Dienstag, 6. September 2011

Kapitel 23.3

„Nur zu“, meinte Dorban. „Ich glaube kaum, daß das etwas bringt. Hast du deinen König denn bisher etwa nicht um Hilfe gebeten?“
„Natürlich habe ich das“, antwortete Bearisean. „Du hast das Problem noch nicht ganz verstanden. Nicht ich muß hier allein darum bitten, sondern wir beide.“
„Wie?“ sagte Dorban. „Ich? Den König?“
„Genau das.“
„Das ist nicht dein Ernst!“
„Und ob es mein Ernst ist.“
„Da spiele ich nicht mit!“
 „Dann bleiben wir beide hier und sterben. Schon bald, vermute ich. Oder vielleicht auch – wenn du nur zu lange zögerst – kehren wir zurück in ein Abhaileon, das dem Schwarzen Fürsten gehört.“
„Wäre das nicht ungerecht gegenüber dir?“ wandte Dorban ein.
Bearisean lächelte resigniert. „Mein Auftrag ist, dich sicher zum abhaileonischen Heer zu bringen. Ich habe geschworen, alles einzusetzen, damit du dein Ziel erreichst. Wenn es nötig wäre, würde ich mein Leben dafür geben. Aber es sieht so aus, als wäre das keine Option hier. Stattdessen sterbe ich eben wahrscheinlich mit dir. Jedenfalls stehe ich zu meinem Wort. Ich diene meinem König.“
„Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich deinen König um etwas bitten sollte“, wand sich Dorban. „Außerdem, warum sollte ich? Ich glaube doch gar nicht, daß es ihn gibt.“
„Du könntest immerhin einmal den Versuch machen, es auszuprobieren“, schlug Bearisean vor. „Und zwar möglichst bald. Wer weiß, was unsere freundlichen Gastgeber mit uns anstellen, sobald der nächste Morgen herangekommen ist.“

Dorban fluchte leise vor sich hin. Er schaute dem Morgen nicht gerade mit Freude entgegen. Er musterte nochmals die Zelle: alle anderen schliefen noch. Er würde sich zumindest nicht vor denen lächerlich machen. Zum wohl hundertsten Mal überdachte er, ob es nicht doch noch einen anderen Ausweg geben mochte, dann zuckte er schicksalsergeben die Achseln. „Meinetwegen“, sagte er. „Ich werde dieses Theater mitmachen. - Aber du bist zuerst dran.“
„Gut“, sagte Bearisean. „Aber ich sage dir gleich, daß dir das die Entscheidung nicht ersparen wird.“ Er kniete auf dem Boden nieder, hob die gefesselten Hände und bat mit klarer Stimme: „Herr, mein König, ich weiß, daß dir alle Macht gehört, in Abhaileon, in Arda und in allen Welten, die es geben mag. Es ist dir ein Leichtes, uns sicher zurück nach Abhaileon zu bringen. Bitte, schenke uns die Freiheit von dieser Gefangenschaft. Schließ das Tor nach Abhaileon auf, vor dem wir stehen, ohne daß wir es erkennen können.“
Dorban wartete. Es geschah nichts weiter. Keine Spur einer Änderung. Missmutig betrachtete er den Boden vor sich. „Es hilft doch ohnehin nichts“, sagte er dann. Draußen stahl sich der erste Schimmer des Morgengrauens an den Himmel.
„Versuche es wenigstens!“ bat Bearisean. „Für Abhaileon. Vergiss worum es dir geht.“
Aber der Lord blieb hartnäckig. „Wer weiß, wie viel Gefangene schon ihre Hoffnung auf das Geschreibsel auf diesem Fetzen Papier gesetzt haben“, sagte er. „Ich werde mich deshalb nicht lächerlich machen.“
Bearisean seufzte. „Noch kannst du es dir überlegen“, sagte er. Er stand nicht wieder auf. Er war sich sicher, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb und den Tod so gut wie sicher vor Augen, gab es Dinge, die er noch – wenigstens in Gedanken – aussprechen wollte. Und da war Abhaileon. Da war vielleicht immer noch Robin. Wie viele Minuten jetzt auch noch blieben – er wollte sie so gut wie möglich nutzen.

