Donnerstag, 15. September 2011

Kapitel 31.3


„Lord Asrain sagte, Ihr wolltet mit mir über meinen Aufbruch von hier sprechen?“
„Das wollte ich in der Tat. Seit wir wissen, dass die beiden anderen Ritter des Königs auf Corimac sind, ergibt sich die Notwendigkeit, Euch mit ihnen in Kontakt zu bringen.“
„Das wollt Ihr wirklich?“ Robin konnte das Erstaunen in seiner Stimme nicht verbergen.
„Aber natürlich“, versicherte der Fürst. „Wir hoffen immer noch, irgendwie zu einer friedlichen Lösung kommen zu können. Auf mich oder meine Lords werden Herr Béarisean und Herr Ciaran wahrscheinlich nicht hören wollen. Euch werden sie eher Glauben schenken.“
„Nun, ich kenne Eure Standpunkte und Ansichten“, sagte Robin zögernd. „Vielleicht, dass sie sich zum Einlenken bewegen lassen, wenn die Lage in jener Provinz Eannas wirklich so übel ist, wie die letzten Nachrichten es erscheinen lassen.“
„Inzwischen bahnen sich auch schon Probleme in einer der Nordprovinzen an“, warf der Fürst ein. „Das dürfte problematischer sein, da die Hauptstadt von dort aus schneller bedroht werden kann.“

„Ich werde tun, was ich kann“, versprach Robin. „Sobald wir alle Fakten gründlich durchsprechen konnten, sollte sich eine Lösung finden lassen.“ Sogar ein Lächeln wollte sich auf seine Lippen stehlen. Er wusste genau, wie seine ersten Fragen an Béarisean lauten würden, und sie würden das Ende aller Zweifel bedeuten. „Seid versichert, fünfzehn Minuten mit Lord Béarisean sollten ausreichend sein, um das Wichtigste zu klären.“
„Ich kann da nicht ganz so zuversichtlich sein wie ihr“, meinte der Fürst. „Herrn Béariseans Bedenken uns gegenüber sind nicht vollkommen rational. Soweit ich weiß verdächtigt er meine Männer, an der Ermordung seiner Schwester beteiligt gewesen zu sein.“
„Und wie verhält es sich damit?“ wollte Robin wissen.
Der Fürst stand auf und ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab. „Das ist kein angenehmes Thema“, gab er schließlich zu. „Es waren Winianer an der Angelegenheit beteiligt. Das alles liegt jetzt an die vierzig Jahre zurück, und Ihr könnt Euch ja selbst ausrechnen, was das heißt. Lord Fíanael hatte damals seine ersten Aufgaben in der Gegend zu erledigen. Wenn Ihr sein Alter schätzt und nachrechnet, werdet Ihr verstehen, dass er nicht allein agierte. Er hatte einen Kooperationspartner unter den Lords in der Gegend. Der Mann hat später noch ein unrühmliches Ende gefunden. Solltet  Ihr Gelegenheit dazu finden, erkundigt Euch einmal in Croinathír nach der Affäre Darivan. Um eine längere Geschichte kurz zu machen, es waren einer von Darivans und einer von Fíanaels Männern, die das Verbrechen begingen. Lord Fíanael war damals weiter im Norden unterwegs.“
„Es heißt, die Mörder wurden nie gefunden!“ sagte Robin mit zusammengezogenen Augenbrauen.
„Wir hatten kein Interesse, dass man von den winianischen Unternehmungen erfuhr“, erklärte der Fürst. „Doch seid versichert, wir haben das auf unsere Weise geregelt. – Der Schaden selbst war ja ohnehin nicht mehr gut zu machen.“
„Béarisean wird detailliertere Auskünfte hierüber verlangen!“
„Das dürfte sich arrangieren lassen. Am besten spricht er mit Lord Fíanael selbst“, schlug der Fürst vor.
Robin nickte. „Wann ist mit seiner Rückkehr zu rechnen?“
„Wir sollten alle in etwa einer Woche auf Corimac versammelt sein. Noch pünktlich vor Mittsommer.“ Der Fürst seufzte. „Damit kommen wir auf ein etwas schwierigeres Thema.“

