Samstag, 3. September 2011

Kapitel 17.1


TEIL II: DIE MITTE DER NACHT

XVII Licht und Schatten

Der Weg entlang des Flusses Uibhne bot keine Schwierigkeiten für Ciaran. In sanften Windungen verlief der Pfad zunächst entlang des Bachtals, später folgte er dem breiter werdenden Flusslauf, bis dann nach zwei tüchtigen Tagereisen zu Pferde die Stadt Daliní erreicht wurde.
Daliní war in früheren Zeiten die Hauptstadt des Fürstentums Dalinie gewesen. Auch jetzt war die Stadt die größte und bedeutendste in der ganzen Ostprovinz. Sie war in einer fruchtbaren Hochebene gelegen und der größte Handels- und Informationsumschlagplatz im Osten Abhaileons. Im Gegensatz zu den dünn besiedelten Waldgebieten und kleinen Tälern ringsumher, die im Besitz und unter der Gerichtsbarkeit vieler kleiner Lords und Burgherren standen, wurde Daliní von einem Stadtrat regiert. Für gewöhnlich vermied es jeder der Lords, sich in Angelegenheiten der Stadt oder die der anderen Lords einzumischen, doch gab es für Krisenzeiten und Entscheidungen, von denen die ganze Provinz betroffen war, die Möglichkeit eine allgemeine Versammlung aller Regierenden einzurufen. Sehr oft erwies es sich allerdings als recht schwierig, in einer Angelegenheit einen Konsens zu erzielen, da die Vetostimmen zweier Stimmberechtigter genügten, alle Beschlüsse wieder zu stürzen. Am heikelsten war immer die Entscheidung, einen Vertreter für den Obersten Rat in Croinathír abzuordnen. Zuviele Interessengruppen waren mehr an ihrem eigenen Prestige und Einfluß interesssiert, als an einer für alle Betroffenen vernünftigen Entscheidung. Die Wahl des Ratsvertreters hatte schon oft zu erbitterten Debatten und Kleinkriegen geführt.
Erst während der letzten Jahre hatte sich darin eine deutliche Verbesserung bemerkbar gemacht. Mehr und mehr der Lords waren bereit gewesen, Dorban von Tairg als befehlsberechtigt anzuerkennen. Manche hatte sein kriegerisches Geschick beeindruckt, andere seine kluge Verhandlungsführung. Zu alledem hatte er sich trotz steigender persönlicher Macht keine Übergriffe auf seine schwächeren Nachbarn zuschulden kommen lassen. Das war keine Selbstverständlichkeit. Selbst die Vertreter des Stadtrates hatten sich von Jahr zu Jahr geneigter gezeigt, Dorban als neuen Herrscher Dalinies in Betracht zu ziehen. Dorban hatte bei den vorsichtigen Sondierungsversuchen dieser Herren, wie er zur Autonomie Dalinís stehe, durchblicken lassen, daß er für Städte eine Regierungsform gleich der in der Hauptstadt praktizierten für von großem Vorteil halte. Eine Aussage, die den Mitgliedern des Stadtrates gut gefiel. Ließ sie doch vermuten, daß der Lord von Tairg in Erwägung zog, der Stadt nicht nur ihre Autonomie zu lassen, sondern ihren Rat sogar an allgemeinen Regierungsentscheidungen wesentlich zu beteiligen. Das Wort, daß es vielleicht bald einen neuen Fürsten von Dalinie geben werde, machte nur unter vorgehaltener Hand die Runde, wurde jedoch immerhin schon so öffentlich diskutiert, daß Gerüchte davon sogar bis nach Croinathír gedrungen waren.

