Samstag, 3. September 2011

Kapitel 19.2


Mit dem ersten Morgenlicht erwachte er. Seine Rechte lag noch immer auf dem Knauf der blankgezogenen Waffe, aber irgendwann musste er sich auf das Bett gelegt haben. Die Klinge schimmerte schon mit den ersten Strahlen der Sonne. Er war immer noch müde, aber seine Gedanken waren wieder klar. „Ich werde Dir Ehre machen, mein König“, sagte er leise, als er die Waffe wieder in ihre Scheide gleiten ließ. Nur wenig später ging er auf den Hof hinaus, wo er sich die Verteidigungsanlagen der Burg näher anzusehen begann. Der Hofmeister fand ihn eine halbe Stunde später auf der seewärtigen Außenmauer.
„Das Frühstück steht bereit“, sagte Terald. „Seid Ihr mit dem Zustand der Burg zufrieden?“
„Die Anlagen sind in gutem Zustand“, sagte Ciaran, während sie hinabstiegen, „doch scheint Ihr derzeit keine Angriffe zu erwarten. Haben die Piraten sich wieder zurückgezogen?“
„Es ist alles wie vereinbart“, antwortete Terald steif.
Ciaran schüttelte unzufrieden den Kopf. „Mehr Vorsicht wäre durchaus angebracht. Auch Croinathír erwartet keinen Angriff, dennoch sind die Wachen stets bereit.“
„Croinathír“, der Hofmeister presste die Lippen  zusammen. „Wird es wirklich Krieg mit der Hauptstadt geben?“
„Ein Krieg scheint mir unvermeidlich“, Ciaran betrachtete ihn aufmerksam. „Vielleicht nicht mit der Hauptstadt ...“
„Ich glaube kaum, dass der Fürst auch noch einem Bundesschluss mit Eannas zustimmt“, sagte Terald noch steifer als vorher. Danach war er sehr wortkarg. Ciaran war dankbar dafür. Auch dieses Gespräch war kurz aber aufschlussreich gewesen. Gegen Ende der Mahlzeit erkundigte er sich nach Finn. Er wollte gerne mit dem jungen Fürsten ein paar Worte unter vier Augen wechseln, aber der Hofmeister konnte oder wollte ihm keine Auskunft geben. Der junge Fürst sei am vorigen Abend noch ins Dorf geritten und wohl noch nicht zurück.

Ciaran entschloss sich nach seinen Pferden zu sehen. Der Wallach schien zufrieden, aber der Fuchs war unruhig, bis er ihn sah. Das Tier wieherte erfreut und drängte sich an ihn, um gestreichelt zu werden. Ciaran lächelte, Orla hatte den jungen Hengst ganz offensichtlich sehr verwöhnt. Er sorgte dafür, dass das Tier ein paar besondere Leckerbissen bekam und verfütterte sie ihm selbst. Als er aus dem Stall trat, sah er gerade noch aus dem Augenwinkel, dass jemand eilig in einer Tür verschwand. Ciaran hatte scharfe Augen, er erkannte Finn. Der junge Mann wollte ihm offensichtlich aus dem Weg gehen – und das sprach unter den Umständen sehr für ihn.
Kurz entschlossen ging er durch dieselbe Tür und sah erfreut, dass es keinen Ausgang gab, nur Stufen, die nach oben führten. Wie sich herausstellte, war es der Aufgang zum Westturm, von dem man weit ins Land hinaus sehen konnte. Der Sohn des Fürsten sass dort oben auf der Plattform jetzt wie in einer Falle fest. Als Ciaran durch die Falltür hinaustrat, lehnte er mit dem Rücken zur Brüstung und blickte ihn feindselig an. „Was wollt Ihr von mir?“ Der Tonfall war auch nicht freundlicher.
Ciaran blieb über der geschlossenen Falltür stehen: „Euch sprechen“, sagte er ruhig. „Und hier scheint ein geeigneter Ort ganz ohne Zeugen zu sein.“ Wie auf den meisten Türmen der Burg stand auch hier keine Wache.