Robin sah ihn abwartend an. Für den Augenblick war sogar der Disput mit Isabell ganz in den Hintergrund seiner Gedanken getreten. Er freute sich darüber, dass Béarisean endlich Klarheit über die Vorgänge bekommen würde, die ihn noch immer so belasteten und verfolgten. Aber mehr noch ersehnte er mit jeder Faser seines Herzens die Antworten, die er selbst von Béarisean brauchte. So war seine Aufmerksamkeit für alles, was Barraid noch mitteilen wollte nicht mehr vollständig. Schwieriges Thema? Nichts würde mehr schwierig sein!
„Es mag sich merkwürdig, sogar abergläubisch anhören“, sagte der Fürst gerade. „Doch es wäre von größtem Vorteil, wenn die Entscheidung gerade an Mittsommer fallen würde, in etwa zur Mittagszeit. Lord Asrain erzählte einmal, ihr habet erwähnt, Euch mit der Bedeutung des Standes der Sterne schon einmal auseinandergesetzt zu haben?“

Mit einem kleinen Seufzer riss sich Robin von seinen Gedankengängen los. „Nicht viel“, sagte er. „Ich lehne es ab, meine Zukunft in Sternen lesen zu wollen oder meine Handlungen danach auszurichten.  Aber ich weiß, dass es zumindest im Nachhinein möglich ist, alles, was geschieht, dort auch in groben Zügen geschrieben zu sehen.“
„Es ist eine komplizierte Wissenschaft“, bestätigte Barraid. „Die meisten überfordert es. Und sicherlich ist es wenig sinnvoll, sich dabei in Details zu verlieren. Doch es gibt eine Sache, die sich sehr klar abzeichnet: Die Entscheidung, die an diesem Mittsommertag getroffen wird, wird lang anhaltende und weitreichende Auswirkungen haben. Und es wird unweigerlich zu einer Entscheidung kommen.“
„Worin liegt also das Problem? Falls diese Angabe wirklich so exakt ist?“ Robin fragte mehr aus Höflichkeit. Es interessierte ihn nicht besonders.
„Das Problem, Herr Anno, liegt darin, dass in nichts festgelegt ist, welche Entscheidung an diesem Zeitpunkt fallen wird. Genauso gut könnte es das völlige und endgültige Scheitern unserer Pläne bedeuten.“
Robin war eher amüsiert. „Und was, wenn mehrere Dinge gerade dann zur Entscheidung heranreifen sollten?“
„Es wird eindeutig sein“, erklärte der Fürst fest. „Und es gibt keine Bedingungen, was es sein wird. Daher beabsichtige ich etwas herbeizuführen, das eindeutiger nicht sein kann.“ Er sah Robin direkt an. „Mit Eurer Hilfe.“

„Ich würde mich lieber aus solchen Dingen heraushalten“, sagte der Ritter. „Vielleicht haltet Ihr das jetzt auch für eine Art Aberglauben. Doch ich denke, es wäre nicht richtig, wenn ein Ritter des Königs, etwas tut, nur um eine astrologische Vorhersage zu erfüllen. Ihr findet besser eine andere Lösung.“
„Ich möchte Euch das etwas näher erläutern“, führte Barraid aus. „Das Entscheidende zu dem es kommen wird, wird mit großer Wahrscheinlichkeit etwas sein, was einer der drei Ritter des Königs tut. Nehmen wir einmal an, ich unternähme nichts und Herr Ciaran beschlösse zum ungünstigsten aller Zeitpunkte, dass Carraig um jeden Preis vernichtet werden muss oder Herr Béarisean käme zu der Ansicht, dass der Tod seiner Schwester noch Rache verlangt. Ein feindseliger Akt würde alles auf Jahre und Jahrzehnte hin festlegen.“
„Vielleicht aber stimmen sie einem Vertrag zu“, schlug Robin vor.
„Vielleicht“, gab der Fürst zu. „Doch ich muss sicherstellen, dass etwas geschieht, das eindeutig ist. Und falls es bei den beiden ungünstig für die Sache aussieht, zähle ich fest auf Eure Unterstützung.“