Wenig später explodierte der Morgen in einem Inferno. Eine heftige Explosion, die nicht allzu entfernt stattgefunden haben konnte, riss alle der Zelleninsassen aus dem Schlaf. Darauf dröhnte die Luft von Sirenenheulen, Schüssen, Detonationen und Schreien. Es war nicht unähnlich der Nacht, in der sie in die Kriege Ardas hineingeraten waren. Auch vor dem Gefängnisgebäude und in dessen Gängen hallten eilige Schritte. Die Tür der Zelle wurde aufgerissen und gab den Blick auf Soldaten mit Maschinengewehren frei.
„Eure Freunde morden wieder unsere Brüder“, rief einer in gebrochenem Englisch. „Aber euch werden sie nicht mehr wiedersehen, genauso wenig wie diesen anderen Abschaum.“ Mit seiner Maschinenpistole eröffnete er das Feuer auf die Gefangenen.
Dorban hatte wie stets kein Wort verstanden. Das war jedoch auch kaum noch nötig. War die Gestik des Soldaten noch nicht ausdrucksvoll genug gewesen, so verstand er spätestens, als die ersten Schüsse einschlugen, die Lage. Durch seinen Kopf raste nur noch ein Gedanke: „Ich will nicht sterben!“ und in letzter Verzweiflung griff er nach dem einzigen, das ihm noch blieb, um danach zu greifen. ‚Weniger als ein Strohhalm, dachte er. Er ließ sich auf die Knie fallen und schrie in den Lärm: „Gnade, König! Hilf mir!“ - Es geschah nichts, und bitter bereute er, sich noch so kurz vor seinem Tod zum Narren gemacht zu haben, statt mit Haltung zu sterben, bevor ihn ein Schlag traf, der ihm die Sinne raubte.

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Vogelgesang weckte Dorban. Ohne nachzudenken registrierte er, daß es sich bei dem munteren Sänger um den kleinen Malvin handeln musste, der kurz nach Sonnenaufgang sang. Es war feucht, unter seiner Hand fühlte er kurzes Gras. Anscheinend hatte er die vorige Nacht bis zur Besinnungslosigkeit getrunken, denn das war ihm schon lange nicht mehr passiert, daß er nicht unter seinem eigenen Dach, und sei es das Zeltdach, aufgewacht war. Noch dazu im späten März, wenn die Nächte noch grauenhaft kalt waren. März? Es war unleugbar März oder April, das sah er an den Blumen und Bäumen, an denen gerade erst die frühen Knospen hervorkamen. Gleich musste die Erinnerung wiederkommen. Natürlich, er war mit Durlong und ein paar anderen Männern Richtung Daliní geritten, um ... Irgendwie war es das nicht.
Er stemmte sich hoch. Verdammt, was hatte er letzte Nacht nur gesoffen? Es musste ihm ganz schön den Verstand geraubt haben. Und gar, was er geträumt hatte. Haarsträubend! Nichts als wilde Verfolgungsjagden und tödliche Gefahren. Bruch mit Barraid, die zwei Ritter, der Alptraum in Arda. Eine Katastrophe nach der anderen. Das alles mit einem nassen Herbst und eisigem Winter im Hintergrund. Aber es war ja erst Frühling. Das Gedächtnis würde auch schon wiederkommen, wenn er erst richtig wach war. Er setzte sich auf und sein Blick fiel auf eine Gestalt, die reglos auf dem Boden lag. Es war keiner seiner Männer. Ein Fremder. [Kein Fremder. Béarisean. Der Ritter des Königs.] Unsinn. Das gehörte zu dem Traum.
Dorban trat näher an den Fremden heran und erschrak, als er sah, daß das Gras an dessen rechter Seite blutdurchtränkt war. Bearisean - es war Bearisean! - rührte sich immer noch nicht. Der Lord fühlte Panik in sich aufsteigen. Wenn der Ritter tot war, war er dafür verantwortlich. Bearisean hatte es ihm voraus akzeptiert. Als er davon sprach, hatte Dorban es für dummes Geschwätz gehalten. Aber ... O verdammt! Der letzte Nachfahre Colins! Der vielleicht wichtigste Ritter Abhaileons! Und tot, weil er sich nicht zu einer kleinen Geste aufraffen konnte. Und dass, obwohl er schon lange gar nicht mehr bezweifelte, dass es diesen König gab. Er wollte nur nicht ... Ach! O verdammt, verdammt, verdammt!