Ciaran erreichte Daliní am frühen Morgen. Wenn es nur nach seinem Willen hätte gehen können, wäre er schon am Vorabend eingetroffen. So sehr brannte ihm das Herz, dem Auftrag, den ihm Ríochan gegeben hatte, zu folgen, daß er den Weg ohne jegliche Rast zurückgelegt hätte. Doch das war seinem braven Braunen nicht zuzumuten gewesen. Auch so war das Pferd jetzt derartig erschöpft, daß er es in der Stadt würde zurücklassen müssen, um seinen Weg auf einem frischen Reittier fortzusetzen. Er hatte zwar nur wenig Geld bei sich, doch er ging davon aus, daß er das Pferd finden werde, das er brauchte. Daran konnte doch sein Auftrag nicht schon scheitern!
Als die Mauern der Stadt sich vor ihm erhoben, fühlte er dennoch Unsicherheit in sich aufsteigen. Ob man seiner Botschaft Glauben schenken würde? Er mußte als erstes den Vorsitzenden des Stadtrates ausfindig machen. Wenn sich dieser als einsichtig und hilfsbereit erwies, würde er eine Sitzung des Rates einberufen lassen. Dabei war es wohl notwendig, daß er selbst seine Botschaft vortrug. Das alles würde viel Zeit kosten. Wie er Stadtratsangelegenheiten aus Croinathír kannte, würde es mindestens, aber wirklich allermindestens, zwei volle Tage bis dahin brauchen. Wenn die Räte heftig ins Debattieren kamen oder gerade irgendeine Festlichkeit der Einberufung des Rates im Wege stand, eventuell länger. Autokratien, wie es die Fürstentümer der anderen Provinzen waren, hatten im Vergleich dazu doch einige deutliche Vorteile.

Ciaran betrachtete den großen Ring, den er am Finger trug. Der Siegelring von Abhaileon. Wäre er nicht lange Zeit verschollen gewesen, so trüge ihn jetzt vielleicht Estohar als Vorsitzender des Rates. Estohars Herrschaft, soweit man sie überhaupt so nennen durfte, war nie so weitgehend anerkannt worden, wie seine Freunde es sich anfangs erhofft hatten. Es war ein letzter Versuch gewesen,  die alten Zeiten zurückzubringen, in denen der Vorsitzende des Rates von Abhaileon zugleich Regent des Landes war und über große Machtbefugnisse verfügte. Ein Gedanke kam Ciaran. Mochte es mit daran gelegen haben, daß mit dem letzten Regenten auch dieser Ring verschwunden war? Er wies die Idee wieder von sich. Ein Ring war ein Gegenstand wie jeder andere auch. Obwohl es ihm jetzt ganz recht gewesen wäre, wenn der Ring es vermocht hätte, seinem Träger genug Ansehen zu verleihen, daß er seine Aufgabe ausführen konnte. Denn war er, Ciaran, glaubhaft genug als Träger des Siegelringes von Abhaileon? Glücklicherweise wies ihn wenigstens sein neues, kostbares Schwert unbezweifelbar als Ritter aus. Er war ein Ritter des Königs; bei diesem Gedanken richtete er sich gleich gerader auf. Doch wie sollte er in Daliní Glauben dafür finden?
Seine Gedanken glitten zurück zu der Begegnung mit Fürst Ríochan. Noch standen ihm alle Einzelheiten klar vor Augen. ´Ich vertraue dir, Ritter Ciaran von Firin´, hatte der Fürst von Alandas gesagt und ihm damit zugleich seinen Ritternamen gegeben. Vielleicht war es so: Ciaran von der Palastgarde war in der Drachenschlucht gestorben; Ciaran von Firin aber war dort geboren worden. ´Ich bin dir nicht sehr ähnlich, Ríochan, mein Fürst´, sagte Ciaran leise. ´Nur die Farbe meiner Augen ist ein wenig wie die der deinen, aber meine Worte sollen sein wie deine Worte wären, mein Handeln so wie du handeln würdest. Vielleicht gibt mir der König ein wenig von dem Licht, das in dir ist. Ich möchte ihm dienen wie du.´