„Was ist es denn, was Ihr möchtet, dass ich tue?“
„In aller Öffentlichkeit Euer Schwert vor mich hin legen.“
Robin schob seinen Stuhl zurück. „Das werde ich nicht“, sagte er. „Ich gebe dieses Schwert nicht in die Hände eines anderen.“
Der Fürst sah ihn nur ruhig an. „Ich werde es nicht anrühren. Ihr könnt es danach wieder an Euch nehmen.“
„Es erkennt Euch als Herrscher an.“
„In den Augen aller, die es sehen: als befehlsberechtigt über Abhaileon.“
„Ich diene Euch nicht!“ sagte Robin und stand auf.  In seiner Stimme lag keine Leidenschaft sondern nur die Müdigkeit, die seit so vielen Wochen immer schwerer auf seiner Seele lastete. Er wandte sich ab und ging die wenigen Schritte zu dem kleinen Sims, auf das er die Scherben der Schale gelegt hatte. Behutsam strich er mit den Fingern über eine der Kanten.
„In der Tat.“ Der Stimme des Fürsten, dem er den Rücken zuwandte, wirkte fast amüsiert. „Sonst könnte ich das einfach befehlen.“
Robin blickte über die Schulter zurück: „Und ich werde Euch nicht dienen“, sagte er ruhig aber ernst.

„Ich erwarte keinen Kniefall“, sagte Barraid. „Nur eine symbolische Geste. Nur den Anschein von etwas, das nie umgesetzt wird.“
Der Ritter blickte wieder auf die Scherben vor sich. „Nur eine Lüge also“, sagte er leise, „oder einen Verrat. Je nach dem, wie es aufgefasst wird.“
„Gewaltige Worte für kleine Dinge. Bedenkt was auf dem Spiel steht.“
„Ich bedenke es“, sagte Robin.
„Das Schicksal eines ganzen Landes? Leben oder Tod für Hunderttausende? Not und Leid für viele mehr über Jahre oder Jahrzehnte hinweg? Was legt Ihr auf die andere Waagschale? Benennt es.“
Der Ritter drehte sich zu ihm um. „Treue“, sagte er nach einer Weile. „Das Einzige, das mir geblieben ist. Wenn ich tue, was Ihr wollt, breche ich sie. Vielleicht nicht eklatant. Da nur zum Schein und aus gewichtigen Gründen. Aber  es wird ein Treubruch sein. Daran geht kein Weg vorbei.“

Zu seiner Verwunderung stritt der Fürst es nicht ab. „Es ist, wie Ihr sagt“, stimmte er zu. „Es wird in irgendeiner Form ein Treubruch sein, gleich wie man es wendet. Andererseits. Wenn Ihr es unterlasst, die Hilfe zu leisten, die Ihr Abhaileon geben könnt, wäre nicht auch dies eine Art Treubruch? Wenn Ihr an dem festhaltet, was Ihr jetzt sagt, kann niemand bestreiten, dass Euer Verhalten dem Buchstaben nach korrekt war. Doch um welchen Preis! Und ist es das, um dessentwillen Ihr hierher gesandt wurdet?“
„Das um dessentwillen ich gesandt bin!“ Der Satz entrang sich dem Ritter fast wie ein Ächzen. „Es ist das Schwert, von dem wir hier sprechen, das ich gegen die Dunkelheit führen soll!“
„Und tut Ihr es etwa nicht, wenn Ihr es einsetzt, wie ich Euch vorschlage?  Es steht in Eurem Lassen oder Unterlassen, ob Dunkelheit über Abhaileon fällt oder nicht.“ Er hob eine Hand leicht, wie beschwörend. „Seht, was Ihr sehen sollt!“

Und Robin sah. Die Vision dessen, was der Fürst und seine Lords ihm schon des öfteren vorgestellt hatten, war vor seinen Augen wie der Ablauf eines Films. Mit erschreckendem Realismus. „Wenn es etwas gäbe, das ich Euch bieten könnte“, sagte Barraid. „Ich würde es Euch nennen. Doch Besitz, Ehren und Einfluss bedeuten Euch wenig, wie ich weiß.“
„Ich habe immer nur für eines gelebt“, bestätigte Robin. „Ihr würdet nie begreifen.“
„Entscheidet Euch. Jetzt!“ verlangte Barraid.
Robin holte gequält Atem. „Wenn alles andere scheitern sollte“, zwang er sich zu sagen. „Wenn ich nach dem Gespräch mit Béarisean keine andere Möglichkeit mehr sehen sollte, wenn auch Herr Ciaran keine Lösung bieten kann und der Mittsommertag erreicht ist, werde ich tun, worum Ihr mich bittet. Nur dann. Ich werde vor Euch treten, vor wessen Augen Ihr auch wollt und mein Schwert niederlegen. Dieses Schwert, das mich zu einem Ritter des Königs macht. Ich fordere Euer Wort, dass Ihr es nicht anrühren werdet und auch keinem der Euren den Befehl dazu erteilt.“
„Ich gebe mein Wort“, sagte der Fürst. „Ihr könnt es danach wieder an Euch nehmen.“

