Donnerstag, 15. September 2011

Kapitel 31.2


Wieder standen sie auf der Anhöhe nahe der Wälder, auf der Ciaran ein letztes Mal versucht hatte, der Konfrontation auf Corimac zu entgehen. Die Pferde hatten sie jedoch zurückgelassen. Flaith und Doitean vertrugen sich noch weniger als je zuvor.
Wie sehr sich alles in so kurzer Zeit geändert hatte, dachte Ciaran. Er und Béarisean hatten die Gruppe, die mit der offiziellen Kriegserklärung nach Carraig reiten würde, bis hierher begleitet. Estohar war ihm immer so gewaltig erschienen. Viele Jahre lang hatte er seine Welt dominiert. Jetzt war er nur noch einer der vielen Führer in Abhaileon.
Selbstverständlich waren sie nicht alleine. Am Fuße des Hügels wartete Rafe mit seiner von ihm streng ausgewählten Truppe, die sich inzwischen auf zwanzig Mann vergrößert hatte und mit ein paar der Männer aus Tireolas. Fürst Donal hatte darauf bestanden, dass Tireolas das Vorrecht haben solle, für Béariseans Sicherheit zu sorgen.
 „Dein Schwert hat alles geändert“, sagte Ciaran immer noch nachdenklich zu Béarisean. „Estohar begegnet mir seitdem als jemand anderem. – Seltsam. Ein wenig wünsche ich mir dennoch, er würde immer noch den Hauptmann seiner Garde sehen und diesen akzeptieren.“

Béarisean antwortete lange Zeit nicht. „Ich fürchte, es war ein Fehler“, murmelte er schließlich und blickte unverwandt an den leeren Horizont im Osten.
Ciaran bemühte sich den Gedanken des anderen zu folgen. Es musste um Estohar gehen. „Jemand musste nach Carraig“, versuchte er es schließlich. „Wir müssen uns an die Regeln halten.“
„Die Regeln!“ sagte Béarisean heftig und ballte die Fäuste.
Ciaran sah ihn verwundert an. „Was meinst du mit diesen Worten?“ fragte er vorsichtig.
Béariseans Gesicht nahm einen leicht gequälten Ausdruck an. „Nichts“, sagte er dann fest. „Es sind nur ein paar längst vergangene Dinge, die manchmal für Sekunden aufbrodeln.“ Er seufzte. „Ich fürchte, Estohar nie wiederzusehen, und das reißt ein paar alte Wunden auf.“ Er vermutete, dass es das war. Die vergangene Nacht war voller Alpträume über längst Vergangenes gewesen. „Wir werden gewinnen und alle Rechnungen werden beglichen werden!“
„Vielleicht“, entgegnete Ciaran. Ihn schauderte. Wieder sah er die Vision von Dunkelheit vor sich, die ihn zuerst auf Carrnarosc überfallen hatte.

„Was ist mit dir?“ Béariseans Stimme drang nur undeutlich zu ihm durch.
„Die Dunkelheit“, brachte Ciaran hervor. „Sie legt sich auf alles. Sie ist jetzt ganz nahe.“ Er merkte erst, dass er taumelte, als der andere Ritter ihn am Arm packte.
„Ist dir nicht gut?“ fragte Béarisean besorgt.
„Es ist scheinbar so übermächtig“, murmelte Ciaran. Aber dann lächelte er den anderen beruhigend an. „Nein, das ist keine Krankheit. Es ist etwas wie das Licht, das wir manchmal aus unseren Schwertern brechen sehen. Die Vision der Wirklichkeit jenseits dessen, was wir gewöhnlich wahrnehmen können. Von dem hier sprach Fürst Ríochan. Er sagte, wir müssten durch das Herz der Dunkelheit gehen, bevor Abhaileon wieder zum Licht gelangen kann. In Roscrea sah ich das plötzlich vor mir. Und jetzt wieder, nur dass es schon sehr nahe ist. Es ist wie schwarze Wirbel in dunkelster Nacht, Finsternis in Finsternis und nirgends ein Lichtstrahl.“
„Und der Weg?“ fragte Béarisean angespannt.
Ciaran schüttelte den Kopf. „Da ist nichts zu erkennen.“
Béarisean seufzte. „Wir sollen wir da nur durchfinden.“
„Hiermit“, sagte Ciaran und berührte das Heft seines Schwertes. „Du hast es doch schon oft gesehen bis jetzt. Kein Dunkel kann dieses Licht auslöschen. Der Spiegel dessen, was uns im Innersten leitet und bewegt. Es sei denn, wir ließen das Dunkel in uns wohnen.“