„Ich lasse mich nicht einschüchtern“, erklärte Finn von Sailean trotzig. „Nie werdet Ihr mich zwingen können, an Euren Machenschaften teilzuhaben!“
Ciaran war belustigt. „Ich werde Euch nicht zwingen. Doch vielleicht lasst Ihr Euch überzeugen.“
Finn ballte zornig die Fäuste. „Wärt Ihr nicht Gast hier, ich würde Euch zum Duell fordern!“. Fast spuckte er trotzig aus.
„Das wäre keine gute Idee“, sagte Ciaran ruhig.  „Gleich wie gut Ihr seid, Eure Chancen stünden schlecht. Und wenn Ihr doch siegtet, würdet Ihr es vielleicht bedauern“
„Dann würde ich wenigstens für eine gute Sache sterben“, sagte Finn düster. „Ob durch Euch oder Eure Herren.“
„Ich komme aus Alandas“, bemerkte Ciaran.
„Carraig ist nicht Alandas“, sagte Finn mit schneidender Stimme.
„Sehr richtig“, stimmte Ciaran zu. „Es ist ja auch Fürst Ríochan von Alandas, der mich beauftragte und nicht Fürst Barraid auf Carraig.“
„Ihr lügt!“

Ciaran blickte auf den zornigen jungen Mann und freute sich. „Ich bin ein Ritter des Königs“, sagte er ruhig und legte seine linke Hand leicht auf das Heft seines Schwertes. „Und es scheint, in Sailean ist einiges in Unordnung geraten. Wie steht Ihr zu dem König und zu Alandas?“
Finn blieb ihm die Antwort zunächst schuldig. Sein Blick hatte sich verändert. Verwunderung war an die Stelle von Zorn und Trotz getreten. Verwunderung und Zweifel? Nein, eher Ratlosigkeit und Erstaunen. Dann trat er plötzlich und dennoch langsam einen Schritt zurück. Ciaran nahm die Hand von dem Schwertknauf, er wollte den Jungen nicht erschrecken, und Finn holte tief Luft: „Ihr wart anders eben“, murmelte er. Sein Blick richtete sich auf das Heft der Waffe. „Das ist kein gewöhnliches Schwert, nicht wahr?“ begann er vorsichtig.
Ciaran streichelte mit einem unwillkürlichen Lächeln wieder über das Heft. „Nein, das ist kein gewöhnliches Schwert. Aber werdet Ihr meine Frage beantworten? Wie steht Ihr zu Alandas und dem König?“
„Wenn Ihr es berührt, ist Licht um Euch“, sagte Finn. „Ein gutes Licht wie aus den schönsten, nie erreichbaren Träumen, wie ... Ist das Alandas?“
„Vielleicht“, sagte Ciaran. Er hätte gerne selbst einmal gesehen, wie das aussehen mochte. Doch fragen war unmöglich; er musste souverän auftreten. „Alandas ist voller Licht, und Ríochan ist wie der Inbegriff von Alandas, aber das Licht kommt vom König.“