Robin schüttelte den Kopf. „Wenn ich tun sollte, was Ihr verlangt, und ich hoffe von Herzen, dass es nicht dazu kommt, dann werde ich es nicht mehr tragen können. Jemand soll es verwahren, dessen Treue zum König über alle Zweifel erhaben ist. Es mag sich jemand finden dort auf Corimac.“
„Wen auch immer Ihr bestimmt“, erklärte sich Barraid einverstanden. „Ich danke Euch.“
Der Blick des Ritters war mit unendlicher Trauer erfüllt. „Ich wünschte, ich wäre Euch nie begegnet“, sagte er. „Lasst mich jetzt allein!“
Der Fürst nickte und verließ ihn. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging Robin zurück zum Fenster und blickte lange hinaus, ohne auch nur das Geringste zu sehen. Und er berührte nie das Heft des Schwertes an seiner Seite.

Barraid forderte Asrain, der vor der Tür gewartet hatte, mit einer kurzen Kopfbewegung auf ihm zu folgen. Sie hatten es nicht weit zu dem kleinen Raum, in den der Fürst die Harfe hatte bringen lassen. Auf seinen Wink hin ergriff der Lord sie und schlug sie an. „Perfekt, Gebieter“, kommentierte er devot. „Er ist verloren.“
Barraid sah mit Befriedigung, dass der Lord seine jüngste Lektion nicht so schnell wieder vergessen hatte wie andere vorhergegangene. Es hatte sich gelohnt, eine von Akans Vorgehensweisen zu erproben. Grob betrachtet erschienen sie zunächst zu subtil und von geringerer Durchschlagkraft; doch der erreichte Effekt war beachtlich. Jetzt schüttelte er unzufrieden den Kopf, wobei der Lord zu seiner Genugtuung leicht erzitterte. „Selbst jetzt liegt noch zuviel Harmonie darin. Wir werden auch weiterhin äußerst sorgsam verfahren müssen.“
„Ihr wollt ihn wirklich mit den anderen Rittern sprechen lassen?“ Der Lord hatte eine sehr unterwürfige Haltung eingenommen, um zu unterstreichen, dass dies in keiner Weise eine Kritik darstellen solle. „Wie kann dabei vermieden werden, dass sie einander wirklich unterstützen?“
„Du denkst immer noch nicht kühn genug“, tadelte der Fürst. „Es wird dazu beitragen, dass unsere Pläne sicherer gelingen. Dimail hat diesbezüglich Instruktionen erhalten.“
Er lachte oder lächelte nie. So auch jetzt nicht, als er hinzufügte: „Ihm und Akan allein sollte es gelingen, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Du kannst dich also ganz auf die Feinheiten hier konzentrieren. Ich selbst wünsche nicht, mit Belanglosigkeiten behelligt zu werden.“

Er warf einen missmutigen Blick auf die dichte Wolkendecke, die fast bis auf Carraig hinabreichte.  Es war äußerst ungelegen in diesem Stadium. Akan hatte ihm berichtet, dass dafür eine kleine Intervention aus Richtung Alandas verantwortlich war. Leider keiner der Alander. Den Namen seines intimsten Feindes hatte der Lord erst zu Schluss erwähnt. Es war keine große Überraschung gewesen. Rodil, wie er sich jetzt nannte, und Ríochan arbeiteten nicht zum ersten Mal zusammen. Lùg und Asrain hatten damals bei Eliannas Flucht schmählich gegen ihn versagt. Doch mit Akan und Dimail sollten die beiden Ritter auf Corimac zu kontrollieren sein und seinen eigenen Gast würde er selbst nicht mehr viel aus den Augen lassen. „Sag Lùg, er soll die Sternkarten für heute Abend herauslegen“, entließ er Asrain.
Noch am vorigen Tag hätte der Lord wahrscheinlich einen Protest gemurrt, dass sie mittlerweile jedes Detail schon mehrfach durchgegangen waren. Jetzt war ihm kaum anzusehen, dass er innerlich aufstöhnte, als er sich bestätigend verbeugte. Die Fahrlässigkeit mit Dingen, die er als zu kleinlich betrachtete, war einer seiner größten Fehler. Doch Barraid erinnerte sich nur zu gut an die Eroberung Croinathírs, die sich dann in den Großen Kriegen als Anfang ihres Scheiterns herausgestellt hatte, weil sie sich ihres Sieges bereits zu gewiss gewesen waren.