Béariseans Hand legte sich fest um das Heft seines eigenen Schwertes. Es beunruhigte ihn etwas, sich vorzustellen, was dieser Spiegel derzeit zeigen könne. Seine Gedanken wollten ständig abirren zu der noch ausstehenden Rache an den Mördern Rilans. Ob damit das Licht noch so hell leuchten konnte, wenn Flammen des Hasses dazwischen loderten? „Kannst du das Dunkel eigentlich auch in anderen sehen?“, fragte er.
Ciaran runzelte die Stirn. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich glaube nicht. Sonst hätte man Gearaid etwas ansehen müssen, vermute ich. Ich wusste, dass er meinen Tod will. Aber es war einfach, das zu wissen.“
Béarisean war sich nicht sicher, ob er darüber Erleichterung verspüren sollte. „Lass uns zurückkehren“, schlug er vor.
******

Der Tag hatte genauso schlecht begonnen, wie der vorige Abend geendet hatte. Genau gesehen, war die Begegnung in der Nacht sogar an diesem Tag gewesen, auch wenn Robin in der Zwischenzeit ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte. Die Dämmerung war die trübeste gewesen, die er bisher auf Carraig erlebt hatte; der lichtstrahlende Frühsommer schien endgültig vorüber. „Wie damals“, murmelte er, „als wir Alandas verließen. Die Regenwolken sammelten sich, kaum dass wir den Pass überschritten hatten. Heißt das, dass ich jetzt auch wieder aufbrechen werde?“
Vielleicht hätte er Akans nächtliches Angebot annehmen sollen, Isabell auf einem ihrer Ritte mit ihm zu begleiten. Nein, von Akan wollte er nichts annehmen, auch wenn er keinen einzigen Grund hätte nennen können, warum er so gegen den Lord eingenommen war. Eigentlich war ihm vieles zugute zu halten. Kaum angekommen, hatte er den Ritter zu sich eingeladen und seine Instrumente zur Verfügung gestellt. Er schien wirklich ungeheuer beschäftigt zu sein, und dennoch kümmerte er sich um Isabell. Ohne dabei irgendwelche ernsteren Interessen zu haben. Bisher zumindest. Darüber schien Isabell sogar eher erbost, wenn sie das auch nicht zugeben wollte. Vielleicht war es gerade diese Kälte, die aus allem herausstrahlte, was dieser Lord tat. Diese Oberfläche so glatt wie poliertes Eis. Es gab überhaupt zuviel Kälte hier!

Er warf seinen langen Mantel über, bevor er hinausging. Etwas zog ihn hinaus auf die Höfe. Er näherte sich dem äußeren davon, aber noch bevor er diesen erreichte, sah er Akan durch das Tor reiten und änderte entschlossen die Richtung. Das Ausweichmanöver führte ihn schließlich zu einem der abgelegeneren Türme. Er sah nach oben und stellte fest, dass es sich um den mit der Kuppel für die astronomischen Beobachtungen handelte. Nun, er konnte schließlich innerhalb der Mauern tun und lassen, was er wollte und dort war er noch nie gewesen. Vielleicht in instinktiver Reaktion auf Béariseans Abneigung gegen alles, was in Astrologie münden konnte. Vielleicht weil er hier auf Carraig tatsächlich finstere Dinge in Zusammenhang damit erwartete. Doch jetzt gerade war ihm das gleichgültig.
Mit raschen Schritten stieg er die gewundenen Treppen hinauf und stellte dabei zufrieden fest, dass seine Kondition allmählich wieder auf die alte Höhe kam. Mit einem leisen Lachen begann er sogar zu laufen, so dass er außer Atem und leicht schwitzend die oberste Plattform erreichte. Er ließ die Falltür offen stehen und betrachtete die blitzenden Lichtpunkte auf der Kuppel. Ja, das war wohl der Himmel Abhaileons. Er hatte ihn nie eingehender betrachtet, doch ein paar markante Konstellationen erkannte er wieder. Flüchtig suchte er nach der Mechanik, die das steuern sollte, konnte aber nichts entdecken.
Nach einer Weile beschloss er, dass es jetzt möglich sein solle, nach seiner Kusine zu sehen. Was auch immer in der Nacht gewesen war, er wollte mit ihr sprechen. So wie sich zur Zeit die Dinge entwickelten, würden sie sich sonst noch völlig entfremden, und wenn er zu lange zögerte, war sie vielleicht schon wieder unterwegs.