Er kniete nieder neben dem reglosen Körper. „Bitte, ...“, sagte er unter seinem Atem, und wusste nicht recht, wie er weitersprechen sollte. Vorsichtig schüttelte er Bearisean und rief seinen Namen. Und dann ... Zu Dorbans großer Erleichterung, gab der Ritter ein Lebenszeichen von sich. Er stöhnte leise. „Danke“, flüsterte Dorban. „Danke!“ Aber da war immer noch das Blut. Er begann die Weste des Ritters aufzuknöpfen.
Er war noch nicht weit gekommen damit, als Bearisean schwerer atmete und die Augen öffnete. Seine grauen Augen blickten nicht ganz klar und sein Gesicht verzog sich etwas im Schmerz. Aber mit matter Stimme sagte er. „Das war knapp!“ Er schloss die Augen wieder.
„Was ist es?“ rief Dorban und wollte ihn wieder schütteln. Als er dabei den rechten Arm berührte, zuckte Bearisean zusammen. „Ein Durchschuss vermute ich“, hauchte er. „Vielleicht auch mehr. Sieht aus, als sei mein Schwertarm fürs erste ruiniert.“
Dorban begriff plötzlich, was er unter den Fingern fühlte. Einen Brustpanzer! Er schlug die Weste zurück und schüttelte den Kopf.  Sein Blick glitt an Beariseans Seite. „Es ist nicht zu glauben!“ murmelte er. Da war das unverkennbare Schwert mit der goldenen Einlegearbeit und den blauen Steinen. „Vielleicht fühlst du dich besser“, sagte er zu dem Ritter, „wenn du mit deiner linken Hand an deinen Gürtel greifst. Die rechte rührst du besser noch nicht, bevor ich danach gesehen habe.“
Bearisean öffnete die Augen noch nicht wieder, aber seine linke Hand tastete zum Gürtel  hin. Als er den Schwertknauf berührte, trat ein ganz leichtes Lächeln auf seine Lippen. Dorban nahm ihm den Brustpanzer ab. Auch das Hemd darunter war auf der rechten Seite voller Blut. Als er es zurückschlug, zeigte es sich jedoch, dass es nicht so schlimm war, wie er schon vermutet hatte. Da war eine tiefe Schramme in Beariseans Seite, die blutete, eine weitere im oberen Teil der Schulter. Den Ärmel des rechten Armes musste er aufschneiden, da half nichts. Er fand zwei Durchschüsse. „Kannst du den Arm bewegen?“ fragte er.
Bearisean krümmte die Finger und schaffte es den Unterarm etwas zu verrücken. „Ich glaube, es geht“, keuchte er, „aber der Schmerz ist übel.“

Dorban sah sich hastig um. Es war noch sehr früh im Jahr, aber einige der Kräuter hatten schon begonnen zu wachsen. Hier auf der Lichtung im Wald gab es, was er brauchte. Er riss einige Blätter der blutstillenden Pflanze ab, und begann nach kurzem Zögern sein eigenes Hemd in Streifen zu reißen. Es gab kein anderes Verbandsmaterial. Er fand auch etwas Wasser in der Nähe, um die Wunden auszuwaschen.
Als er fertig war,  half er Bearisean sich aufzusetzen und sich an einen Baumstamm zu lehnen. „Wirst du laufen können?“ fragte er.
Bearisean nickte. „Es wird schon gehen.“ Er betrachtete kritisch den dunklen Fleck im Gras. „Das hat tüchtig geblutet.“
Dorban senkte den Blick. „Es ist meine Schuld, dass du verletzt bist“, murmelte er. „Ich wartete bis zum letzten Moment.“
„Dem vorletzten“, meinte Bearisean. „Ich lebe noch.“
„Da war ein Schlag“, sagte Dorban.
„Ich vermute, sie warfen Bomben bei diesem Luftangriff“, sagte Bearisean. „Da wäre nicht mehr viel von uns übrig geblieben.“ Er lehnte den Kopf nach hinten gegen den Buchenstamm und schloss wieder die Augen. „Wo sind wir eigentlich?“ fragte er dann.
„Ich hoffte, du wüsstest das“, sagte Dorban. „Ich kann dir nur sagen, was du selbst siehst. Um uns ist Wald, und es ist Frühling.“
„Zumindest muss es Abhaileon sein“, entschied Borisian, „da mein Schwert wieder da ist.“
„Dann sind wir ein gutes Stück weiter westlich als Idrim. Wenigstens so weit westlich wie Daliní, denn weiter östlich ist alles Land zerklüfteter als hier. – Unsere einzige Waffe ist dieses Schwert. Wir haben keine Vorräte und nur die Kleidung, die man uns dort in Arda ließ.“
„Abzüglich zweier blutiger und zerrissener Hemden“, ergänzte Bearisean. „Gehen wir also nach Westen.“
„Meinst du es geht schon?“ Dorbans Stimme war zweifelnd.
„Bald“, sagte Bearisean. „Du könntest in der Zwischenzeit nach ein paar essbaren Wurzeln graben. Wenn es dir nichts ausmacht.“
„Es wäre wohl das Klügste“, gab Dorban zu.

