Donnerstag, 15. September 2011

Kapitel 31.1


XXXI Verlorene Gefechte

Morgen also. Und unter Akans Aufsicht. Patris war auf diesen Ritt nicht gerade erpicht. Sie hatten ihm immer noch nicht gesagt, was genau sie noch von ihm wollten. Doch es konnte nichts Gutes sein. Er lachte trocken. Ganz sicher konnte es nichts Gutes sein. Akan selbst war gekommen, um ihm ein paar Instruktionen zu geben. In der Hauptsache, dass er sich von der Ardanerin fernhalten sollte. Er hatte die junge Frau bisher kaum beachtet gehabt.  Anfangs war sie meist in der Begleitung des ardanischen Ritters gewesen, aber letzthin war sie öfters allein unterwegs oder mit Akan. Er hatte sie mit ihm lachen sehen. Dummes Kind. Sie hätte kaum eine schlechtere Wahl treffen können.
Mitternacht war schon vorüber. Doch der Schlaf floh ihn in diesen Tagen oft, und er war es leid, auf seinem Bett zu liegen und vor sich hinzugrübeln. Da war nichts, an dem er noch etwas ändern konnte.
Er trat ans Fenster. Die Nacht war hell genug. Der Bergkamm über ihm zeichnete sich scharf und schwarz gegen den Sternenhimmel ab. Der Friedensrücken – so hatte man ihn vor langer Zeit genannt. Damals als Carraig noch nicht stand. Er fragte sich, wer jener Fonntroda wirklich gewesen war, von dem die Sagen erzählten. Ein Zauberer behaupteten manche, aber er hatte Zweifel daran. Dennoch, es wäre interessant, den Ort dort oben einmal aufzusuchen. Bisher hatte er es nie getan. Warum nicht jetzt, da er hoffentlich nie mehr hierher zurückkehren würde.

Sein Gehen wurde von einigen bemerkt, aber niemand kommentierte es. Selbst die Frage der Wache am Burgtor klang eher routinemäßig. Sie wussten, wie gut sie ihn in der Hand hatten. Der Aufstieg war nicht allzu schwer. Der Pfad, zu schmal, um für Pferde geeignet zu sein, bot einem schwindelfreien Wanderer keine großen Herausforderungen. Er erreichte das kleine Plateau noch vor dem Morgengrauen.
Es war ein seltsamer Ort. Dunkler Zauber stritt mit anderen Mächten, die älter waren. Er musste fast bis an den Rand der Klippe gehen, bis er die Stelle erreichte, an der Peadar ermordet worden war. Sie war leicht auszumachen. Von dort aus konnte man des Tags wohl auf die Mündung der Fraochklamm hinabblicken. Jetzt waren die Schatten noch zu tief, als dass er da unten viel hätte erkennen können. Er wandte sich um und widmete den steil über ihm aufragenden Klippen etwas mehr Aufmerksamkeit. Hier war dem Augenschein nach kein Übergang nach Alandas, unzugänglich erschienen diese Felsabstürze. Kein Spalt darin zu sehen. Doch damals war der Fürst von Alandas zu Farin, Fonntroda und Fíanael hinzugetreten. Halis hatte davon erzählt, als sie nach Imreach kam. Von diesem und vielem anderen, das anderswo längst vergessen war. Auf das meiste hatte er nicht gehört, aber jene Geschichte hatte ihn interessiert. Die Grenze, wenn auch unpassierbar, konnte nicht weit sein.

Ein Teil des alten Fluchs war immer noch spürbar dort, wo das Verbrechen geschehen war. Hätte er viel Furcht gekannt, er wäre wohl davor zurückgewichen. So jedoch ging er ganz heran. Er setzte sich in die Hocke und berührte den Boden mit den Fingerspitzen. Die Erinnerung lebte noch in der Erde, auf die das Blut geflossen war. Er begann, ohne nachzudenken, Worte zu murmeln und unterbrach sich erst, als er begriff, dass er nicht auf die Schatten blickte, die sich vor ihm verdichteten, sondern auf die hohe Felswand, von wo der Fürst von Alandas damals gekommen sein musste. Er erwartete halb, dort ein weißes Leuchten zu sehen. Ein unsinniger Gedanke. Nichts, was zu Alandas gehörte, konnte je beschworen werden. Nur die Dunkelheit antwortete auf solche Worte, das Licht jedoch nie.
Er nahm die Hand vom Boden, die Schatten waren ohnehin schon wieder vergangen. Die Vergangenheit war ihm gleichgültig; sie konnte kaum finsterer sein, als das, in dem er jetzt lebte. Doch den  Blick von jenen Felsen zu reißen, die nun in der beginnenden Dämmerung immer deutlicher sichtbar wurden, schien mehr Kraft zu erfordern, als er gerade aufbringen konnte. Langsam stand er auf. Er hatte nie vor gehabt, an diese Wand heranzutreten. Wozu auch? Doch Schritt für Schritt trugen ihn seine Füße näher. „Ich will mich nur überzeugen, dass da nichts ist als Fels“, sagte er sich selbst. Erst ein paar Armlängen davor blieb er stehen.