Er wusste, dass von einem der oberen Stockwerke ein Quergang in das Hauptgebäude verlief und machte sich auf die Suche danach. Vorsichtshalber klopfte er an den Türen, bevor er sie öffnete. Einige waren ohnehin verschlossen. Er stieß schließlich auf einen Gang, der wieder an zwei Türen endete. Da niemand auf das Klopfen reagierte, öffnete er die erste zügig, stellte aber sogleich fest, dass es die falsche sein musste. Dieses Zimmer war bewohnt; auf dem Tisch, den er als erstes erblickte, stand eine halb gepackte Satteltasche und der Mann, der sich daran zu schaffen machte, blickte zu ihm auf. Er hatte ihn ein paar Mal flüchtig in der Burg gesehen. Keiner von den Winianern. Das wusste er. Irgendein Verbündeter vermutete er. Die Winianer hatten einige Kontakte nach Abhaileon hinein, wie sie behaupteten. Ein harter Mann, das hatte er schon von weitem gesehen. Doch jetzt, als er ihn in der Tür stehen sah, malte sich Unglauben und etwas wie Bestürzung auf dem unvertrauten Gesicht.
Das veranlasste Robin, sich nicht einfach mit einer Entschuldigung zurückzuziehen. „Darf ich eintreten?“ fragte er. Da er auch darauf keine Antwort erhielt, tat er es einfach und zog die Tür hinter sich zu.

„Mein Name ist …“, begann er.
„Ich weiß, wer und was Ihr seid“, antwortete der andere mit einem rollend-schleppenden Akzent.
„Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich habe“, sagte Robin einfach. „Asrain folgt meinen Schritten meist mit großer Anhänglichkeit. Ich weiß auch nicht, wer oder was Ihr seid. Aber ich brauche ein paar Antworten. Die dringendste ist: Wo ist Béarisean von Sliabh Eoghaí?“
„Das ist vermutlich kein großes Geheimnis mehr“, sagte der andere zögernd. „Er ist auf Corimac mit dem Rest des abhaileonischen Heeres. – Ich bin Pat.“
Robin atmete erleichtert auf. „Er lebt also wirklich“, sagte er. „Preis und Dank dem König !- Und Ihr. Ihr arbeitet mit den Winianern zusammen. Haltet Ihr sie also für vertrauenswürdig?“
Pat lachte kurz auf. „Da könnt Ihr eher noch mir vertrauen. Was ich Euch, ehrlich gesagt, nicht empfehlen möchte. – Ich denke, jetzt hätte ich das Recht zu einer Gegenfrage.“
„Mehr als fair“, stimmte Robin zu. „Was ist es, das ich Euch sagen könnte?“
Pat wandte sich abrupt von ihm ab. „Wir sollten nicht miteinander sprechen“, sagte er dann. „Geht!“
„Ihr hattet eine Frage“, beharrte Robin. Er fühlte, dass in dem anderen ein Kampf tobte.

Pat sah ihn nicht wieder an, sondern fing an seine Tasche weiter zu packen. Doch schließlich war die letzte Schnalle angezogen und Robin wartete immer noch schweigend an der Tür.
„Alandas“, begann Patris und brach wieder ab. Eine weitere Minute verging. „Die dort.“ Wieder schwieg er, um sich dann schließlich doch noch durchzuringen. „Inwieweit ...“ Auf dem Flur klangen schnelle Schritte auf.
Robin und Pat wechselten einen Blick und beide sahen, dass der jeweils andere den Atem anzuhalten schien.

„Asrain“, vermutete Robin missmutig. Er hauchte den Namen nur.
Aber Pat schüttelte den Kopf. „Schlimmer“, flüsterte er zurück. Sein Blick wurde wieder hart und seine Stimme laut. „Geht! Ich wiederhole mich ungern.“
„Entschuldigt“, sagte Robin. „Ich war nur auf der Suche nach dem Übergang und dachte ...“ Er hatte die Hand auf der Klinke und wandte sich halb um, als die Tür von außen geöffnet wurde. „Wir begegnen uns letzthin oft“, begrüßte er Akan. „Ist dies hier also der Übergang zum Hauptgebäude?“ Er nickte in Richtung der zweiten Tür.
„Das ist er“, sagte Akan höflich. „Ihr kennt Herrn Erendar?“
Robin schüttelte den Kopf. „Nicht einmal diesen Namen“, sagte er.  „Ich suchte den kürzesten Rückweg von der astronomischen Kuppel und wählte die falsche Tür.“
„Beeilt Euch besser“, meinte Akan. „Euch sucht Eure Kusine. Vermutlich wartet sie jetzt auf Euren Zimmern. Ich versprach, mich nach Euch umzusehen, während ich meinerseits versuchte, Herrn Erendar aufzustöbern, der schon länger erwartet wird.“
„Sie hätte bei Asrain nachfragen sollen“, meinte Robin trocken.
Akan lächelte flüchtig. „Das hat sie sogar. Aber Lord Asrain ist etwas indisponiert heute morgen und daher mit seinen Verpflichtungen ein wenig im Verzug.“
„Und wer erwartet mich so dringend?“ erkundigte Pat sich. „Unser Aufbruch ist erst für in einer halben Stunde anberaumt, soweit ich mich erinnere.“