Finn blickte zu Boden. „Ich habe mich darum nie viel gekümmert“, sagte er vorsichtig. „Es klang so märchenartig.“ Er blickte wieder auf und sein Gesicht war ganz offen. „Aber ich bin froh, dass es wahr ist. Die letzten Jahre waren wie ein Alptraum. Es war nicht direkt Dunkelheit. Mehr wie ein grauer Schleier, der alles immer dichter bedeckte, bis jeder die Richtung verlor.“ Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Doch jetzt seid Ihr hier. Wird sich alles ändern?“
„Das ist möglich“, Ciaran war ernst. „Zuerst muss ich hören, was überhaupt geschehen ist. Sailean hat ein Bündnis mit Carraig, wie es scheint. Wie kam es dazu?“
„Es begann vor fünf Jahren“, sagte Finn. Sein Blick glitt in Richtung des Meeres, kehrte aber schnell wieder zu dem Ritter vor ihm zurück. „Piraten gab es immer wieder, aber im vorhergehenden Winter waren ihre Angriffe häufiger und bedrohlicher gewesen als zuvor.“ Er zuckte die Schultern. „Nichts sehr Beunruhigendes, wie mir damals schien. Vater war stark, und auch seine Lords. Aber dann kam ein Bote. Aus dem Norden, sagte er. Er beharrte darauf, mit dem Fürsten zu sprechen. Ich sah ihn nicht. Er kam spät in der Nacht. Aber ich hörte, er trug schwarze Kleidung. Vater empfing ihn, und es heißt, als er ging, brach schon fast die Dämmerung herein. Und seitdem war alles anders. Vater verließ wochenlang kaum seine Arbeitszimmer, und er wurde – düster.
Nach und nach rief er seine Lords zu sich. Sie kamen besorgt und gingen bedrückt, aber die meisten mit einer Art finsterer Entschlossenheit. Nur einmal gab es eine Auseinandersetzung. Das war, als Lord Ingal kam. Vater und er gerieten beide so außer sich, dass sie laut wurden. Und so erfuhr ich zum ersten Mal mehr. Schon lange versuchte ich zu lauschen, weil niemand mir erklären wollte, was geschehen war. Aber die Gegebenheiten sind nicht günstig und ich konnte nie nahe genug heran, um auch nur ein paar Worte zu überhören. Bis auf jenes Mal. Ich hörte Wortfetzen von Carraig und Schwarzer Fürst und Landesverrat. Vater brüllte einmal: „Zum Teufel mit dem Rat in der Hauptstadt!“ Danach wurden sie wieder leiser. Aber ich versuchte Lord Ingal abzupassen, als er das Zimmer verließ.
„Ihr bleibt doch sicher noch?“ fragte ich. Denn sonst war er ein gern gesehener Gast hier, der sich stets auch Zeit für mich nahm. Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht, Junge“, sagte er. „Fürst Ros ist in Bedrängnis, und wenn es schon sonst niemand tut, muss doch wenigstens ich ihm beistehen.“
„Ich hörte etwas von Carraig“, sagte ich. „Was geschieht hier?“
„Es tut mir leid“, sagte Lord Ingal. „Es ist nicht meine Sache, das hier zu erörtern.“ Er senkte die Stimme fast zu einem Flüstern. „Aber Illaloe wird ein Platz für dich sein, wenn du mehr weißt und anders wählen willst.“ Er wandte sich ab.
„Was soll das heißen?“ rief ich zornig und wollte ihn festhalten. Doch da kam Vater und rief mich zu sich. Ich wußte jetzt genug, um nach und nach mehr zu erfahren. Wir – das heißt Sailean – hat ein Abkommen mit ... mit ...  mit dem Herrscher auf Carraig. Die Piraten verschonen unsere Küste, dafür ignorieren wir – nun, Vater und die anderen Lords – die Not in Roscrea.“