Er sprach nicht laut, aber dennoch drängten die Worte auf seine Lippen. „Wo bist du, Fürst von Alandas? Damals hättest du nur Sekunden früher zu kommen brauchen, um alles zu verhindern, aber du warst nicht da. Oder warst du da und sprachst nicht, bevor es geschehen war?“ Er lachte. „Heute wäre es auch besser, du kämst jetzt, um mich aufzuhalten. Hier bin ich, so nahe vor der Grenze deines Landes. Vielleicht könntest du deine Ritter retten, wenn du jetzt handeln würdest. Für den einen, den sie dort auf Carraig haben, könnte es ohnehin zu spät sein.“ Er verzog das Gesicht ein wenig. „Ich habe meinen Teil daran nicht gerade gern getan. Ich versuche nur einen der beiden anderen vor denen dort unten zu retten. Und jetzt sieht es aus, als werde das auch noch auf Kosten des dritten von ihnen und einiger anderer gehen. Es gefällt mir nicht. Nur habe ich wenig Wahl darin, wenn ich etwas für diesen verrückten Dalinianer tun will.“

Rodil war aus dem Schatten der Felswand getreten. Akan war in dieser Nacht auf den Ebenen unterwegs, und keine der Mächte dort auf Carraig schien sonderlich auf der Hut zu sein. Immer noch war da etwas, das ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Er studierte Patris aufmerksam, während dieser sprach. Es war offensichtlich, dass Patris ihn seinerseits nicht wahrnehmen konnte. Rodil machte sich nicht viele Hoffnungen, etwas erreichen zu können, doch er streckte die Hand aus und berührte den Imreacher leicht. „Sieh!“ sagte er leise.
Es überraschte ihn fast, als Erendar tatsächlich innehielt und die Stirn leicht runzelte, als bemühe er sich, etwas wahrzunehmen. „Einer von Euch anderen?“ fragte Patris schließlich sehr leise.
„Ich spreche für Fürst Ríochan“, sagte Rodil.
„Ich kann dich kaum hören“, sagte Patris selbst kaum hörbar und blickte spähend, während er sich umwandte und dann auf einen Felsblock setzte. Es war offensichtlich, dass er Rodil nicht ausmachen konnte. „Was werdet ihr tun?“
„Unserem Herrn dienen“, sagte Rodil. „Doch, was die Ritter angeht. Ihr Schicksal liegt nicht in deiner Hand. Weder im Guten noch im Bösen.“
„Du scheinst einiges nicht zu wissen“, bemerkte Patris.
„Du wirst Ciaran nicht helfen, wenn du den Herren auf Carraig dienst“, sagte Rodil so eindringlich er es unter den gegebenen Umständen vermochte. Er wusste, seine Stimme war kaum mehr als ein leiser Lufthauch für Erendar. „Doch um deiner selbst willen, beende deine Zusammenarbeit mit dem Feind!“
„Welche Garantien habe ich für das, was du da sagst?“ fragte Patris ruhig zurück.

