Sonntag, 4. September 2011

Kapitel 22.1


XXII Hindernisse

Der Hinterhalt traf Ciaran unvorbereitet. Ein wenig lag es sicher auch daran, dass er erschöpft und müde war und jeder einzelne Knochen in ihm zu schmerzen schien. Der Nachmittag war einschläfernd warm gewesen und schon seit Stunden hatte er kein menschliches Wesen mehr gesehen. Den Mantel hatte er weggepackt. Gegner erwartete er nur hinter sich. Ein einzelner Reisender sollte nichts zu befürchten haben, dachte er.  Als der Reiter vor ihm sein Pferd aus den Büschen lenkte, wollte er nur routinemäßig zur Seite ausweichen. Der andere jedoch hob die Hand. „Halt!“ befahl er hart. Seine linke Hand lag am Schwertheft. Ciaran betrachtete ihn genauer. Der Reiter trug Gearaids Farben. Etwas an seiner Kleidung und seiner ganzen Haltung, legte den Verdacht nahe, dass er zu einer Art Garde gehören musste.
Ciaran hielt seinen Fuchs an. Der ausgeruhte Dunkelbraune  des Mannes sah nicht aus, als habe er schon einen längeren Verfolgungsritt hinter sich.  „Was wünscht Ihr?“ fragte er höflich. Nur der Sicherheit halber nahm er die Zügel in die linke Hand, um gegebenenfalls mit der Rechten schneller an sein Schwert zu kommen.
Der andere musterte ihn ausführlich von unten bis oben. „Ein schönes Pferd“, sagte er. „Ein bemerkenswertes Schwert, und dazu noch ein teurer Ring. – Andererseits genug Schrammen und Beulen für einen Tavernenschläger, und die Kleidung allenfalls Mittelstand.“ Er nickte. „Das dürfte Beweis genug sein. Ergib dich!“

„Beweis wofür?“, erkundigte Ciaran sich ruhig. „Dass Eannas keine Provinz ist, die ein Reisender unbehelligt durchqueren kann? Da stimme ich Euch in der Tat zu. Aber ich weiß mich zu verteidigen.“ Er legte die Hand auf das Schwertheft.
„Noch eine Bewegung, und es könnte deine letzte sein“, entgegnete der andere kalt. Er gab einen Wink, und  drei Bogenschützen traten aus den Büschen hervor. Ihnen folgten zwei weitere Männer, die die Pferde führten, aber selbst die Hand an der Waffe hatten.
„Auf dem Gebiet welcher Lordschaft  befinde ich mich gerade?“ wollte Ciaran wissen.
„Die Hand von der Waffe“, sagte der andere. Es schien klüger zu tun, was er wollte.
„Ich wüsste dennoch gerne, was mir vorgeworfen wird“, beharrte Ciaran. „Ihr alle tragt die Farben von Eannas, daher gehe ich davon aus, dass Ihr keine Banditen seid!“
„Wir nicht“, sagte der Anführer der Gruppe grimmig. „Aber wir wissen sehr gut, was es bedeutet, wenn sich hier verdächtige Fremde herumtreiben.“
Ciaran war verwundert. „Ihr glaubt, ich sei ein Verbrecher?“
„Du wirst in Serinim wegen Diebstahls und Unterstützung der Rebellen zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte der andere lakonisch.

Serinim – das war ein Name der Ciaran hoffen ließ. „Ihr tragt nicht die Farben von Serinim“, sagte er.
„Vielleicht bist du wirklich fremd“, entgegnete der andere, „oder verstellst dich gut. Nur die Männer der Lords selbst tragen ihre Farben, alle anderen regulären Truppen haben die Farben von Eannas.“
„Aber Ihr steht zu Lord Serinim?“
Der andere betrachtete ihn misstrauisch. „Was soll das heißen?“
„Nichts“, sagte Ciaran. „Ich bin wie gesagt fremd und neugierig, mehr zu erfahren. Wie loyal steht Ihr zu Lord Serinim?“
Der Mann lachte auf. Dann wurde sein Blick noch härter. „Das dürfte wohl der plumpeste Versuch sein, den Wilgos bisher gemacht hat. Wer du auch bist und wer immer dich auch schickt. Der Galgen wartet schon auf dich.“ Die Blicke der anderen waren auch feindselig geworden.
„Ich bestehe darauf, Lord Serinim selbst zu sprechen“, erklärte Ciaran. „Wir sind miteinander bekannt.“
Der andere zögerte wieder. „Lord Serinim ist nicht hier.“
„Ich weiß. Er war in Escail. Doch vermute ich, dass er dort nicht mehr lange bleiben wird.“
„Ich sehe keinen Grund, Euch zu trauen.“ Dennoch gebrauchte er jetzt die höflichere Anrede.
„Ich verstehe“, sagte Ciaran. „Ich bin einverstanden, dass Ihr Sicherheitsmaßnahmen ergreift. Wenn Ihr darauf besteht, so fesselt mich. Doch rate ich Euch dringend, Lord Serinim auf der Stelle zu verständigen! Dies ist wichtig.“
„Sagt mir Euren Namen!“
„Nein“, sagte Ciaran entschieden. „Sagt ihm nur, der Ritter mit dem grünen Ring lasse zu ihm schicken.“
„Nun gut“, gab der Anführer der Bewaffneten nach. „Ihr behaltet Euer Schwert, aber lasst Euch die Hände fesseln und einer meiner Männer führt Euer Pferd.“
„Einverstanden“, nickte Ciaran. Er fragte sich, wie es um die Loyalitäten dieser Männer wirklich stand. Besonders sobald Nachrichten aus Escail kamen. Vielleicht kamen auch die Nachrichten vor dem Lord. Was dann? Wenigstens ritten sie weiter in die Richtung, in die er ohnehin wollte, weg von Escaile und tiefer in den Wald.