Die Stadt lag mit weit geöffneten Toren vor ihm. Er trieb sein Pferd zu einem letzten kurzen Galopp an. Die Wache am Stadttor zögerte keinen Augenblick, ihn einzulassen. Ein Blick auf den Ankömmling zeigte dem Wächter, daß dieser einer der wichtigen Gefolgsleute der Lords sein mußte, die sich heute in der Ratshalle versammelten. Einer der Männer rief dem Ritter zu: ´Ihr seid spät dran, Herr. Die große Versammlung beginnt in einer halben Stunde. Die Lords warten bereits in der Großen Halle.´
Verwundert zog Ciaran die Zügel an und brachte sein Pferd zum Stehen. Versammlung? Das traf sich ja ausgezeichnet. Er kam zum rechten Zeitpunkt, denn das hieß, daß er nicht nur den Stadtrat, sondern auch sämtliche Lords der Umgebung versammelt finden würde. Was mochte sie bewegt haben, diese Sitzung einzuberufen? So selten wie das geschah. Aber natürlich! Vielleicht war mittlerweile ein Bote aus der Hauptstadt eingetroffen mit einer Warnung über Barraids Umtriebe und der Einberufung zur großen Heerschau.
´Ich komme mit wichtiger Botschaft und bin erstmals in dieser Stadt´, rief er der Wache zu. ´Es ist erforderlich, daß ich sofort mit dem Vorsitzenden des Rates oder einem anderen Führer mit entsprechender Machtbefugnis sprechen kann. Könnt ihr mich zu ihm bringen?´
Zu seinem eigenen Erstaunen zögerte der Mann - es war der wachhabende Offizier, ein Hauptmann - nur kurz, seiner Bitte nachzukommen und antwortete: ´Ich werde Euch selbst zum Vorsitzenden des Stadtrates geleiten, Herr. Dort werdet Ihr auch den Obmann der Lords und den Boten aus Croinathír antreffen.´ Er wandte sich an seine Soldaten: ´Bringt mir ein Pferd! Hier ist keine Zeit zu verlieren.´

Innerhalb weniger Minuten erreichten sie die Beratungshalle im ehemaligen Fürstenpalast am östlichen Stadtrand. Der Offizier führte den fremden Ritter rasch durch einige Gänge, bis sie schließlich vor der Tür eines Raumes auf einen Wachposten stießen. Dort bedeutete der Hauptmann Ciaran zu warten und schritt selbst auf die zwei Soldaten zu. Einer der beiden trat einen Schritt vor und sagte: ´Die Herren wollen jetzt nicht gestört werden.”
´Es handelt sich um eine äußerst wichtige Botschaft´, entgegnete Ciarans Begleiter in dringlichem Ton. Ciaran wunderte sich, aus welchem Grund dieser Mann so für ihn eintrat. Dieser Offizier wußte doch gar nicht, um was es ging. Machte das der Ring? Die Wächter zögerten. Einerseits mochten sie als einfache Soldaten dem höheren Offizier nicht widersprechen, andererseits hatten sie ihre Befehle.
Ciaran trat vor. Er war entschlossen die Gunst der Stunde zu nutzen, bevor sich Hindernisse aufbauen konnten. ´Ich bin sicher, die Herren werden bereit sein, die Beratung zu unterbrechen und mich zu ihnen vorzulassen, wenn ihnen dieser Ring gezeigt wird.´ Er zog den Siegelring vom Finger und reichte ihn dem Hauptmann der Wache. ´Laßt den Offizier passieren!´ befahl er mit einer Selbstverständlichkeit, als sei dies die Burg in Croinathír, in der er oft das Kommando geführt hatte. ´Und Ihr, Herr Hauptmann, behütet diesen Ring wohl; das Schicksal dieses Landes mag daran hängen.“
Der Hauptmann starrte mit geweiteten Augen auf den Ring, den er plötzlich in Händen hielt. Ob er erkannte, um was es sichdabei handelte, war zweifelhaft. Doch das dies ein besonderes Siegel war, konnte er nicht verkennen.  Er verbeugte sich respektvoll vor Ciaran. ´Seid meiner treuen Pflichterfüllung versichert, mein Herr´, sagte er. Die Wache ließ ihn verständnis- und anstandslos passieren. Ciaran sah ihn an die Tür klopfen und eintreten. Kurz darauf erklang aus dem dahinterliegenden Raum aufgeregtes Stimmengewirr. Der Offizier kam bald danach wieder heraus, reichte Ciaran den Ring zurück und bat ihn einzutreten. Ciaran richtete sich gerade auf und schritt in das Zimmer. Jetzt galt es, einen guten Eindruck zu machen und keine Unsicherheit zu zeigen.