„Aber du gingst nicht nach Illaloe“, bemerkte Ciaran.
„Nein“, Finn wandte den Blick ab. „Nein. Ich ging nicht. Ich ...“ Er zuckte die Schultern. „Da war Mutter. Meine kleine Schwester. Und Vater. Ich rede nicht mehr mit ihm. Seit Monaten. Aber ... Ich dachte vielleicht ... Und was hätte es gebracht. Das ganze Land geht verloren. Dann würde auch Illaloe nicht mehr stehen können. Wozu ein Held sein, wenn es keine Helden mehr gibt ... Nur jetzt ...“
Ciaran blickte ihn abwartend an. Nach einer Weile sagte er: „Der Fürst von Alandas ruft auf zum Krieg gegen Carraig. Die Heere sammeln sich auf Corimac. Dieser Sommer wird die Entscheidung bringen.“
Finn schwieg noch immer und sah zu Boden. Als er schließlich die Augen hob, waren Tränen darin. „Ich möchte mehr sehen von diesem Licht“, sagte er leise. „Erzählt mir von Alandas.“
Ciaran zögerte. „Die Luft ist sehr klar dort“, begann er dann. „Und klar und hell und wahrhaftig ist alles, was dort ist. Ich glaube, keine Lüge kann dort bestehen. Nicht einmal die, die man sich selbst erzählt. Aber es ist leicht, die Täuschungen loszulassen dort. Nur ein kurzer Schmerz und dann findet man das Licht. Es ändert alles.“
Finn hing an seinen Lippen. „Aber hier“, unterbrach er. „Was ist hier? Gibt es hier denn keine Möglichkeit?“
„Ich denke, es gibt eine“, sagte Ciaran. „Aber es ist schwieriger. Du musst zu Alandas und dem König stehen.“
„Nun, es ist jedenfalls wahr“, sagte Finn zögernd. „Ich sehe Euch. Wird Vater es sehen?“
„Das ist nicht sicher“, Ciaran lächelte ein wenig wehmütig. „Doch es gibt etwas anderes, das ihn überzeugen könnte. Er hat den Rat in Croinathír verraten“, Finn zuckte zusammen. „Aber wie tief geht dieser Abfall, würde er sich dem Regenten verweigern?“

„Es gibt keinen Regenten“, begann Finn. „Schon lange nicht mehr. Es sei denn“, er unterbrach sich und seine Stimme wurde atemlos. „Alandas. Der Fürst von Alandas setzt Regenten ein. Ist das ... das Siegel von Abhaileon?“ Er streckte unsicher die Hand in Richtung von Ciarans Siegelring. Als der Ritter nickte, verwandelte sich etwas in dem bisher so unentschiedenen jungen Mann. Ein Lächeln trat  auf seine Lippen. „Regent!“ sagte er und ließ sich auf die Knie gleiten. „Ich habe alle Hoffnung, dass Ihr Sailean retten könnt.“
Das war noch schlimmer als Ciaran befürchtet hatte, aber er kannte seine Pflicht inzwischen. „Steh auf!“, befahl er freundlich. „Ich werde tun, was in meiner Möglichkeit steht. Du meinst, dein Vater wird den Regenten willkommen heißen?“
Finn nickte. „Er und die Lords. Es ist ein Ausweg, den viele ersehnten. Dessen bin ich mir sicher. – Doch selbst wäre dem nicht so. Meine Gefolgschaft gehört Euch. Ich bin nicht der Fürst selbst, aber wenn Ihr sie annehmen wollt?“
„Ich nehme sie an“, sagte Ciaran ernst. „Und mein erster Befehl an dich ist: niemandem aufzudecken, wer ich bin.“
„Ich werde schweigen“, versicherte Finn genauso ernst. „Und ich werde nach Corimac kommen. Doch bis dahin, gibt es noch irgend etwas, das ich tun könnte?“

„Lerne dem König zu dienen“, sagte Ciaran leise. „Nichts ist wichtiger. Wenn du nicht weißt wie, besorge dir die Nife-Sagensammlung, da wirst du Hinweise finden. Oder vielleicht gibt es noch jemanden hier, der darum weiß. Vieles was heute Sage heißt, ist in Wirklichkeit Geschichte.“ Er lächelte. „Mein Held war immer Colin von Donnacht.“
„Efraim war aus Illaloe“, sagte Finn eifrig. „Ich werde mir das sofort noch einmal genauer ansehen. Meine Schwester hat das Buch gerade.“
Er wollte davonstürmen. Aber Ciaran hielt ihn auf. „Warte. Ich gehe zuerst. Folge du mir später. Niemand braucht zu wissen, dass wir uns gesprochen haben.“
Der Ritter verließ den Turm und ging direkt in seine Zimmer. Er brauchte Zeit allein. „Ríochan“, sagte er leise. „Ich bin mir sicher, du hast etwas derartiges vorausgesehen. Zeig mir, was ich tun soll, denn ich sehe keine andere Lösung. Zuerst dachte ich, es seien nur die Dalinianer, die einen der ihren an der Herrschaft sehen wollen, aber das hier geht tiefer. Wenn ich den Anspruch auf den Titel erhebe, wird sich vieles ändern. Aber ist es richtig?“ Er seufzte tief und kniete nieder. „Mein König, bitte zeige mir, was ich tun soll.“ So verharrte er, während die Sonne zum Zenit aufstieg.