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„Erzählt mir noch ein wenig mehr von Eurer Heimat!“ bat Ingro höflich. „Ich möchte mehr über die Verhältnisse wissen, die ich dort vorfinden werde.“
„Was werdet Ihr dort überhaupt tun?“ wollte Isabell wissen. „Je nachdem könnte ich Euch gezieltere Mitteilungen machen.“ Sie stellte sich kurz ein wenig in den Steigbügeln auf, um einen Blick auf die Reihen weiter vorn erhaschen zu können. Irgendwo dort musste Akan sein. Da! Er unterhielt sich mit einem anderen seiner Adjutanten, einem Asrik, der aussah, als sei er magenkrank. Er hielt sich etwas unsicher im Sattel, schien es ihr sogar. Ein anderer flüchtiger Bekannter, Terek, hielt sich abwartend hinter ihnen. Ihr eigener ständiger neuer Begleiter sah auch aus, als hätte er harte Zeiten hinter sich. Aber sein Sitz im Sattel und sein Griff an den Zügeln waren sicher. Ein hagerer weißblonder Bursche, vielleicht an die dreißig Jahre alt, nicht unsympathisch.
„Ich weiß nur, dass ich Lord Akan dorthin begleiten werde“, sagte Ingro. „Und ich lege höchsten Wert darauf, zu seiner Zufriedenheit zu arbeiten. Da er mir gestattete, Euch Gesellschaft zu leisten, würde ich die Gelegenheit gerne gut nutzen. Natürlich nur, insofern es Euren eigenen Wünschen nicht zuwider läuft.“ Manchmal war er etwas zu besorgt, sich korrekt zu verhalten, dachte Isabell.
„Es würde helfen, wenn Ihr konkretere Fragen hättet. – Wo habt Ihr bisher gedient?“
„Zuletzt auf Cardolan.“

Isabells Ton wurde kühler. „In diesem Winter?“
Ingro warf ihr einen vorsichtig abschätzenden Seitenblick zu. „Ja, Lady. Als einer der Stellvertreter des Kommandanten Urkha.“ Er seufzte. „Ich habe alles Verständnis für Eure missbilligenden Blicke. Doch ich habe mich mehrfach für Euren Cousin verwandt. Urkha setzte sich über alle Befehle hinweg, die uns in Bezug auf den Gefangenen erteilt worden waren. Seine Hoheit befand meine Interventionen als unzureichend. Ihr könnt gewiss sein, dass ich seitdem aus meinen Fehlern gelernt habe.“
„Seid Ihr darum zu Lord Akan versetzt worden?“
„Lord Akan ist schon seit ein paar Jahren offiziell Kommandant über Cardolan.“ Ingro versuchte, sie richtig anzublicken und sie wandte ihm den Kopf zu. „Ich hatte auch ihm gegenüber Rechenschaft zu abzulegen. Ich bin ihm sehr verpflichtet, ihm weiter dienen zu dürfen.“
„Er ist ein strenger Befehlshaber, nicht wahr?“ erkundigte sich Isabell interessiert.
„Er ist, wer er ist“, antwortete Ingro einfach.
„Ihr weicht aus. Wie jeder, wenn es um ihn geht. Wie er selbst, wenn man ihn eingehender befragt.“
„Vielleicht wünscht er nicht, dass über ihn gesprochen wird“, schlug Ingro vor. „In diesem Fall hätte er sicherlich gute Gründe. – Wie war das nun mit Arda? Es gibt dort also sehr viele einzelne völlig eigenständige Reiche?“

Sie begann, die Verhältnisse zu erklären. Das war ganz gut so. Es hielt sie davon ab, ständig an die letzte Szene mit Robin zu denken. Er hatte sich vollkommen unmöglich betragen. Zugegeben, sie hatte auch ein paar ziemlich spitze Bemerkungen eingeflochten. Aber sie war in keiner Weise beleidigend gewesen. Jedenfalls nicht so beleidigend wie er! - Besser, Belanglosigkeiten über Arda zu erzählen.