Die drei Männer, die ihn in dem kleinen Saal erwarteten, hatten vorher wohl in lockerer Runde beisammen gesessen. Um einen Tisch, auf dem Becher und eine Karaffe mit Wein standen, waren drei bequeme Stühle gestellt. Doch jetzt hatten sich alle drei von ihren Sitzen erhoben und ihre Augen fixierten mit Spannung die Tür. Der Anblick des Ringes hatte bei ihnen Verwirrung, sogar Bestürzung ausgelöst. Der Hauptmann hatte ihn nicht aus der Hand gegeben. So hatten sie nur einen flüchtigen Blick darauf erhaschen können. Doch das hatte genügt, um das Siegel von Abhaileon zu erkennen. Alle drei waren sich darüber im klaren, daß die politischen Konsequenzen unausdenkbar waren, wenn es sich hier wahrhaftig um den Siegelring der früheren Regenten von Abhaileon handelte.
Da standen sie also: der Vorsitzende des Stadtrates, Brian, ein kluger, alter Kaufmann von etwa sechzig Jahren, Orla von Fuacht, der Obmann der Lords von Dalinie, Besitzer der ausgedehntesten Ländereien in dieser Provinz und Neill der Bote aus der Hauptstadt und jedem von ihnen schlug das Herz schneller. Wer würde nun vor sie treten?
Hauptmann Neill setzte seine letzten Hoffnungen auf den unerwartet eingetroffenen Gast. Bei dem vorhergehenden Gespräch hatte es sich als vollkommen unmöglich erwiesen, den beiden Dalinianern Estohars Begegnung mit den Rittern des Königs glaubhaft zu machen. Zudem hatte er zu seiner Bestürzung nun als sicher erfahren müssen, was er nach Gerüchten, die ihn auf der Reise erreichten, hatte befürchten müssen: Dorban von Tairg war seit Monaten spurlos verschwunden. Orla hatte ernste Bedenken angemeldet, sich Fürst Barraid zum Feind zu machen. Auch  Brian schien nicht willens, Männer zum Kampf zur Verfügung zu stellen. Doch beide hatten die Entscheidung vom Beschluß der Versammlung abhängig gemacht, auf der alles Für und Wider ausgiebig diskutiert werden sollte.
Ehrlich gesagt, machte sich Neill keine großen Hoffnungen, was den Ausgang betraf. In den letzten Tagen hatte er Gelegenheit genug gehabt, die Lage in Daliní zu erkunden. Niemand schien bereit, Befehle aus der fernen Hauptstadt entgegenzunehmen und zu akzeptieren, besonders da niemand an eine Bedrohung durch Barraid glaubte. Die Beratung mit Orla, der erst am Vortag eingetroffen war, hatte ihn in dieser Einsicht bestärkt. Der Lord hatte sich ihm gegenüber sehr zugeknöpft gezeigt, was Neill auf die allgemeine Abneigung gegen Anordnungen aus Croinathír zurückführte. Dennnoch, Neill wurde den Eindruck nicht los, daß der alte Fuchs Orla mit irgend etwas hinter dem Berg hielt, das er erst in der Versammlung preisgeben wollte. Der Himmel mochte wissen, was es war. Als dann der Offizier der Wache hereingekommen war und den Ring vorzeigte, den lange verschollenen Siegelring von Abhaileon - Neill zweifelte keinen Augenblick daran, daß es der echte Ring war - , hatte es in ihm jubiliert: ´Das ist bestimmt einer der beiden Ritter des Königs. Estohar sagte doch, daß sie im Geheimen weiterarbeiten würden. Dieser Ritter kommt gerade zur rechten Zeit.´
Orlas Hand fuhr in einer unwillkürlichen Bewegung zu seinem Schwertheft, während er auf den Fremden wartete. Neills aufmerksamem Blick entging es nicht, obwohl der Lord versuchte die Bewegung abzufangen und zu kaschieren. ´Irgendetwas hat ihn sehr nervös gemacht´, dachte der Bote aus der Hauptstadt. ´Was befürchtet er?´
Brian hatte die Arme über der Brust verschränkt, sein Blick drückte Abwehr aus. Er war wahrscheinlich entschlossen, die Echtheit des Ringes auf jeden Fall anzuzweifeln.