Er hätte sich den Kopf gar nicht erst über seine Lage zerbrechen müssen. Als sie etwa eine Stunde unterwegs waren, schrie der Mann, der Doitean führte, plötzlich auf, ließ die Zügel fallen und fasste an seinen linken Arm, aus dem der Schaft eines Pfeiles ragte. Alle griffen nach ihren Schwertern, als weitere Pfeile trafen. Einer streifte den Hals des Fuchses und er stieg laut wiehernd, bevor er losgaloppierte. Ciaran, dessen Hände auf den Rücken gefesselt waren, hielt sich nur mit Mühe im Sattel und kämpfte immer noch  um seine Balance, als ihn ein Ast streifte, der ihn endgültig den Halt verlieren ließ. Der Sturz war nicht schlimm und das Pferd blieb kurz darauf stehen, als er es anrief.
Er kam auf die Knie und erhaschte einen Blick auf die Kampfszene hinter sich. Die Angreifer waren deutlich schlechter bewaffnet und trainiert aber in der Überzahl. Zwei der Männer Serinims waren gefallen, aber der Anführer und die beiden anderen würden entkommen, wie es schien. Sie waren noch zu Pferd und kurz davor, von dem Kampf losbrechen zu können. Er wollte aufstehen, aber eine Stimme hinter ihm befahl: „Bleib, wo du bist.“ Er fühlte spitzes Metall in seinem Nacken.
Wieder blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Doitean, der Fremde zwar nicht mochte, aber ungern aus der Nähe seines Reiters wich, kam mit vorgestreckten Ohren langsam näher.
„Und wer seid Ihr?“ fragte Ciaran mit leichter Resignation in der Stimme den Unbekannten hinter ihm.
„Maul halten“, war die einzige Antwort, die er bekam.

Währenddessen war Serinims noch lebenden drei Männern die Flucht gelungen. Die Leichen der anderen wurden gefleddert, ihre Pferde eingefangen und ein paar Männer der siegreichen Gruppe kamen in Richtung Ciarans. Sie sahen nicht gerade vertrauenserweckend aus. Die Kleidung war meistenteils schlecht geflickt und auch sonst wirkten die Angreifer nicht sehr gepflegt.
„Langsam“, sagte die Stimme hinter ihm. „Der Fuchs scheut, wenn ihr alle auf einmal anmarschiert und es wäre schade, den zu verlieren.“ Daraufhin blieben alle bis auf einen stehen. Dieser näherte sich vorsichtig, bis er Doiteans Zügel ergreifen konnte. „Was ist mit dem da?“ fragte er dann. Der Fuchs beachtete ihn nicht weiter, er war nur an seinem Reiter interessiert, den er jetzt vor sich hatte.
„Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte der hinter Ciaran Stehende. „Sie hatten ihn gefesselt, aber das muss nicht viel heißen. Und er trägt immer noch sein Schwert.“
„Wer bist du?“ wollte einer aus der Gruppe wissen, die jetzt näher kam.
„Ein Ritter aus Dalinie“, antwortete Ciaran. Es schien nicht erfolgversprechend hier den Regententitel zu nennen oder gar von Alandas zu sprechen.
„Die sind doch einer wie der andere“, rief einer der Männer mit Hass in den Augen. „Mach ein Ende.“
„Richtig“, stimmte ein anderer zu. „Wer solche Reichtümer spazieren trägt, kann nicht ehrlich an sie gekommen sein.“ Er spuckte vor Ciaran aus und trat mit dem Fuß gegen die Schwertscheide.
Irgendwie traf das den Ritter mehr, als sei er selbst getreten worden. Er wollte den Kopf heben, um dem anderen in die Augen zu sehen, doch sofort bohrte sich die metallene Spitze tiefer in seine Haut. „Dieses Schwert ist heilig“, sagte er also nur. „Rührt es nicht an.“
Durch das allgemeine Gelächter, fragte der Feindseligste: „Wir sind wohl nicht gut genug dafür, was?“
„Das ist niemand“, sagte Ciaran leise. „Weder ich noch sonst jemand. Doch mir wurde es gegeben.“
„Und was soll daran so besonders sein?“, fragte der hinter ihm Stehende kalt.
„Es ist aus Alandas“, sagte Ciaran. „Das Schwert eines Ritters des Königs.“