Finn verlor keine Zeit. Berit hatte gerade Unterricht und der Tutor blickte erstaunt auf, als der junge Thronfolger ins Zimmer kam. „Ich brauche das Nife-Buch“, erklärte er. „Jetzt gleich.“
Berit lachte: „Märchen? Du? Selbst ich nehme das nicht mehr ernst.“
Finn antwortete nicht sogleich. Es war, als suche er nach Worten. In seinem Blick lag etwas Ungewohntes. „Märchen“, sagte er schließlich ausdruckslos. „Dennoch sind auch darin manchmal wichtige Dinge enthalten.“ Er wandte sich dem Magister zu. Severin war etwa fünfzig Jahre alt und hatte einmal in der Hauptstadt studiert. Er war kein schlechter Lehrer gewesen und stets ein klarer Denker. „Was meint Ihr dazu, Magister? Was könnte ich zum Beispiel für mich Wichtiges lernen von der Person Colin von Donnachts in der Nife-Sammlung?“
„Es sind natürlich stilisierte Darstellungen“, begann Severin zögernd, „aber man könnte ihn sicherlich als ein Beispiel von Mut und Konsequenz unter schwierigen Umständen anführen.“ Er blickte unsicher auf auf den jungen Fürsten.
Finn warf einen Blick auf seine Schwester, die ein Lächeln hinter der Hand verbarg. „Konsequenz hört sich gut an“, sagte er kühl. „Brauchst du das Buch heute noch? Ich brauche ein paar Informationen über die Rolle des Regenten daraus.“
„Hat das mit dem Fremden zu tun, der gestern nacht kam?“ fragte Berit, als sie die Nife-Sagen herausgab. „Irgendetwas ist doch passiert.“
„Fürst Culath wird Aussagen aus diesen Schriften wahrscheinlich nicht als beweiskräftig erachten“, Severin versuchte so neutral zu klingen, dass er seinen Verdacht genauso gut hätte direkt aussprechen können. „Gleich wie gut Ihr Eure Analyse machen mögt.“
Finn nickte. „Ich brauche es nur für mich selbst.“ Er musste an sich halten, um das Buch nicht schon zu öffnen, bevor er sein Zimmer erreichte. Der Regent hatte gesagt, er solle von Colin von Donnacht lernen. Und er war sich sicher, dass dabei auch etwas über Alandas zu lesen gewesen war.

******

Culaths Mine war verdüstert, als er gegen ein Uhr nachmittags auf seine Burg zurückkehrte. Nicht nur sein eigener Begleittrupp folgte ihm. Caoimhian, Rhodin, Tilliff und ein paar andere seiner Lords hatten ihn in Istramhai einen kurzen Tagesritt von hier getroffen. Wichtiger, Ingal ritt an seiner Seite.
„Vielleicht ist es am besten so, wie es jetzt kommt“, der Lord von Illaloe brach endlich das Schweigen, das er seit dem Aufbruch am Morgen gehalten hatte. Er sah müde aus. „Es wird mir leichter fallen, eine Entscheidung zu treffen, wenn ich einen dieser Boten aus dem Norden selbst sehe.“
„Dein Kampf ist schon lange verloren, Ingal.“ Culaths Stimme war rau. „Du könntest dich eine Weile halten, doch wozu? Lass den neuen Herrscher kommen.“ Er senkte die Stimme. „Auch ihn wird man irgendwann wieder abschütteln können.“
Ingal schwieg. Culath wollte nicht hören, dass das Illusionen waren. Schon jetzt schien Sailean in der Hand der neuen Herren zu sein, und sie hatten ihre Herrschaft noch nicht wirklich angetreten. Warum hatte er den Fürsten hierher begleitet? Wenn er sich gegenüber ehrlich war, war es ein Gang in den Tod. Denn er würde Carraig keinen Eid schwören, und das konnte nur einen Ausgang haben.  Ließ er den Illusionen Lauf, dann hoffte er, dass sein Widerspruch vielleicht ein paar der anderen zum Wanken bringen würde. Er selbst war schon alt genug, seine Söhne würden Illaloe halten.