Robin hörte die Antwort nicht mehr. Der Rest des Weges war leicht zu finden, und er hatte eigentlich jeden Grund, nun besserer Laune zu sein. Béarisean war in der Nähe, und Isabell wartete auf ihn. Nun sollte sich eigentlich alles richten. Doch irgendwie wollte keine Freude aufkommen. Es war, als wäre eine unwiederbringliche Chance vertan worden, dort oben bei Pat. Doch er wusste nicht welche. Vielleicht hätte er nach Hibhgawl fragen sollen. Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Alandas war es gewesen, über das Pat hatte reden wollen. Dieser Pat, der sagte, er solle ihm nicht vertrauen, und ihm dann in zwei kurzen Sätzen mehr Aufschluss gab als alle winianischen Lords in Wochen.
Schwungvoll öffnete er die Tür zu seinen Zimmern und sah seine Kusine am Fenster stehen. „Isabell“, begann er, „wie gut, dass wir uns endlich doch noch ...“ Sie hatte sich lächelnd zu ihm umgedreht. Sie trug Reitkleidung; das tannengrüne Kleid, mit dem sie schon in Carraig angekommen war und das so ausgezeichnet zu ihren dunkelroten Haaren passte. Aber was sie in den Händen hielt, ließ ihn erbleichen. „Der Bogen Colins“, sagte er flach.
Isabell lachte glücklich. „Ja, der Bogen Colins. Weißt du, dass Elianna ihn damals zu Colin von Donnacht brachte, bevor die große Schlacht geschlagen werden konnte? Ich werde kein Schwert aus Alandas brauchen.“
„Wie kommst du dazu?“ fragte Robin besorgt.
„Er war hier auf Carraig“, begann sie.
„Ich weiß“, sagte Robin hart. „Etwas ist damit nicht in Ordnung. Béarisean wollte ihn nicht anrühren.“
„Béarisean ist verschwunden“, wandte Isabell ein.
„Béarisean ist auf Corimac“, entgegnete Robin. „Wenn jemand das Recht hätte, diesen Bogen zu benutzen, dann er. Bring ihn zurück, wo du ihn her hast.“

„Jetzt hör mal“, sagte Isabell ärgerlich. „Der Bogen ist schon seit Jahren im Besitz des Fürsten. Er hat ihn gesichert, weil er eine wichtige symbolische Bedeutung hat. Es geht jetzt darum, Abhaileon zu retten und man hat befunden, dass es passend sei, dass ich, die ich Elianna nicht unähnlich bin, ihn jetzt trage, bis die Entscheidung fällt. Es ist ja kein reiner Zufall, dass ich hierher gekommen bin.“
„Nein, es war eine geplante Entführung.“
„Ja. Gut. Das war es. Aber warum?“
„Sicher nicht, weil es außer dir keine rothaarigen Frauen hier gibt!“ sagte Robin aufgebracht. „Du hättest dich aus dieser ganzen Geschichte besser herausgehalten. Es war schlimm genug, dass ich hierin verwickelt wurde. Jetzt muss ich mir noch zusätzlich Sorgen um dich machen!“
„Ach? Herzlichen Dank! Aber spar dir die Sorgen. Ich kann bestens selbst für mich sorgen“, Isabell kam allmählich in Fahrt. „Du sitzt hier nur herum und bemitleidest dich selbst, weil deine Vorstellungen sich nicht verwirklicht haben. Du benimmst dich absolut unleidlich gegenüber allen hier, gleich wieviel man sich um dich bemüht. Du sperrst dich aus Gründen, die nicht einmal du selbst formulieren kannst dagegen, helfend einzugreifen. Du lässt lieber ein ganzes Land in den Krieg gleiten als etwas zu tun.“
„Und du“, rief Robin zornig, „bist irgendwann im Verlauf dieser Wochen größenwahnsinnig geworden und willst Elianna sein. „Du hast überhaupt keine Ahnung, was hier gespielt wird! – Und du bist kein Ritter des Königs! Dieser Bogen zählt gar nichts.“
„Du willst es mir nur nicht gönnen!“ schrie sie zurück. „Was wenn dir der Bogen angeboten würde?“
„Ich brauche keinen Bogen. Ich habe mein Schwert!“
„Eben. Aber du setzt es nicht ein! Darum komme ich als Ersatz!“
„Lass die Finger davon! Und außerdem, Elianna trug eines der drei Schwerter.“
„Vielleicht bekomme ich noch eines. Deine zwei Mitkämpfer scheinen ja genau so zu versagen wie du!“
„Nur der König hat das Recht, diese Schwerter zu vergeben!“