Eine kurze Stille folgte. Er machte sich keine Hoffnung, dass sie es glauben würden. Er hätte es vorgezogen, all das überhaupt nicht zu sagen. Aber dieser Tritt gegen das Schwert war ihm erschienen wie ein Tritt gegen alles, wofür es stand.
„Es wäre Serinims Leuten schon zuzutrauen, dass sie ...“ begann jemand zögernd, aber seine Worte gingen in lautem Johlen unter.
„Du solltest dir etwas Besseres einfallen lassen“, sagte der Anführer der Gruppe verächtlich. „Hältst du uns für so primitiv? Wir mögen es nicht, wenn hohe Herren Scherze mit uns treiben.“
„Dann lasst es genug sein, dass ich aus Dalinie komme und nach Ruandor will und lasst mich gehen.“
Der Anführer lachte wieder. „Gehen? Vielleicht. Aber das Pferd, das Schwert und alles andere bleiben hier.“
„Das Pferd“, Ciaran zögerte. „Ich kann ohne das Pferd weiter. Aber das Schwert hat keinen Wert für Euch und für den Ring stehe ich ein  mit meinem Leben.“
„Ring?“ fragte der Anführer.
„Großer grüner Stein und Gold“, antwortete der Mann hinter Ciaran.
„Ich sage immer noch, bringt ihn gleich um die Ecke“, beharrte der Hasserfüllte.
„Vielleicht sollten wir abwarten, was Rudin sagt“, entgegnete der Anführer, „er kennt sich besser aus mit diesen Angelegenheiten. Vielleicht ist der da jemand ein Lösegeld wert. Töten können wir ihn immer noch, wenn es nötig ist.“
„Rudin von Orthai?“ fragte Ciaran, der den Namen wiedererkannte. Das war vielleicht die Lösung. Rudin erkannte vielleicht das Siegel von Abhaileon wieder. Vielleicht hatte sein Vater, es ihn gelehrt wie. „Mactirs Sohn?“
„Genau der“, antwortete der Anführer.
„Er kann das hier vielleicht wirklich entscheiden“, sagte Ciaran. „Bringt mich zu ihm!“
Der Anführer nickte wortlos, was Ciaran nicht sehen konnte. „Keine Befehle von dir!“ sagte der Mann hinter dem Ritter. Das spitze Metallstück wurde aus Ciarans Nacken genommen und dann musste ihn ein Schlag getroffen haben, denn ihm wurde schwarz vor Augen.

Diesmal war es die rechte Seite des Kopfes, die mehr schmerzte. Auch als das Bewusstsein zunahm, konnte er nichts sehen. Aber er fühlte die Bewegung eines Pferdes unter sich. Seine Hände waren vermutlich an den Sattelknauf gefesselt, die Beine unter dem Bauch des Tieres hinweg zusammen gebunden. An seiner Seite fehlte ein vertrautes Gewicht. Aber der Druck des Ringes am Finger war noch da. Wie im Kerker von Escail. Das hieß, dass nichts ganz verloren war. Das war keine frische Luft an seinem Gesicht. Sie mussten ihm irgendetwas über den Kopf gezogen haben, vermutlich damit er nicht sah, wohin sie unterwegs waren. War es schon Nacht? Selbst unter einem Sack hätte er sonst etwas sehen sollen. Um ihn nur leise Huftritte und noch leiseres Quietschen und Klirren von Sattelgeschirr. Dann ein Eulenschrei. Es war wohl wirklich Nacht. „Doitean?“ flüsterte er.
Sofort antworteten ein leises Wiehern und ein gezischter Befehl: „Halt das Vieh ruhig!“
Jemand bemerkte. „Er scheint wach zu werden.“
Ein anderer fluchte leise und dann musste ein neuerlicher Schlag gekommen sein.