Illusionen. Da war er sich sicher. Einmal hatte er gedacht, Finn von Sailean würde sich der rechten Sache anschließen, würde vielleicht auf irgendeine Weise eine Wendung bringen. Aber Finn war wohl noch zu jung gewesen damals. Wer wusste wie er jetzt dachte. „Die Mittagszeit ist vorüber“, sagte er. „Wirst du ihn gleich empfangen?“ Die Hufschläge ihrer Pferde hallten auf dem Holz der Zugbrücke von Sailean.
Culaths Lippen pressten sich zusammen. Der Fremde war seit gestern hier. Er als Fürst dieses Landes – wieviel auch immer das demnächst noch bedeuten würde - würde nicht in Reisekleidung vor einen Boten treten, der ihn empfangen konnte, als sei er der Hausherr. Doch er durfte den Mann auch nicht zu lange warten lasssen. Wenn das wieder Lord Fíanael wäre – Angst durchfuhr ihn. Es war nicht Fíanael, nur ein Dalinianer. Nur ein Dalinianer, aber gesandt aus dem Norden. Verdammnis! „In einer halben Stunde in der Großen Halle. Ich werde Wasser und Getränke für Euch dorthin schicken lassen. Besser wir bringen es schnell hinter uns.“  Jetzt kam Terald. Er gab ihm alle nötigen Anweisungen, bevor er die Lords im Hof zurückließ.

Es war eine Überraschung, als Finn ihm in den Weg trat. Der Junge hatte ihn letzthin meistens gemieden. Was konnte er jetzt wollen? Er hatte keine Zeit für Szenen. Unwirsch wollte er genau das sagen, aber Finn kam ihm zuvor: „Vater“, sagte er ruhig. – Culath war überrascht, so hatte sein Sohn ihn schon lange nicht mehr angesprochen. – „Ich werde bei dem Treffen mit dem Boten dabei sein. Und ich gebe mein Wort, dass ich“, er zögerte ganz kurz, als müsse er seine Worte wohl wählen, „dir vor ihm keine Unehre machen werde.“
Der Fürst nickte. Er war erleichtert, Finn schien das ernst zu meinen. „Die Unterredung ist in einer halben Stunde“, sagte er.
Finn wartete auf ihn und sie betraten den Saal gemeinsam. Die Lords hatten Gelegenheit gehabt, sich frisch zu machen und einige von ihnen hielten jetzt Becher von Wein in der Hand. Culath nickte Terald zu, der Bote konnte kommen. Er selbst hatte kein Verlangen zu trinken, und akzeptierte nur der Form halber einen Kelch. Finn schüttelte den Kopf, als auch ihm einer angeboten wurde. Culath fiel es immer schwieriger seinen Unglauben zu verbergen: Aisa hatte geklagt, der Junge habe angefangen, zuviel zu trinken und nachlässig zu werden in seinem ganzen Verhalten. Doch sein Benehmen jetzt war mustergültig. Auch keine Spur der Aggressivität mehr, die ihn in den letzten Jahren oft gekennzeichnet hatte.