Die Tür öffnete sich erneut. Herein trat ein mittelgroßer Mann in unauffälliger, etwas abgenutzter, aber gut gearbeiteter Reitkleidung. An seiner Seite trug er in Kontrast zu der restlichen einfachen Ausrüstung ein prachtvolles Schwert mit  einem gold-silbernen, ornamentverzierten Heft, auf dem ein Smaragd prangte. Neill erkannte erstaunt das Gesicht wieder: die blauen Augen, die schwarzen Haare, diese eine Locke, die immer etwas rebellisch in die Stirn hing - das war sein Kamerad Ciaran! Doch nein, das  konnte nicht Ciaran sein. So ruhig und selbstbewußt, wie der Fremde seinen Blick erwiderte. Die Autorität, die von ihm ausstrahlte. Außerdem war Ciaran doch bei den Banditen. Es mußte sich um jemanden handeln, der ihm einfach frappierend ähnlich sah. Schließlich war er Dalinianer und hatte vielleicht entfernte Verwandte in der Provinz.
Der fremde Ritter legte die Hand auf sein Herz verbeugte sich knapp. Dann sagte er: ´Ich grüße Euch im Namen unseres Königs, meine Herren, als dessen Bote und Ritter ich komme.´ Dann schwieg er kurz, um seinen Gegenübern die Gelegenheit zu geben, den Gruß zu erwidern.

In Neills Kopf rangen zwei Gedanken um die Vorherrschaft. Der erste war: ´Das ist Ciarans Stimme. Ich täusche mich doch nicht darin. Jahrelang haben wir zusammengearbeitet.´ Der zweite war: ´Es ist ein Ritter des Königs. Ein Wunder geschieht. Das muß selbst diese Zweifler hier überzeugen.´ Gedanke Nummer zwei gewann die Oberhand.
Brian und Orla schwiegen immer noch. Neill aber rief freudig: ´Ehre dem König! Seid gegrüßt, Ritter´, und verbeugte sich. Dann fügte er hinzu: ´Es steht mir nicht zu, Euch in dieser Stadt willkommen zu heißen, denn ich selbst bin hier nur zu Gast. Doch im Namen des Obersten Rates von Abhaileon, in dessen Auftrag ich unterwegs bin, spreche ich Euch das Willkommen aus.´ Der fremde Ritter schenkte ihm ein kurzes Lächeln.