 Jedenfalls war es Tag, als er wieder erwachte, und er lag auf dem Boden einer Art Hütte aus verflochtenen Ästen und Zweigen. Er versuchte sich auf die Seite zu rollen, es ging nicht. Er lauschte eine Weile, in der Nähe schienen Menschen zu sein. Draußen vor dieser Hütte. „Wo bin ich?“ fragte er laut, aber es kam keine Antwort. Ihm wurde noch etwas klar. Man hatte ihm alle Kleider genommen. Nur gut, dass das Wetter schon recht warm war. Er rief lauter. Es dauerte eine Weile, aber schließlich kam jemand herein. Er erkannte den Anführer der Gruppe wieder. Er sagte: „Du brauchtest lange, um aufzuwachen. Wir befürchteten schon, der letzte Schlag sei zu hart gewesen.“
„Dafür habt ihr nichts dem Zufall überlassen. Ich kann kein Glied rühren.“
Der Mann zuckte die Achseln: „Wir können kein Risiko eingehen.“
„Wann kommt Rudin?“
„Er wird schon kommen.“
„Warum ließt ihr mir den Ring?“
Der Mann verzog den Mund. „Es sah so aus, als sei er nicht von deinem Finger zu bekommen, ohne dir unumkehrbaren Schaden zuzufügen. Wir warten Rudins Entscheidung ab.“
„Und hier begreift niemand, wofür das Siegel steht?“
„Wofür soll es denn stehen?“
„Ihr glaubt es mir ohnehin nicht: Es ist der Regentenring Abhaileons.“
Der andere lachte wieder. „Gestern war es noch Ritter des Königs.“
„Das auch“, antwortete Ciaran resigniert. „Wisst Ihr, selbst im Kerker von Escail hatte ich mehr Bewegungsfreiheit.“
„Du hast ein Talent zum Geschichtenerzählen. – Die Regeln hier sind einfach: Verhalte dich still, dann bekommst du Wasser und Nahrung. Sei dankbar, dass du lebst. Vielleicht ist es nicht mehr lange.“
„Das ist meine geringste Sorge“, begann Ciaran. Doch der andere verließ ihn ohne ein weiteres Wort.

So vergingen weitere zwei Tage. Fast die ganze Zeit war er an die Pflöcke am Boden gefesselt; an ein Verlassen der Hütte war nicht zu denken.  Er fühlte die Verzweiflung in sich langsam anwachsen.  Und da war die bittere Ironie, dass er der  erbitterten Feindschaft in Escail so leicht entkommen war, während ihn hier etwas fast wie Gleichgültigkeit gefangen hielt. Wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass er immer noch den Ring trug, er wusste nicht, ob er die Hoffnung bewahrt hätte. Es war auch so schwierig genug. Dann am Morgen des dritten Tages geschah das schon fast nicht mehr Erhoffte.

Rudin war fünfundzwanzig Jahre alt. Er erinnerte sich noch an seinen Großvater und die Zeit vor dessen Ermordung. Er war sich stets bewusst gewesen, dass es kein Zurück zu dieser Zeit geben konnte. Nur eines Tages hatte er die alltäglichen Demütigungen, denen die Familie ausgesetzt war, nicht mehr ertragen können. Er hatte die Gerüchte gehört, dass es Rebellen gegen Gearaid gebe, auch wenn niemand Genaues sagen konnte. Ohne mit jemandem darüber zu sprechen, war er eines Nachts davongeschlichen. Er irrte lange durch die Wälder und weniger besiedelten Gegenden, einem Gerücht nach dem andern folgend und nach mehreren Monaten Suche war er auf die ersten gestoßen. Weit im Süden und Westen der Provinz. Es war ein armseliger Haufe gewesen, als er dort ankam. Rebellen? Ein verschüchterter Haufen von Flüchtlingen, der am Rand der Existenz dahinvegetierte.
Er hatte schnell die Leitung übernommen. Nach und nach waren sie auf weitere Grüppchen gestoßen, nach und nach waren sie besser organisiert worden. Nach und nach wurden sie wirklich zu Aufständischen. Sie blieben vorsichtig, aber sie lernten zuzuschlagen. Leider waren sie nie an die großen Gegner herangekommen. Und als es ganz allmählich auch unter den Lords von Eannas von gären begann, waren die ersten behutsamen Kontaktierungsversuche in Rudin auf einen Verhandlungspartner gestoßen, den alle anerkennen konnten. Leider war dabei sein Name mit durchgesickert, und die Lage seines Vaters hatte sich verschärft.
Doch jetzt schienen die Zeichen mehr als günstig. Es waren Aufsehen erregende Nachrichten, mit denen er zurückkehrte. Er hatte seinen Begleitern befohlen, nichts zu verraten, bevor er selbst sprechen würde. Aber angesichts der Neuigkeiten, die sie brachten, bezweifelte er, dass sie es ganz befolgen würden.