„Herr Ciaran von Firin“, kündigte Terald an. Ingal stellte seinen Becher zur Seite und richtete sich gerade auf. Alle anderen leisen Gespräche verstummten. Culath fühlte die Anspannung. Auch Finns Blick haftete an der Tür.
Der Bote sah anders aus, als Culath erwartet hatte. Er war – jung, aber sein Auftreten verriet Autorität. Die blauen Augen blickten scharf und seine Kleidung war reich, Edelsteine blitzten auf dem Schwert an seiner Seite.
Er schritt bis kurz vor den Sitz des Fürsten. „Fürst Culath?“ sagte er mit der reinen Andeutung einer Verbeugung. Culath warf einen schnellen Seitenblick auf seinen Sohn. Dieser stand vollkommen ruhig, hatte jedoch den Blick gesenkt. Der Fürst stand auf. „Ihr seid willkommen hier, Herr Ciaran“, sagte er und verbeugte sich ebenfalls knapp. „Welche Botschaft bringt Euch hierher?“
Ciaran drehte sich um und ließ seinen Blick über alle Anwesenden streifen. „Dalinie hat seine Entscheidung getroffen“, sagte er dann. „Wie steht es hier?“

„Firin.“ Es war Ingal, der sprach. „Seit wann tragt Ihr diesen Titel?“  Es war nicht eindeutig auszumachen, doch schien es Culath, dass in seiner Stimme Verachtung lag. Er hatte etwas derartiges befürchtet. Andererseits würde es vielleicht so ihm selbst die Konfrontation mit Ingal ersparen. Wenn Carraig sich darum kümmerte ... Es versetzte ihm einen Stich ins Herz so zu denken, aber er sah keine Wahl.
Der fremde Ritter wandte sich dem Lord von Illaloe zu. Es schien, er hatte den Unterton auch herausgehört. „Lord Ingal?“ erkundigte er sich. Auf ein Nicken hin, antwortete er. „Ich trage diesen Titel seit wenigen Tagen“, sagte er dann. „Eine gnädige Geste des Königs.“

Es war kein Stich, den Culath jetzt fühlte. Kälte wollte sein Herz ergreifen. Er sah auch alle anderen zusammenzucken. Die Worte waren ein Frevel in sich. Selbst wenn es nie einen König gegeben hatte. Niemand hatte je gewagt, diesen Titel für sich zu beanspruchen. Einige der Lords bewegten sich unruhig. Alle standen wie gelähmt außer Ingal; dessen Gesicht verschloss sich nur noch ein wenig mehr. „Ich nehme an, Ihr wart einer der ersten aus Dalinie der dem „König“ die Treue schwor?“
„Ich war der erste.“ Eine seltsame Sanftheit lag in der Stimme des fremden Ritters. „Ich kam in seinem Auftrag nach Daliní, wo man dem Aufruf, dem ich brachte, folgte.“
„Orla?“ Ingals Stimme war leise. „Oder Dorban?“
„Orla. Dorban ist verschollen.“
„Orla“, wiederholte Ingal. „Ich hätte nicht gedacht, dass er ... Er hatte einmal andere Träume.“ Dann riss er sich mit einer sichtlichen Anstrengung aus seiner Schockreaktion heraus. Culath war froh, nicht selbst sprechen zu müssen.  „Es hat keine Bedeutung. Für mich gilt unabänderlich: Ich verweigere Carraig die Gefolgschaft in jeder Form.“

Der Fremde lächelte und verbeugte sich leicht vor dem Lord. „Ich bin froh das zu hören, Lord von Illaloe“, sagte er. „Sprecht Ihr für alle hier?“
„Nein!“ Das war Rhodin. „Nein, natürlich nicht. Wir alle ...“ Er unterbrach sich, als Culath die Hand hob.
„Wer seid Ihr?“ sagte Culath langsam. „Ihr kommt nicht aus Carraig.“
„Dachtet Ihr das bisher?“ Ciarans Stimme war weich, aber in seinem Blick lag Härte. „Nein. Ich komme nicht aus Carraig. Ich bin hier im Auftrag des Fürsten von Alandas.“
Culaths erste Reaktion war von reiner Panik bestimmt. Das Wort Alandas registrierte er nur mit halbem Ohr. Es verblasste vor der Erkenntnis, dass ein Fremder nun über seine Beziehungen zu Carraig wusste. Selbst wenn der Rat schwach war, ein Wort davon in der Hauptstadt konnte ihn vernichten.  „Ergreift ihn!“ rief er. Seine eigene Hand fuhr an das Heft seines Schwertes. „Er darf hier nicht entkommen.“