„Der König“, antwortete Isabell trocken. „Mag sein. Aber er tritt ja nicht selbst in Erscheinung. Er spricht nicht so, dass jemand es hören kann. Ríochan ist dir gegenüber als sein Dolmetscher aufgetreten, wenn man es genau betrachtet. Vielleicht hat Barraid ja dasselbe Recht.“
„Hat Akan dir das weisgemacht?“
„Unsinn. Ich brauche ja nur hinzuhören, um mir ein Bild machen zu können.“
„Ein vollkommen einseitiges Bild. Du hörst nur, was diese Winianer sagen.“
„Na und. Es sind schließlich gebildete und vernünftige Leute. – Und Akan ist der intelligenteste Mensch, dem ich je begegnet bin.“
„Aha!“
„Was soll das bitte sehr heißen?“
Robin verschränkte die Arme. „Er war gestern nach Mitternacht auf deinem Zimmer!“
„Ich weiß wirklich nicht, was das dich angeht!“
„Aha!“
Isabell war fast sprachlos vor Wut. „Deine Anspielungen sind das allerletzte!“
„Welche Anspielungen?“ wollte Robin kühl wissen. „Ich habe nur ‚aha’ gesagt.“
„Aber wie du es gesagt hast!“ fauchte Isabell. „Du bist nur neidisch oder eifersüchtig oder beides! Weil er besser ist als du! In ziemlich allem! Er kümmert sich wenigstens um mich.“
„Dann verschwinde doch zu ihm!“ Robin bedauerte diese Worte fast augenblicklich. Er wusste, dass es falsch war, sich hier weiter anzugiften und Vorwürfe zu machen. Er wusste, dass sie ruhig miteinander hätten reden sollen. Dennoch konnte er nicht mehr das einmal eingeschlagene Gleis verlassen. „Irgendwann wirst du schon merken, dass er nur deiner Geltungssucht schmeichelt. Spätestens wenn er dich fallen lässt, weil du deinen Zweck erfüllt hast. Aber wenn du die Erfahrung brauchst. Nur zu! Für mich machst du sowieso nur alles schwerer!“ Zum Teufel auch. Das stimmte alles. Es war die absolute Wahrheit. Vielleicht kapierte sie es ja nur, wenn man sie so frontal darauf stieß. Irgendeine innere Stimme meldete zwar Proteste gegen diese Argumentation an, aber inzwischen war er zu wütend, um darauf zu hören.
Statt etwas zu entgegnen, sah ihn Isabell eine Weile nur schweigend an. In ihren Augenwinkeln glitzerte es etwas. Kein Zorn, obwohl auch der auf ihrem Gesicht lag.  Dann ging sie an ihm vorbei zur Tür. „Dann wäre ja alles klar“, sagte sie sehr ruhig. „Gut für dich, dass wir uns sowieso eine Weile nicht mehr sehen.“ Der Knall mit dem die Tür ins Schloss fiel, strafte den ruhigen Tonfall Lügen.