Raomhain, sein Stellvertreter, empfing ihn schon vor dem Lager. „Wir machten uns allmählich Sorgen um dich! Du hättest schon vorgestern zurück sein sollen!“
„Mein Vater hat endlich Vernunft angenommen und ist untergetaucht“, erklärte Rudin. Er schulterte seine Satteltasche, sein Reittier wurde bereits weggeführt. „Ich habe ihm geholfen. Ganz aus dem Hintergrund. Besser wenn wir uns noch nicht wieder begegnen. Aber sie sind jetzt alle sicher.“ Sie gingen in das Lager hinein. „Wie ist es hier gelaufen?“
„Wir haben uns eine Patrouille Serinims vorgenommen, wie geplant. Leider haben wir nur zwei erwischt und einen Gefangenen, den sie dabei hatten. Er verlangt dich zu sehen.“
„Das wird er früh genug. Ein Neuer also. Taugt er etwas?“ Er erwiderte die Grüße, die von allen Seiten kamen.
Raomhain blickte verlegen. „Er, nun. das war kein gewöhnlicher Gefangener, sondern so einer von den Herren. Er behauptete aus Dalinie zu sein. Sie hatten ihm das Schwert nicht abgenommen. Also war er auch kein richtiger Gefangener.“
„Wer ist er also?“ fragte Rudin gelangweilt. In Gedanken feilte er an seiner Rede. Er musste es ihnen klar vor Augen führen, welche Gelegenheit sich hier bot. Einige von ihnen würden es nicht sehen sonst.
„Er will nicht mit der Sprache heraus. Stattdessen macht er die wildesten Behauptungen. Einmal ist er ein Ritter des Königs, einmal der Regent von Abhaileon ...“

Rudin war stehen geblieben. Er war blass geworden unter seinem dunklen Vollbart. „Ritt er einen Fuchs? Hatte er ein smaragdbesetztes Schwert und einen Ring mit grünem Stein?“
„Ja, genau“, sagte Raomhain verwundert. „Du weißt also, wer das ist?“
„Ich befürchte ja“, sagte Rudin langsam. „Ich hoffe, ihr habt ihn gut untergebracht!“ Er wollte jetzt noch nicht anfangen, über die wichtigsten  Ereignisse zu sprechen, nicht bevor alle versammelt waren. „Um nur eines zu nennen, er hat meiner Familie gegen Renad beigestanden.“
„Nun ja. Das konnten wir ja nicht wissen.“ Raomhain berichtete. Rudins Gesichtsausdruck versteinerte immer mehr. „Ihr habt was?“ flüsterte er schließlich nach einigen Sätzen. Raomhain war noch nicht zu Ende und wollte weiter sprechen. „Ihr habt was?“ rief Rudin schneidender. „Gebt ihm sofort alles zurück, was sein Eigentum ist und dann fangt an zu beten, das etwas die Katastrophe verhindert, die ihr heraufbeschworen habt.“
„Katastrophe?“ Raomhain begriff nichts.
„Du wirst bald verstehen“, sagte Rudin grimmig. „Sofort, sagte ich. Lauf!“ Er selbst rannte zu der ihm genannten Hütte. Er holte einmal tief Luft, bevor er die Tür öffnete. Es war so schlimm, wie er befürchtet hatte.
„Ich bitte um Vergebung“, sagte er hastig, während er das Messer zog und sich hinkniete, um die Fesseln aufzuschneiden. „Euch wurde großes Unrecht getan.“ Der Dolch war scharf, die Arbeit war schnell getan. Er riss seinen Mantel von den Schultern und reichte ihn dem Fremden. Er berührte den schmutzigen Verband an dessen linker Seite kurz mit Fingerspitzen. „Geht das auch auf das Konto meiner Leute?“ fragte er mit gesenktem Kopf und gepresster Stimme.

