, dass es nirgends Ritter und Drachen gab und dass es sich nicht lohnen würde, voller Tatendrang in die Ferne aufzubrechen. Und dennoch hatte er immer noch die Sehnsucht, dass eines Tages alles anders sein könnte. Eines Tages mochte ein schwarzes Pferd kommen; er wartete noch immer darauf.

Einmal hatte er geträumt, es sei so weit. Sechzehn war er damals gewesen. Es war noch wirklicher gewesen als die älteren Träume von dem Rappen. Mehr als neun Jahre war es nun her und die Erinnerung daran schmerzte noch immer. Und da war dieses Gefühl, damals, an jenem Morgen einen Fehler gemacht zu haben. Zu schnell hatte er dem ersten Eindruck geglaubt und aufgegeben. Darüber dachte er seit ein paar Monaten nach. Seitdem versuchte er vorsichtig sein Leben dahin zu ändern, wie es hätte sein können, wäre es damals nicht nur ein Traum gewesen.

Der Schrei des Bussards holte Robin in die frostige Realität zurück. Er sah sofort, was den Vogel aufgeschreckt hatte. Unten am Bach war ein Reiter unterwegs; Richtung der alten Mühle trabte er. Sicher, das war nicht gerade ein seltener Anblick. Reitvereine gab es in der Gegend genug. Aber etwas war anders. Denn dieser Reiter trug einen Mantel. Einen dunkelgrünen Reitmantel mit Kapuze, wie es ihn eigentlich nur noch in Sagen gab. Wie er ihn selbst einmal getragen hatte, in einem Traum, der unglaublich wahr gewirkt hatte. Einen kurzen Moment glaubte Robin, dass an diesem Tag doch etwas Ungewöhnliches geschehen werde. Aber dann entschwand der Reiter seinem Blick, und er schüttelte die seltsame Anspannung, die er fühlte, von sich ab. Wenn er solchen Träumen zu lange nachhing, würde die Wirklichkeit doch noch schmerzhafter, als er ertragen konnte.