Robin blieb stehen, wo er war. Sie hatten sich noch nie gestritten. Noch nie. In ihrem ganzen Leben nicht. Sie hatten nicht einmal Geheimnisse voreinander gehabt. Ihre Freundschaft war so selbstverständlich gewesen, dass er nie auch nur viel darüber nachgedacht hatte.
Er ging an den Tisch, nahm eine einfache Tonschale, von der es hunderte in der Burg gab, hob sie hoch und ließ sie mit Wucht auf die Steinfliesen fallen. Sie zerbrach in ein paar große Teile und etliche kleinere Scherben. Eine Weile betrachtete er sie. Dann ließ er sich auf die Knie nieder, sammelte die Bruchstücke ein und setzte sie provisorisch aneinander. Es blieben Lücken. Feine Lücken, die als winzige Bruchstücke über den Großteil des Zimmers zerstreut lagen. Vorsichtig legte er die großen Scherben auf den Tisch, und begann die kleinen Trümmer einzusammeln. Nach einer Weile gab er es auf. Es würde einen Besen brauchen, und selbst dann mochten sich noch eine Weile lang immer wieder kleine Splitter finden lassen.

Er setzte sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Noch nie war die Einsamkeit auf Carraig so bitter erschienen. Denn jetzt würde sie selbst dann andauern, wenn er zurück nach Arda kommen sollte. Es gab nicht viele gute Freundschaften. Vielleicht würden sich auch hier die großen Scherben noch einmal zusammenfügen lassen. Doch die kleinen Splitter niemals. Etwas war auf immer zerbrochen. Wohin Isabell jetzt wohl aufbrach? Er hatte sie nicht einmal danach gefragt. Sicher begleitete sie Akan und jenen Pat, in dessen Zimmer er so unerwartet geraten war. Es war unwahrscheinlich, dass die Winianer vorhatten, sie in Kampfhandlungen zu verstricken, eher irgendwelche politischen Manöver mit dem Bogen des Drachentöters. Béarisean würde sich sicherlich auf nichts davon einlassen.
Er wünschte, er selbst wäre jetzt im Lager auf Corimac. Ohne Zweifel im Herzen. Im Einsatz für Abhaileon, im Auftrag des Fürsten von Alandas, als Ritter des Königs. Mit Carraig und seinem Fürsten als dem finsteren Gegner und Béarisean und jenem tollkühnen Hauptmann aus Croinathír an seiner Seite. Ob Dorban auch dort war? Es wäre gut gewesen zu wissen, dass er Cardolan nicht für nichts und wider nichts hatte durchleben müssen.
Auf Corimac stand mittlerweile ein Heer. Das war ihm mitgeteilt worden. Und in Eannas weit im Süden tobte ein Bürgerkrieg. Das war schon länger bekannt. Der Fürst behauptete, dass das der erste Vorbote von weiteren Bürgerkriegen und Rebellionen war, die bald im ganzen Land aufflammen würden. Er hätte Pat auch dazu befragen sollen. Oder vielleicht gelang es ihm noch, mit einem der anderen Abhaileoner in Carraig zu sprechen. Es waren nicht viele, und die anderen hätte er nicht einmal vom Sehen her gekannt. Natürlich waren sie mit den Winianern verbündet, aber jede noch so geringe Information würde ihm wertvoll sein.

Dieser elende Streit gerade eben. Warum hatte er Dinge gesagt, von denen er wusste, dass er sie nicht aussprechen sollte? Warum hatte er sie in einem Tonfall gesagt, der ein Zerwürfnis geradezu heraufbeschwor? Es war wie ein Rausch gewesen. Auch wenn er mit vielem, vielleicht allem, Recht gehabt hatte, es war falsch gewesen, es auszusprechen. Das sah er jetzt ein.  Es war, als dränge ein unheilvoller Einfluss ihn in den letzten Tagen ständig, das Falsche zu wählen. Während er eine Entscheidung traf, schien alles ganz klar und logisch zu sein. Doch sobald die Entscheidung gefällt war, blieb ein übler Nachgeschmack, ein Unbehagen, das er nie zuvor gekannt hatte.