Ciaran setzte sich auf und begann, seine Gelenke zu reiben. „Nein. Das nicht. Obwohl es Zeit ist, diesen Verband loszuwerden. Wie er aussieht, dürfte er inzwischen mehr schaden als zu nützen. - Rudin, vermute ich?“
„Ja“, Rudins Stimme war belegt, „und Euer Name ist Fírin? Ich sah meine Schwester kurz. Was sie von Euch erzählte ...“ Er schluckte. „Entschuldigt mich einen Augenblick!“
Er stand auf und stürzte wieder nach draußen. Ein paar Männer standen neugierig in der Nähe. „Bringt Waschwasser! Verbandszeug! Auf der Stelle! Und alles andere! Wo bleibt Raomhain, verdammt noch mal!“ Seine Stimme hallte durch das sonst so stille Lager.
Er duckte sich wieder hinein, kniete wieder bei dem Ritter nieder, der dort noch saß. „Das ist alles ...“ Er suchte nach Worten.
„... höchst unglücklich verlaufen?“ schlug Ciaran vor.
„Höchst unglücklich“, bestätigte Rudin. „Ihr seid der Regent?“
„Euer Vater schien überzeugt genug.“
„Orthai hat Euch Treue geschworen. Der Eid gilt auch für mich. Ich schwöre, dass auch ich Euch in allem zur Verfügung stehen werde. Wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann?“
„Ich bin nicht ganz reisebereit, wie Ihr seht.“
„Raomhain muss jeden Augenblick hier sein. Es wird Euch alles zurückerstattet werden. Ihr erhaltet jede Genugtuung, die ich leisten kann. Nur ...“

Er sprang wieder auf und riss die Tür auf. „Raomhain!!“ Um die Hütte sammelte sich allmählich eine Schar von Neugierigen. „Wo bleibt das Wasser?“ bellte er in ihre Richtung.

Dann sah er Raomhain endlich kommen. Er lief ihm entgegen, nahm ihm einen Teil der Gegenstände ab. „Ist das alles?“ verlangte er.
„Nein, da ist noch das Schwert und ein paar Sachen aus den Satteltaschen. Was ist denn in dich gefahren?“
Rudin nahm ihm an der Tür auch noch die letzten Gegenstände ab. „Besorge sofort alles andere! Sofort!“
Er stolperte wieder hinein und legte die Kleidung und anderen Gegenstände sorgfältig ab. Die blauen Augen des fremden Ritters studierten ihn unterdessen eingehend. Er sagte kein Wort, was Rudin sehr beunruhigte. Währenddessen trafen auch das Wasser und andere Utensilien ein. „Euer Schwert kommt sofort!“ versicherte Rudin.
Ciaran nickte. „Vielleicht solltet Ihr dort draußen ein paar Dinge erklären?“ schlug er vor.
„Ja. Ja, das sollte ich. Wenn Ihr nicht ...  Ich wollte sowieso einiges Wichtige bekannt geben. Es sei denn ...“
„Geht jetzt“, sagte Ciaran. „Ich werde nach draußen kommen.“
„Wie Ihr befehlt“, Rudin verbeugte sich und hastete wieder nach draußen.

Inzwischen war fast das gesamte Lager dort versammelt. Er winkte allen, noch näher zu kommen. Dann begann er zu erzählen, was sich vor vier Tagen in Escaile zugetragen hatte. Als er die Schilderung der Nacht des Vulkanausbruchs beendet hatte, erschien Raomhain endlich mit dem Schwert. Rudin unterbrach sich sofort. „Nennst du das schnell?“ schalt er ärgerlich. „Hast du wenigstens zugehört, was geschehen ist?“
„Deswegen dauerte es ja länger“, murrte Raomhain. „Ich habe nur ein paar Kleinigkeiten verpasst.“
„Dürfte ich jetzt mein Schwert zurückhaben?“ sagte eine ruhige befehlsgewohnte Stimme hinter ihnen.
Rudin riss den Schwertgürtel aus Raomhains Händen und drehte sich schnell herum. Der Ritter hatte sich die Zeit genommen, sich zu rasieren. Er sah noch immer etwas mitgenommen aus, aber die Autorität in seiner ganzen Haltung war unverkennbar. Vielleicht nicht für Raomhain, dachte Rudin bitter, als er die wenigen Schritte zur Tür der Hütte zurücklegte und niederkniete. „Regent“, sagte er und bot dem Ritter sein Schwert.
Ciaran blickte ihn kurz schweigend an, dann dankte er mit einem Nicken und nahm die Waffe an sich. Immer noch ohne Wort, schnallte er den Schwertgürtel um.
Rudin war sich unsicher, wie er sich verhalten sollte. Peinlich fing nicht an, diese ganze Situation zu beschreiben. Und da standen sie noch alle verständnislos herum. Raomhain kratzte sich verwundert am Kopf. Rudin drehte sich halb zu ihnen herum, erhob sich auf ein Knie. Es wäre effektiver gewesen aufzustehen, aber er wagte es nicht. Sie waren kompromittiert genug durch das, was geschehen war. „Falls ihr es immer noch nicht begriffen habt“, verkündete er mit schwankender aber lauter Stimme. „Dies hier ist der Ritter, wegen dem Gearaids Burg in Trümmern liegt. Der, auf dessen Wort hin der Vulkan ausbrach. Ciaran von Firin, Regent von Abhaileon und Ritter des Königs selbst.“