Rodil antwortete nicht sofort. Er fühlte, dass Akan auf dem Weg zurück war und er hier nicht länger bleiben durfte. „Frage den Ritter!“ sagte er. „Lerne zu sehen, statt blind zu sein!“
Patris wusste es sofort, als die fremde Gegenwart verschwunden war. Etwas hatte den anderen vertrieben, schien es. Dessen Rat hatte nicht schlecht geklungen, doch leider war er nicht umsetzbar. Und dann,  konnte er den Alandern überhaupt trauen? Und welchen der Ritter sollte er fragen? Diesen Anno? Dafür war es zu spät; noch heute morgen würde er selbst Carraig verlassen. Er würde ohnehin nur Verdacht erregen, wenn er versuchte, mit dem zu sprechen. Ciaran? Wenn er den nur endlich sähe! Er hatte viele Fragen für ihn.
Es war an der Zeit, nach Carraig zurückzukehren. Langsam ging er zurück zur Klippenkante, hinter der der Abstieg begann. Als er sich dem Ort des Mordes wieder näherte, verschlug es ihm für einen Augenblick fast den Atem. Er hob erstaunt den Kopf. Er konnte sich kaum entsinnen, dass ihm das Dunkel je so finster erschienen war. Selbst der Blick auf Carraig weiter unten ließ ihn frösteln. Jetzt, da er es bedachte: Etwas hatte ihn berührt, dort an den Felsen, bevor er die kaum wahrnehmbare Stimme hörte und etwas wie ein Flimmern in der Luft gelegen hatte. „Lerne zu sehen“, hatte der Fremde gesagt. Es war ein Rätsel. Denn er sah doch schon immer so viel mehr als andere!

Er kam kurz vor Sonnenaufgang in Blickweite des Burgtores und sah Akan, der gerade selbst dort angekommen war. Dieser hatte sein Pferd angehalten und blickte kurz in Erendars Richtung, bevor er es weitergehen ließ. Patris hörte auf zu denken. Die Aufmerksamkeit dieses Lords war immer und unter jeder Bedingung gefährlich, und manchmal grenzten seine Fähigkeiten an Gedankenlesen.
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„Ich habe ich mich jetzt endlich klar genug ausgedrückt?“ erkundigte sich der Fürst gelassen.
„Vollkommen, Gebieter“, beeilte Asrain sich hervorzubringen. Derzeit hatte er nur noch einen einzigen Wunsch, auf den er sich konzentrierte: hier zu entkommen.
„Weitere Missverständnisse würde ich zutiefst bedauern“, versicherte Barraid.
Asrain dachte nicht einmal die sarkastischen Antworten, die ihm darauf normalerweise eingefallen wären. „Eure ... Ausführungen ließen keinen Raum für Unklarheiten, Herr.“
Barraid nickte langsam und wandte sich Ingro zu, der immer noch bleich und starr geradeaus blickend in der Nähe des Einganges stand. „Du kannst jetzt gehen“, sagte er. „Du reitest heute mit Akan. Er wird sicherlich Aufgaben für dich haben.“
Er beachtete die tiefe Verbeugung des Entlassenen nicht weiter, sondern richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Lord. „Ingro wird mit Akan nach Arda gehen, sobald das hier erledigt ist“, teilte er ihm mit. „Und bis zur Erledigung der Angelegenheit hier wünsche ich nur Diensteifer, Kooperationsbereitschaft und beflissensten Einsatz unter meinen Dienern zu sehen. Sollte jemand dagegen verstoßen, wünsche ich Euren sofortigen Rapport, Kommandant!“
Asrain duckte sich noch tiefer. „Ich bürge dafür, Gebieter.“
„Schick mir Lùg!“, befahl Barraid gleichgültig und ging zu seinem Schreibtisch. Nachdenklich überflog er dort noch einmal ein paar der Aufzeichnungen Fíanaels, die in einer aufgeschlagenen Mappe dort lagen.
Obwohl ihm der Fürst den Rücken zuwandte, hielt Asrain es für angebrachter, den Raum unter einer Reihe von Demutsbezeigungen zu verlassen. Als er die Tür hinter sich hatte schließen können, blieb er kurz stehen und holte zitternd tief Atem. Draußen dämmerte es bereits, wie er jetzt bemerkte. Doch es schien ein trüber Tag zu werden. Noch immer fiel es ihm schwer, klare Gedanken zu fassen. Das Dringlichste jedoch war leicht zu erledigen; Lùg befand sich in einem der Vorräume und schien die Vitrinen dort eingehend zu studieren.
„Seine Hoheit wünscht deine Anwesenheit“, teilte Asrain ihm mit. Seine Stimme war vollkommen neutral, vielleicht ein wenig leiser als sonst.
Lùg warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Ich hörte dich gar nicht kommen. Das heißt, ich bemerkte, dass jemand sich näherte. Doch, wie soll ich sagen, du scheinst nicht ganz du selbst.“
Asrains Finger zuckten kurz, als wollten sie sich zur Faust ballen. Doch sein Gesicht zeigte keine Regung. „Ich habe zu tun“, sagte er flach.
Lùg bedauerte zutiefst, dass er diesen Augenblick mit niemandem teilen konnte. Es war einer seiner größeren Triumphe.

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