Patris ließ seinem Pferd größtenteils die Zügel und achtete nicht weiter auf den Weg. Wozu auch. Diese Truppen konnte man nicht verlieren. Selbst wenn Dimail mit dem Großteil schon vor ihnen, bei Tagesgrauen, aufgebrochen war. Und dass er zwischen den losen Verbänden nicht verloren ging, dafür sorgten die Begleiter, die Akan ihm geschickt hatte. Sie hielten jedoch ihre Distanz, also konnte er sich schlecht darüber beschweren.
Da war etwas, das ihn sehr beschäftigte. Woher hatte der Alander wissen können, dass der Ritter zu ihm kommen würde? Betrieben sie eine eigene Art der Vorhersage, effektiver noch als alles, das er kannte? Für den Ardaner, den sie Anno nannten, war ihr Zusammentreffen zweifellos unerwartet gewesen. Doch hatte er sich unerwartet schnell gefasst. Und dann diese Offenheit. Wenn er es bedachte, da war eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Dalinianer, mit Hauptmann Ciaran, wie er ihm damals begegnet war. Dieser aufrichtige Blick in Kombination mit dem entschlossenen Vorgehen. Das Gefühl von Kameradschaft. Patris schüttelte den Kopf über sich selbst. Er hatte keine Kameraden. Nur, da war dieser Ciaran gewesen, erfüllt von einer Zuversicht, die nicht zu erschüttern war. Da war dieser Anno, voll von einem Vertrauen, einer Hoffnung, die lange schon keine Basis mehr haben konnte. Sie berührten etwas, von dem er selbst nicht wusste, was es war. Das, was ihn bewogen hatte, dort auf dem Friedensrücken Dinge zu tun und zu sagen, die er nie vorgehabt hatte. -  Sehnsucht. Sehnsucht nach etwas wie weißem Licht. Etwas Exotischem, Esoterischen, Ungewöhnlichen – nach einer Art von Freundschaft.

Die Erkenntnis war schockierend. Was war mit ihm nur geschehen da oben auf dem Bergrücken? Dieser Alander hatte ihm Worte zugeflüstert und danach hatte er die Welt anders wahrgenommen. Wenn es ein Zauber war, dann keiner, den er kannte. Er hatte versucht, es herauszufinden. Zu einer gründlicheren Prüfung würde er die Nacht und Feuer brauchen. Doch alle einfacheren Methoden hatten schlicht versagt. Schon allein, herauszufinden, was da geschehen war, wäre einen Kontakt mit den Alandern wert.
Verdammnis aber auch! Er hätte fragen sollen. Dieser Ritter hatte lange gewartet, und er hatte sich erst aufraffen können, als es zu spät war. Hatte gegrübelt, ob es den verdammten Vertrag verletzen würde, hatte sich geärgert, dass so ein unmöglich geglaubtes Ereignis plötzlich eintrat, hatte sich nicht da hineinziehen lassen wollen. Wie hatten die Alander es nur zustande gebracht? Wie nur? Soviel Einfluss und das in Carraig? Warum dann sonst nicht? Konnte das wirklich stimmen, was der Alander gesagt hatte, dass ... der König ... alles in der Hand hatte. Einen merkwürdigen Humor musste er haben, der König! Jetzt ginge es um ihn, hatte der fast unsichtbare Fremde gesagt. Für ihn also eine Art Wunder auf Carraig? Das war mehr als unwahrscheinlich. Warum dann aber?

„Lord Akan wünscht Euch zu sprechen!“ Das war Terek.
„Ich wünsche ihn nicht zu sprechen“, fertigte Patris ihn ab, ohne ihn weiter zu beachten. Sollte seine Lordschaft sich doch selbst bemühen. Der Adjutant belästigte ihn nicht weiter, sondern trieb nur stumm sein Pferd wieder an.
Akan schien mit seiner Reaktion schon halb gerechnet zu haben, denn kaum eine Minute später lenkte er sein Reittier an die Seite des Imreachers. Patris fühlte den kalten studierenden Blick auf sich. Dieser Blick machte ihn nervös. Nur zu gut erinnerte er sich, was der Lord damals auf Carraig damit plötzlich herausgefunden hatte. Besser das jetzige Zusammensein schnell zu beenden. Er fluchte leise, bevor er sich ihm zuwandte: „Was willst du also, gefallener Fürst?“ Es war eine Dreistigkeit, die er sich bisher nicht geleistet hatte. Angeblich eine sichere Methode, einen baldigen Tod zu finden. Nun ja, was hatte er schon noch zu verlieren. Er achtete jedoch darauf, so leise zu sprechen, dass es keiner der anderen Reiter, die alle einen gebührenden Abstand hielten, vernehmen konnte. Er musste fast auflachen, als er sich vorstellte, wie bei dieser Anrede plötzlich jeder ringsum dringende andere Beschäftigungen finden würde. Selbst die, die nicht wussten, um was es wirklich ging.
Der Lord ließ keine Reaktion erkennen. Seinen dunkelgrauen Augen gelang es, fast so unergründlich zu sein, wie die des Fürsten selbst. „Ich frage mich, wem du heute morgen begegnet bist“, sagte er, ohne auf die Anrede einzugehen.
„Du sahst es selbst“, sagte Patris mit einem Achselzucken. „Ein absolut zufälliges Zusammentreffen.“
„Wie lange spracht ihr miteinander?“
„Du hörtest auch, wie ich jede seiner Fragen vor seiner Hoheit wiederholte“, sagte Patris mürrisch. „Der Rest war Schweigen.“