Es dauerte selbst dann noch, bis das Begreifen durchsickerte. Raomhain sah sich noch immer hilflos um, als die ersten hinter ihm schon anfingen niederzuknien.
Rudin blickte auf, als Ciaran seine Schulter berührte. „Wir sollten miteinander sprechen. Erhebt Euch!“
„Was wird nun mit uns geschehen?“ fragte Rudin leise und gebrochen, ohne sich zu rühren. „Was hier passiert ist, war ein Frevel.“
Der Ritter berührte leicht sein Schwertheft. „In gewissem Sinne war es das. Doch dies hier ist ein dunkles Land, in dem dunkle Dinge geschehen. Die Absicht Eurer Männer war weder gut noch böse, nur den Umständen entsprechend. Sorgt Euch nicht. Euch wird kein Übel geschehen.“ Er nahm eine Hand Rudins und dieser ließ sich nach oben ziehen. „Wir müssen über ein paar Dinge sprechen, bevor ich Euch verlasse. Doch vielleicht ...“ Er lächelte flüchtig, „kann ich zuerst nach meinem Pferd sehen? Ich bin ein wenig um es besorgt. Der Fuchs ist ein Geschenk, dessen Wert nicht in Geld zu messen ist, aber manchmal etwas schwierig. Orla von Fuacht würde es mir wohl sehr übel nehmen, wenn ich mich nicht gut um ihn kümmere.“
„Euer Pferd“, sagte Rudin verwirrt. „Sicher. Ganz, wie Ihr wünscht.“ Er ging einen Schritt rückwärts, bevor er sich umdrehte. Raomhain hatte tatsächlich doch noch den Weg auf seine Knie gefunden, obwohl er immer noch verständnislos aussah. „Was ist mit dem Pferd des Regenten?“ fragte Rudin mit angestrengter Geduld.
„Vielleicht solltet Ihr Euren Leuten vorschlagen, aufzustehen“, bemerkte Ciaran.
„Ihr habt es gehört“, sagte Rudin mit einer ungeduldigen Handbewegung, „Steht auf!“
Dann wandte er sich Raomhain zu. „Was ist nun mit dem Pferd? Habt ihr es ähnlich behandelt wie seinen Reiter?“
„Das lag nicht an uns!“ verteidigte Raomhain sich im Aufstehen. „Zuerst hat es sich aufgeführt wie ein Teufel und dann hat es kein Futter mehr angerührt.“
„Es sind nur knapp drei Tage“, sagte Ciaran. Da war eine kaum wahrnehmbare Note von Anspannung oder Zorn in seiner Stimme jetzt. „Der Fuchs ist stark – oder habt Ihr ihn töten lassen?“
„Natürlich nicht“, sagte Raomhain. „wir wollten ihn noch teuer verkaufen!“

Es stellte sich heraus, dass der Hengst in einem engen Verschlag untergebracht war. „Wartet“, befahl Ciaran in einigem Abstand davon und ging allein dorthin. Die Beine des Fuchses waren zusammengebunden, wohl um zu verhindern, dass er sich verletzte bei seinen zornigen Versuchen sich zu wehren. Futter und Wasser waren vorhanden aber nicht angerührt. Mit gesenktem Kopf und zitternd stand er da.
„Doitean?“ sagte Ciaran leise, als er die Tür öffnete. Der Hengst bewegte ein wenig die Ohren aber zitterte weiter. Behutsam löste Ciaran seine Fesseln und begann ihn zu bürsten und zu streicheln. „Das wird wieder, mein Freund“, flüsterte er ihm zu. Dann sprach er weiter beruhigend auf ihn ein.
Nach etwa einer Viertelstunde hob Doitean langsam den Kopf und wieherte sehr leise, vorsichtig stieß er Ciaran an, dann senkte er die Nase in den Wassereimer und begann zu trinken. Als er nach einer halben Stunde herausgeführt werden konnte, drängte er sich dicht an seinen Reiter.
Rudin wartete noch immer mit Raomhain. Letzterem warf Ciaran einen zornigen Blick zu. „Sollte Orla hiervon je hören, wird er vermutlich den weiten Weg von Fuacht nicht scheuen, um Euch etwas über die Behandlung von edlen Pferden beizubringen“, sagte er.
„Ich habe ein Essen richten lassen, Herr“, sagte Rudin. „Dabei könnten wir sprechen.“
„Der Hengst ist empfindlich“, sagte Ciaran, „und noch vollkommen traumatisiert. Wir werden im Freien essen müssen, damit ich bei ihm bleiben kann.“
„Ganz wie Ihr befehlt“, versicherte Rudin. Er warf Raomhain einen vernichtenden Blick zu.