Brian entschloß sich nun, den Gruß ebenfalls zu erwidern. Diese ganze Angelegenheit erschien ihm sehr dubios. Es gab keinen König, außer in den Märchen. Folglich konnte es auch keine Ritter dieses Königs geben. Auf den Boten aus der Hauptstadt konnte man nicht gehen. Es war kein Geheimnis, daß dieser zu Estohars engerem Kreis gehörte, innerhalb dessen man an diesen Mythen festhielt. Aber dieser Fremde war zweifellos ein großer Herr. Selbst Brian kostete es ein wenig Mühe, nicht von dessen Persönlichkeit in Bann geschlagen zu werden. Er beschloß also, zunächst vorsichtig und höflich zu sein und sagte: ´Willkommen in Daliní, Herr Ritter. Ich bin Brian, der Vorsitzende des Rates dieser Stadt, der Ritter hier zu meiner Rechten ist Orla von Fuacht, Obmann der dalinianischen Lords und Ritter, und Hauptmann Neill ist hier als Bote des Obersten Rates in Croinathír.´ Orla verneigte sich kurz, als er vorgestellt wurde. Brian fuhr fort: ´Was verschafft uns die Ehre Eures Besuches?´
Der Ritter antwortete: ´Ich vermute, der Anlaß meines Besuches ist für Euch bereits keine Neuigkeit mehr, Herr Brian und Herr Orla, denn aus keinem anderen Grund kam aus Croinathír Botschaft zu Euch. Der Fürst von Alandas selbst schickt mich aus, Euch diese Worte zu sagen, dass Eure Truppen zu Mittsommer auf Corimac sein sollen für den bevorstehenden Kampf. Seid Ihr bereit, diesem Aufruf Folge zu leisten?´
Brian breitete in einer Geste, die Machtlosigkeit signalisieren sollte, die Arme aus. ´Darüber kann allein die Versammlung befinden.´
´Ich fordere mit allem Nachdruck und mit der Autorität, die mir dieser Siegelring, den ich trage, verleiht, daß dem Befehl des Rates von Croinathír und des Fürsten von Alandas Folge geleistet wird´, erklärte der fremde Ritter mit Bestimmtheit.
´Ihr werdet Gelegenheit haben, diese Forderung der Versammlung vorzutragen´, erwiderte Brian ausweichend. Ihn ärgerte dieser selbstsichere Befehlston. ´Mehr kann ich für mein Teil nicht sagen. Laßt uns gehen! Es ist hohe Zeit. Die Herren und Damen warten.´

´Einen Moment!´ unterbrach Orla und meldete sich damit zum erstenmal zu Wort. ´Vorhin hatte ich kaum Gelegenheit, mir diesen Ring anzusehen. Dieser Hauptmann wedelte uns damit vor der Nase herum, wollte ihn aber nicht aus der Hand geben. Bevor ich zulasse, daß Ihr in der Versammlung einen Aufruhr auslöst, Herr Ritter, möchte ich mich von der Echtheit dieses legendären Stückes überzeugen. Ihr gestattet?´
´Selbstverständlich, Herr Orla´, antwortete Ciaran freundlich. ´Es ist weise von Euch, dies zu verlangen. Hier habt Ihr den Ring. Seht ihn Euch gründlich an!´
Orla griff nach dem Ring, den ihm der Ritter auf der flachen Hand entgegenhielt. Bevor er jedoch das Siegel an sich nahm, zögerte er etwas. Er blickte dem Fremden in die Augen und sah ruhige Überlegenheit und etwas Ehrfurchtgebietendes. Fast ängstlich griff er schließlich zu. Er wandte allen Anwesenden den Rücken zu und trat ans Fenster. Keiner sah, was er dort tat . Doch Ciaran erinnerte sich, daß Ríochan gesagt hatte, jeder Lord und jeder Fürst werde die Echtheit dieses Ringes erkennen können.
Als Orla sich wieder umdrehte, war sein Gesicht bleicher geworden. Schweigend reichte er Ciaran den Ring zurück, verbeugte sich tief vor ihm und sagte mühsam beherrscht: ´Befehlt Ihr, daß ich Euch sogleich den Treueid schwöre, Regent von Abhaileon?´

Brian starrte den Lord von Fuacht ungläubig an; diese Reaktion verschlug selbst ihm für kurze Zeit die Sprache. Hieß es nicht, der stolze Lord von Fuacht habe noch vor keinem Fürsten den Rücken gebeugt?
Ciaran antwortete lächelnd: ´Ich befehle Euch nichts dergleichen, Herr Orla. Denn ich beabsichtige nicht, diesen Titel für mich in absehbarer Zeit in Anspruch zu nehmen.´
Orla schwieg eine Weile und dachte nach. Dann sagte er: ´Wie Ihr befehlt. Ich erkenne Eure Vollmacht über mich an. Darf ich Euch bitten, uns Euren Namen zu sagen?´
´Mein Name ist nicht wichtig´, sagte Ciaran. ´Doch da Ihr ihn wissen wollt, ich heiße Ciaran. Ciaran von Fírin.´ Ihm entging nicht, wie Neill nach Luft schnappte. ´Doch nun sollten wir wirklich die Herren und Damen in der Versammlung nicht mehr länger warten lassen. Würdet Ihr so freundlich sein, mir den Weg dorthin zu weisen, Hauptmann Neill?´
´Tut das, Hauptmann Neill´, stimmte Brian zu. In seiner Stimme schwang Unmut. ´Herr Orla und ich haben noch etwas miteinander zu klären, werden aber gleich folgen.´ Ciaran und Neill verließen das Zimmer.