Diese Augen versuchten etwas aus ihm herauszuholen, wie es schien. „Etwas ist an dir, das zuvor nicht da war.“
Patris lief ein kaltes Frösteln über den Rücken. Seine eigene Wahrnehmung stimmte also in dieser Beziehung.
„Sagt dir der Name Rodil etwas?“ forschte der Lord weiter.
Patris schüttelte den Kopf. „Das hört sich nicht nach einem von euch an. Wer ist das?“
Akan studierte ihn wieder eine Weile eingehend, ohne zu antworten. „Keine Lüge“, konstatierte er schließlich. „Ich sehe auch keine Möglichkeit. Mag sein, dass es durch den Kontakt mit dem Ardaner kam. Nicht unmöglich. Er muss einiges mit ihm zu tun gehabt haben. Zeit, dass das ein Ende nimmt.“ In dem letzten Satz lag eine überraschende Spur von Ingrimm. Er warf Patris einen letzten offensichtlich misstrauischen Blick zu, bevor er sein Pferd antrieb und ihn verließ.
Patris stand plötzlich kalter Schweiß auf der Stirn und ihn fröstelte leicht. Rodil. Wer auch immer das war. Ganz sicher niemand Unbedeutendes. Jemand, der sogar in Akans Stimme eine Emotion trieb. Auf was hatte er sich da heute morgen nur eingelassen!

******

Ludovik lachte unbekümmert. „Und warum nicht? Wir sitzen hier doch ein paar Tage lang fest. Weiter nach Osten gibt es keinen Ort, an dem wir mit unseren Truppen lange lagern könnten. Erst wieder, wenn der Fraoch erreicht ist.“
„Wir brechen in drei Tagen auf“, sagte Ciaran. „Soviel Vorsprung müssen wir Lord Estohar geben. Und ich hoffe, dass bis dahin alle soweit sind.“ Er schüttelte den Kopf, ohne mehr zu sagen.
Halis lachte jetzt ebenfalls. „Sie sind keine Disziplin mehr gewöhnt, unsere Fürsten. Mit ein paar Ausnahmen natürlich.“ Sie lächelte Donal von Tireolas zu.
„Leider ist das nur zu richtig“, sagte dieser. Er saß müde auf einer der Truhen. „Die Hälfte träumt von Heldentaten und nimmt es nicht ernst genug. Die anderen sind beunruhigt, tun sich aber trotzdem schwer, Befehle anzunehmen. Doch allmählich arbeiten sie zusammen.“ Er hatte an diesem Tag die Aufsicht über einige der Manöverübungen geführt.

„Wir können alles Frischfleisch gebrauchen, das wir erjagen können“, führte Dorban zum vorangegangenen Thema zurück. Warum also nicht einen größeren Trupp losschicken? Ich würde mich auch beteiligen. Einige meiner Leute sind mit der Gegend hier ganz gut vertraut. Es gibt da ein kleines Tal einen knappen Tagesritt von hier, das sich lohnen würde. Orla benötigt mich im Grunde sowieso nicht.“ Auch er lachte.
„Ich weiß nicht“, sagte Ciaran. Ihn beunruhigte diese Sorglosigkeit aus irgendeinem Grund, genauso wie deren Gegenteil, das er  bei Béarisean beobachtete. Er wandte sich direkt an diesen. „Was meinst du?“
Der Ritter sah aus, als müsse er sich erst einen Moment besinnen, von was überhaupt die Rede war. „Es scheint durchaus sinnvolle und gute Gründe zu geben für eine Jagd. Aber brecht am besten noch heute Nacht auf. Vor Carraig sollten wir mit ausgeruhten Pferden ankommen. Und ich möchte lieber schon in zwei Tagen aufbrechen.“
„Wir könnten ab dann schon einmal anfangen, die Vortruppen in Bewegung zu setzen“, schlug Donal vor. Sie diskutierten es noch eine Weile, bevor sich die Heerführer verabschiedeten. Es war ein eher informelles Treffen gewesen, das nicht im großen Beratungszelt sondern in dem des Regenten stattgefunden hatte.