So im Sitzen konnte er nicht nachdenken. Es half immer, dabei hin und her zu gehen. Und er musste herausfinden, was in den letzten Tagen so entscheidend anders gewesen war. Sorgfältig versuchte er die genauen Abläufe zu rekonstruieren. Es hatte zweifellos an jenem Nachmittag begonnen, als sie zu der ersten Besprechung mit dem Fürsten gerufen worden waren. Bis dahin war Isabells Anwesenheit trotz aller anderen Probleme eine Erleichterung gewesen, aber seitdem stand sie auf der Seite der Winianer, wie es schien. Welche Ironie. Er war es doch, der Barraid trotz seiner eigenen Vorbehalte mehr Vertrauen versprochen hatte.
Sein Blick fiel nach draußen und er blieb stehen. Die Wolken hatten sich verdichtet und doch drang direkt über Carraig, genauer gesagt über dem Höhenrücken, an den sich die Festung schmiegte, das Sonnenlicht wie Speere von Lichtbündeln durch. Ein Strahl verirrte sich sogar bis in sein Zimmer, brach sich an etwas und malte einen kleinen Regenbogen an eine Wand.  Eine Erinnerung regte sich. Säulen von farbigem Licht in der Halle in Bailodia an einem Morgen in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben. Die Sehnsucht dorthin zurück war wie ein tiefer Schmerz, so übermächtig, dass er alles andere vergaß und sich dort an dem Fenster auf die Knie sinken ließ und wartete bis Worte aufstiegen, die dem, was in ihm brannte, Ausdruck geben konnten.
„Mein König“, sagte er schließlich. „ich kann dein Licht nicht sehen, ich kann deine Gegenwart nicht fühlen. Aber du bist da. Ich weiß es. Mein König, ich brauche deine Hilfe. Ich sehe nichts mehr klar. Ich weiß nicht mehr, was wirklich um mich herum geschieht. Bitte zeige mir die Richtung. Bitte! Ich fühle mich so einsam und verlassen.“ Müde stützte er die Stirn gegen den Fensterrahmen und wartete auf eine Antwort. Irgendeine Antwort. Selbst als seine Knie anfangen wollten zu schmerzen, beachtete er es nicht. Er hielt den Schmerz in seinem Herzen dagegen und die andere Wahrnehmung verblasste im Vergleich. Er brauchte eine Antwort. Er brauchte sie so notwendig wie die Luft zum Atmen! „Wenn es möglich wäre“, flüsterte er in die Stille hinein, „würde ich aufhören zu atmen, würde den Schmerz in den Lungen gegen den Schmerz in meinem Herzen halten, aber ich weiß, dass ich dann nur die Besinnung verlieren würde, und nichts würde sich ändern. Sprich, mein König, sprich, was immer du willst. Aber sprich!“
Langsam, sehr langsam fühlte er eine Änderung kommen. Wie Kühlung in der Hitze, wie Balsam auf einer Wunde, wie Wärme in der Kälte. Er überließ sich dem Eindruck, versuchte sich ihm ganz hinzugeben.

„Eine seltsame Art zu schlafen.“ Das war Asrains Stimme. Robin brauchte einen Moment, um sich wieder ganz über die Situation klar zu werden. Vielleicht war er wirklich dabei eingeschlafen gewesen nach der vorangegangenen kurzen Nacht. Er hob den Kopf und fühlte, dass die Mauerkante einen Abdruck auf seiner Stirn hinterlassen haben musste. Schmerz flammte in seinen Beinen auf, als er aufstand, doch er zwang sich, ihn zu ignorieren. Er erwartete ein spöttisches Lächeln auf Asrains Lippen zu sehen. Aber der Lord wirkte auch nicht gerade, als sei dies einer seiner besten Tage. Er schien fast bedrückt. Dennoch flammte Zorn in Robin auf. „Ihr könntet nächstens anklopfen! Ihr stört!“
Asrain machte eine beruhigende Bewegung. „Ich habe angeklopft. Ich wollte mich nur noch vergewissern, dass Ihr wirklich nicht da seid.“
„Worum geht es?“ fragte Robin müde und ohne sich für die Heftigkeit seiner vorigen Worte zu entschuldigen. „Ist es auch für mich an der Zeit aufzubrechen? Ich hatte heute morgen den Eindruck, es sei so weit.“
Asrains Blick wurde aufmerksamer. „Noch nicht ganz. In fünf Tagen vermutlich. Seine Hoheit wollte Euch deswegen sprechen.“
„Sagt ihm, ich sei indisponiert“, sagte Robin gleichgültig.
„Es wäre unklug ...“, begann Asrain.
„Wäre es das?“ unterbrach Robin ihn kühl und doch heftig. „Gibt es für mich noch kluge Entscheidungen? Soll er doch die Maske endlich fallen lassen. Es wäre mir recht. Was soll ich denn fürchten? Den Tod? Manchmal scheint mir, ich lebe nicht mehr seit Cardolan!“
Asrain schüttelte den Kopf. „Wir hatten gehofft, Ihr vertrautet uns inzwischen mehr. Ich habe ungeschickt formuliert. Bitte habt das Entgegenkommen, dem Wunsch des Fürsten zu entsprechen!“
„Nein“, sagte Robin. Seine Stimme war wieder farblos. „Nicht jetzt.“ Er setzte sich auf einen der zwei Stühle am Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. „Es wäre für mich wenig sinnvoll, gerade jetzt ein Gespräch zu führen. Ihr werdet mich entschuldigen müssen.“
Auch der Lord schien jetzt verärgert. Er beherrschte sich jedoch. „Ganz wie Ihr wünscht!“ Mit einem letzten missmutigen Blick ging er.