´Nun, was ist noch?´ fragte Orla von Fuacht kurz angebunden, sobald sie allein waren.
´Das fragst du!´ rief Brian zornig. ´Bist du dir klar, was für Konsequenzen das haben kann? Was in aller Welt hat dich geritten, diesen hergelaufenen Fremden als Regenten von Abhaileon anzureden?´
´Die Tatsache, daß der Ring echt ist. Damit ist dieser fremde Ritter mit Fug und Recht der Herrscher über Abhaileon. Ob er dieses Recht in Anspruch nimmt oder nicht, ich betrachte ihn als meinen obersten Lehnsherrn.  Ich erwarte auch von dir Respekt ihm gegenüber´, entgegnete der Lord. Seine Miene unterstrich, wie ernst ihm war, was er sagte.
´Wie kannst du dir nur so sicher sein, daß dieser Ring keine Fälschung ist?´, beharrte der Ratsvorsitzende. ´Jedes Schmuckstück kann nachgemacht und gefälscht werden.´
´Jedes Schmuckstück vielleicht. Aber nicht der Siegelring von Abhaileon´, erklärte Orla. „Du bist kein Lord oder Fürst, daher weisst du es nicht. Dieser Ring besitzt Eigenschaften, die nicht kopiert werden können. Er stammt aus Alandas.´
´Seit wann glaubst du denn an die Existenz von Alandas?´ spottete Brian. Doch der Spott ging ins Leere, traf nicht.
´Seit ich den Ring sah und der Regent davon sprach´, sagte der Lord. „Es ist mehr an diesen Dingen, als wir lange dachten. Sogar Dorban erzählte davon, als ich zum letztenmal von ihm hörte.´
´Dorban?´ wiederholte Brian zweifelnd. ´Du mußt zwingenden Grund haben, so etwas zu behaupten. Ich weiß gut, wie er zu diesen Dingen steht. Hattest du Nachricht von ihm? Warum hast du bisher nichts davon gesagt?´
´Es ist eine Sache für den Rat´, erklärte Orla. ´Laß uns gehen!´
´Eine Frage noch´, hielt ihn Brian auf. ´Wenn dieser Ring so hervorragende Eigenschaften besitzt, warum hast du ihn dann nicht behalten, da dieser Ritter so leichtsinnig war, ihn aus der Hand zu geben?´
Orlas Blick wurde dunkel. „Es gibt Dinge, die heilig sind“, sagte er flach. „Wer sie antastet, zerstört die Grundlage nicht nur des Staates sondern auch der Existenz aller. Ein Lord von Dalinie weiß das.“
„Dalinie ist stets seinen eigenen Weg gegangen“, auch Brian war zornig.
„Es war mein Vorfahre, Etlan von Fuacht, der mit Elianna von Saldyr Dalinie in den Kampf führte“, sagte Orla hart. „Vergiß es nicht! Dalinie hat die Großen Kriege eröffnet. Aber Dalinie hat sich auch auf die Seite des Bundes gestellt und den rechtmäßigen Regenten anerkannt. Ein Lord von Fuacht fordert sein Recht ein. Er hat es nicht nötig zum Dieb zu werden.“ Er drehte sich um und ging zur Tür hinaus. Brian kniff die Lippen zusammen. Diese Lords würden nie begreifen, dass neue Zeiten neue Regeln erforderten.

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