Als alle anderen mehr oder weniger gut gelaunt gegangen waren, wandte sich Ciaran dem anderen Ritter zu. Béarisean seufzte und kam jeder Frage zuvor: „Ich begreife mich selbst nicht“, sagte er. „Es fällt mir schwer, mich auf unsere Aufgaben zu konzentrieren.  – Ciaran, es ist so übel, dass ich überlege, dieses Schwert abzulegen.“
„Vielleicht wirst du krank“, schlug der Regent vor.
Béarisean schüttelte den Kopf. „Es ist – nur in meinen Gedanken“, sagte er bedrückt. „Ich verstehe es selbst nicht. Ich konnte die alte Geschichte nie vergessen. Aber jetzt scheint sie mich zu beherrschen.“
Ciaran sah ihn ratlos an.  „Wenn ich nicht mehr weiter wusste“, sagte er schließlich, „auf dem Weg durch die Provinzen, dann nahm ich mein Schwert und hielt mich daran fest. Das Licht darin fand immer auch einen Weg in meine Gedanken, scheint es. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Alles Finstere weicht davor zurück.“
„Die Schwierigkeit besteht darin“, sagte Béarisean mit gesenktem Kopf, „dass in diesem Fall die Finsternis in mir ist. Ich bin nicht imstande das zu tun, was du tatest.“ Er brauchte Ciaran nicht anzusehen, um zu wissen, dass dieser nicht begriff, was er da sagte. „Der Wunsch, einmal Vergeltung üben zu können für jenen Mord war wie ein kleiner armlanger Drache, den ich in einem Zwinger hielt. Ich gab ihm nicht viel Nahrung, damit er nicht zu groß wurde, ließ ihn aber auch nicht verhungern. In den letzten Wochen hatte ich ihn fast vergessen, und plötzlich hat er seinen Zwinger verlassen und ist stärker als ich. – Ciaran, ich kann kaum noch klar denken.“ Seine Stimme verriet nichts von seinen inneren Kämpfen. Sie war vollkommen ruhig.
„Du wirst diesen Kampf gewinnen“, sagte der Regent nachdrücklich. „Du liebst den König!“
„Das tue ich“, sagte Béarisean. „Ich glaube von ganzem Herzen an das, wofür ich stehe. Und dennoch ändert es nichts.“
„Mitternacht wird vorüber gehen“, sagte Ciaran fest. „Es muss wohl alles so sein, wie es jetzt ist. Denn zur Zeit sehe auch ich den Weg nicht mehr vor mir. Unsere Pläne sind gemacht. Und doch scheint es mir, als würden sie nie umgesetzt, so unwirklich wirken sie auf mich. Ich könnte deinen Rat jetzt brauchen, wenn du ihn geben könntest.“
Béarisean schüttelte nur den Kopf. „Ich sehe weniger als du. Viel weniger. Wenn es möglich ist, würde ich gerne in deiner Nähe bleiben. Bis das jetzt vorbei ist. Ich würde mich sicherer fühlen.“
„Dann bleib“, sagte Ciaran ernst. „Deine Gegenwart ist willkommen, Ritter des Königs.“
Béarisean lächelte ihn dankbar aber schwach an, bevor er den Kopf wieder auf die Arme stützte.
Ciaran schloss die Finger fest um das Heft seines Schwertes, um die eigene Hilflosigkeit zu vertreiben. „Wo bist du, Anno von Arda?“ dachte er. „Wir brauchen dich hier. Wir brauchen diese Leichtigkeit, mit der du selbst den Schwarzen Fürsten täuschen konntest. Die Lieder, die den Morgen nicht vergessen haben. Wo bist du, furchtloser Kämpfer?“

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