Die Lords waren für einen Augenblick gelähmt von den schockierenden Mitteilungen, von denen hier eine auf die andere folgte. Aufgewühlt über die Anmaßung des Titels des Königs, betroffen über das Schicksal, von dem sie dachten, es würde Ingal ereilen nach seinen kühnen Worten und dann getroffen von dieser Enthüllung. Dann jedoch griffen die ersten nach ihren Schwertern. Andere zögerten. Ingals Lippen formten wie nicht begreifend das Wort Alandas. Finn blickte Ciaran an, er wollte ansetzen zu sprechen.
Ciaran schüttelte kaum merklich den Kopf. Er hatte zumindest den Versuch gemacht und hatte erklärt, als wer er kam. Doch der Verrat saß hier schon zu tief.  Dennoch, der scheinbare Frevel hatte alle noch schockiert und viele hatten betroffen und verlegen zur Seite gesehen, als Ingal das Schicksal herausgefordert hatte. Es mochte noch nicht alles verloren sein.
Gerne hätte er an den Knauf seines Schwertes gefasst, aber das hätte nach einem Versuch aussehen können, sich zu verteidigen. Er musste absolut souverän sein. So spannte er nur etwas die Finger der rechten Hand, um den Druck des Ringes dort besser zu spüren und hob ruhig die flache Linke. Wenn der Siegelring Autorität verlieh, jetzt war sie ihm vonnöten. „Halt!“ seine befehlsgewohnte Stimme schnitt durch den Raum.

 Ohne irgendeinen der Anwesenden weiter zu beachten, wandte er sich dem Fürsten selbst zu. Er hob die rechte Hand vor dessen Augen. „Habt Ihr wirklich vor Abhaileon zu verraten?“ fragte er mit klarer aber nicht erhobener Stimme.
Culath machte einen stolpernden Schritt nach hinten. Falke und Bogen auf zweigeteilten Feld. Geschnitten in Smaragd. Ein paar blitzende Augen, in denen eine Frage stand. Eine Frage, kein Urteil. „Regent?“ brachte er hervor. „Ihr seid ... ?“ Es fiel ihm offensichtlich schwer, noch einen klaren Gedanken zu fassen.
Ein scheppernder Ton und ein Aufruf unterbrachen ihn. Ciaran wandte sich ruhig um. Ingals Hand hatte sich fest um Rhodins rechtes Handgelenk geschlossen und hielt es zur Seite gedreht. Auf dem Boden lag ein Schwert. Culath runzelte die Stirn. Niemand sonst war näher getreten. Einige hielten ihre Schwerter noch halb gezogen. „Die Waffen weg!“ befahl Culath hart.
„Das Siegel Abhaileons?“ fragte Ingal leise. Mit dem Fuß stieß er das Schwert Rhodins weg.
„Es sieht so aus“, antwortete Culath genau so unterdrückt. Er holte tief Luft.
Der fremde Ritter kam ihm zuvor. „Ihr werdet die Echtheit prüfen müssen“, sagte er ruhig und zog den Siegelring vom Finger. „Finn?“ Der junge Fürst trat eifrig einen Schritt näher. „Ich vertraue es dir an, bis eine Entscheidung gefällt werden konnte.“ Finns Gesicht leuchtete auf. Ciaran überreichte ihm den Ring und ging zu einer Seitentür, die auf einen Alkan führte. Nichts war zu hören als das Geräusch seiner Schritte. Erst als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, klangen Stimmen auf.

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