Robin legte die Arme auf den Tisch und ließ den Kopf darauf fallen. „Alles zerbricht“, sagte er leise. Und nie berührte er auch nur das Schwert an seiner Seite.
Es dauerte nicht allzu lange, bevor er erneut gestört wurde. Er hörte das kurze Klopfen an der Tür, aber antwortete nicht. Erst als geöffnet wurde, sah er auf. Es war Barraid selbst, der zu ihm kam.
Barraid schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. Er betrachtete den Ritter eine Weile schweigend. Seine Augen war dunkel und unergründlich wie stets. Robin begegnete dem Blick ohne jede Regung. Eigentlich sah er durch den anderen hindurch, als wäre er nicht da. Weder richtete er sich ganz auf, noch nahm er die Arme vom Tisch.
„Was ist der Grund für soviel Niedergeschlagenheit?“ erkundigte Barraid sich schließlich.
„Warum sollte Euch das interessieren?“ gab der Ritter zurück. „Ihr wolltet mir etwas mitteilen?“
„Das wollte ich. Darf ich Platz nehmen?“
Robin zuckte die Schultern. „Es ist Eure Burg.“
„Ihr seid mein Gast“, sagte Barraid, als er ihm gegenüber saß. „Nicht ganz freiwillig, dass will ich nicht abstreiten. Dennoch mein Gast und was die Verhältnisse in Abhaileon angeht, stehen wir an Rang annähernd auf einer Stufe.“
„Als nächstes sagt Ihr noch, wir seien fast Freunde“, entgegnete Robin bitter.
„Freunde.“ Der Fürst schien darüber nachzudenken. „Freundschaft kann auf vielerlei Art definiert werden. Manchmal ist es nur das Gegenteil von Feindschaft. In manchen Sprachen bezeichnet es eine Art von Verwandtschaft. Manchmal ergibt es sich auch einfach daraus, dass beide Parteien dem gleichen Ziel dienen.“
„Und trifft auch nur eines davon hier zu?“ gab Robin zurück.
„Ihr hattet mir ein Minimum an Vertrauen zugesagt.“
„Ich sagte, ich wolle auf sinnloses Misstrauen verzichten“, korrigierte Robin. „Béarisean ist auf Corimac! Warum wurde mir das nicht mitgeteilt, wenn wir doch angeblich so gute Verbündete sind?“

„Wenn es das ist, was Euch belastet“, Barraid schien erleichtert. „Lord Lùg brachte gestern die Nachricht, als er von einem Treffen mit einem der abhaileonischen Fürsten zurückkehrte. Sollte er es Euch direkt erzählt haben?“ Der Fürst runzelte die Stirn. „Ich hatte es Euch eigentlich selbst mitteilen wollen. Gestern Abend war es schon spät. Doch da ich wusste, wie sehr Euch daran liegt, von seinem Schicksal zu erfahren, ließ ich Euch bei erster Gelegenheit zu mir rufen. Und als Ihr ausrichten ließet, Ihr seid unpässlich, beschloss ich, Euch selbst aufzusuchen. Nun, war es Lùg?“
„Nein“, sagte Robin verwirrt. „Jemand anderes.“
„Es tut auch nichts zur Sache“, meinte der Fürst leichthin. „Wie kamt Ihr denn darauf, die Nachricht solle Euch verschwiegen werden?“
Robin spürte, dass ihm das Blut ins Gesicht stieg. „Genau genommen hatte ich darüber noch nicht viel nachgedacht. Ich war nur aufgebracht, weil es eine Art Allgemeinwissen zu sein schien und ich nichts davon wusste, und bevor ich genauer nachforschen konnte, wurde meine Aufmerksamkeit anderweitig abgelenkt.“
„Ah“, sagte Barraid. „Besteht da ein Zusammenhang, dass Lady Isabell aus der Fassung wirkte, als sie heute morgen aufbrach? Ich wechselte ein paar letzte Worte mit Lord Akan, da fiel es mir auf.“
„Es besteht ein Zusammenhang“, sagte Robin abweisend, „und es ist eine vollkommen private Angelegenheit.“
„Dann entschuldigt, dass ich es erwähnte.“

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