Sie sprachen, während Doitean zu grasen begann. Er hielt sich ganz in Ciarans Nähe. Manchmal hob er den Kopf mit geblähten Nüstern und begann wieder etwas zu zittern, ließ sich dann aber schnell beruhigen. Ciaran fand etwas Hafer für ihn in seinen Satteltaschen, deren Inhalt inzwischen wieder vervollständigt worden war. „Er ist wie ein Kind“, sagte er zu Rudin hin, während er den Hafer verfütterte, „und nur Freundlichkeit gewöhnt. Während des Vulkanausbruchs auf Escail ist er vollkommen Fremden gefolgt. Er stand friedlich wie ein Lamm neben Lord Berais, als ich ihn erreichte.“
„Es tut mir mehr als leid, was hier geschehen ist.“ Rudin war ehrlich niedergeschlagen. „Lord Berais, sagtet Ihr? Es hieß immer, er halte sich zu Lassalle.“
„Genau darüber müssen wir sprechen. Einige der Lords von Eannas haben mir Treue versprochen. Andere würden es jederzeit tun, hatten jedoch keine Gelegenheit unter dem Umständen.“
„Wer war es außer Berais? Rieken von Lesick? Ich würde vermuten, dass er sofort zu Euch stünde.“
Ciaran schüttelte den Kopf. „Arnim von Lassalle. Ingvar von Rensdal. Otho von Serinim.“
„Alles Lassalles Leute“, sagte Rudin und schüttelte den Kopf. „Was auch immer sie damit bezweckten, Ihr solltet ihnen nicht trauen. Lassalle insbesondere. Er ist absolut skrupellos. Ich weiß, dass es Gerüchte gibt, er habe sich damals für meinen Großvater eingesetzt, aber das stimmt nicht. Er hat das nur ausgenutzt, um seine Machtbasis zu erweitern. Serinim ist seitdem auf seine Seite gedriftet. Nicht dass der sonst für viel taugte: er hat meinem Vater nie geholfen. Und Rensdal,“ er lachte trocken. „das dürfte der kaltblütigste Verbrecher in Eannas nach Lassalle selbst sein. Berais ist da noch der Harmloseste, aber auch der ist schon über Leichen genug gegangen. Glaubt mir, Herr, die ändern sich nicht über eine Nacht. Nicht einmal über eine solche wie die des Vulkanausbruchs.“

„Für alles, was vor jener Nacht geschehen ist, gilt meine Amnestie“, erklärte Ciaran fest.
„Herr, mit Verlaub, aber diese Amnestie war ein Fehler – und sicherlich der einzige Grund für ihre Eide. So billig werden sie nie wieder davon kommen“, sagte Rudin zornig. „Wenn Ihr wüsstet, was jeder einzelne von ihnen getan hat!“
Ciaran drehte sich zu ihm um und maß ihn mit einem kühlen Blick. „Ihr habt erklärt, mir Treue zu schulden. Ihr werdet mit ihnen kooperieren, wenn sie mit Euch in Verbindung treten.“
„Ich werde es tun“, sagte Rudin widerwillig. „Doch nur mit großen Vorbehalten.“
„So wie Ihr die Geschichte jener Nacht erzähltet“, sagte Ciaran. „erbebte die Erde, Escails Mauern brachen ein und ich trat in Glanz und Herrlichkeit hervor, ohne dass man mich halten konnte. Das war nicht so. Die Tür meines Verlieses brach bei dem Beben auf, aber ich irrte durch die langen Gänge da unten, bis Lord Lassalle mich fand. Er führte mich durch die Gänge, die Lord Serinim gesichert hatte nach oben. Dort versorgten diese beiden meine Wunden, während Lord Rensdals Rolle eine Art Mischung aus Wachoffizier und Dienstbote war. Sie alle sind entschlossen, ihr mir gegebenes Wort zu halten.“
„Ganz wie Ihr meint“, sagte Rudin ohne Überzeugung. „Warum sollten sie mit mir sprechen wollen?“
„Soweit ich es verstehe, weil sich der ganze Süden von Eannas gegen Gearaid erheben wird. Lord Lassalle wird keine kriegerischen Akte hinter der Frontlinie wünschen.“
Rudin pfiff durch die Zähne. „Vielleicht kann ich meine Leute wirklich von einem Waffenstillstand überzeugen, wenn es dafür Gearaid, Wilgos und Renad an den Kragen geht.“
„Mehr verlange ich nicht“, sagte Ciaran. „Ich bin mir sicher, alles Weitere wird sich ergeben.

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