Er suchte sich einen geeigneten Ast und ging an die Arbeit. Die Ausbeute war kärglich. Doch um diese Jahreszeit würden sie nicht viel mehr erwarten könne, bis sie auf Siedlungen trafen. Wenn er auf Würmer stieß, packte er sie vorsorglich in ein Tuch. Vielleicht ließen sie sich rösten. Er fand etwas trockenes Moos und anderes, was zum Feuermachen nützlich sein konnte. Auch handliche Steine verwahrte er sorgfältig. Das war besser als gar keine Jagdwaffe. Vielleicht ließen sich junge Kaninchen damit erlegen.
Gegen Mittag ging es Bearisean schon um einiges besser. Sie aßen ihre karge Mahlzeit kommentarlos.
„Bisher kein Fieber?“ erkundigte Dorban sich.
„Noch nicht. Vermutlich heute Abend. Lass uns aufbrechen. Vielleicht finden wir unterwegs ein paar Weiden.“ Er trug den rechten Arm, der geschont werden musste, in einer Schlinge.
„Und worin willst du Tee kochen?“
„Ich vermute, man kann auch auf der Rinde kauen“, schlug Bearisean vor.

Dorban lachte plötzlich. „Es war so gut wie sicher, dass ich Fürst von Dalinie würde. Und du bist meiner Meinung nach der designierte Regent von Abhaileon. Nun, sieh uns an!“
Bearisean lächelte. „Aber es ist nicht mehr Arda. Das Wesentliche ist wieder sichtbar.“ Er legte die Hand auf das Schwertheft. „Glaubst du es jetzt?“
„Ich glaubte dir schon vorher“, gestand Dorban widerstrebend ein. „Nachdem ich erst einmal wusste, wer ihr seid. Colins Erbe und ein Ritter aus Arda. Ihr wart beide bemerkenswert. Wobei es Anno war, der mich am meisten faszinierte. – Wie auch immer, wenn zwei solche Männer sagten, es gebe den König, wie viel Zweifel konnte da noch bestehen?“
„Warum dann das alles, als wir in Arda waren?“ fragte Bearisean. Er fühlte sich zu erschöpft, um zu streiten. Daher war keine Spitze in seiner Frage.
„Zu wissen, dass es jemanden gibt, macht noch keine Aussage, in welchem Verhältnis man zu dieser Person steht“, sagte Dorban.
„Und jetzt?“ erkundigte Bearisean sich, als er nicht weitersprach.
„Ich habe keinerlei Verlangen, ihm zu dienen.“ Dorbans Stimme war gereizt. „Aber ich war mehr oder weniger gezwungen, um Hilfe zu bitten und habe sie erhalten. Ich weiß nicht, wohin das mich bringt.“ Was geschehen war, machte ihm Angst. Er fühlte, es war unwiderruflich, aber er wehrte sich noch.

Bearisean war klug genug, nicht weiter in ihn zu dringen. Sie brachen auf. Zum Glück war das Gelände nicht schwierig. So hielt er es durch, mehrere Stunden zu gehen. Während des Nachmittags setzte das Fieber allmählich ein. Er hatte Weidenrinde gefunden. Der Geschmack war grauenhaft. Doch er zwang sich dazu, darauf zu kauen. Es sollte zumindest ein wenig helfen. Gegen Abend jedoch konnte er keinen Schritt mehr weiter. Dorban musste ihn die letzten Meter bis zu einem halbwegs geeigneten Platz stützen. Es war eine der wenigen Stellen, an denen Fichten wuchsen, deren tief herabhängende Zweige mehr Schutz vor dem Wetter boten, als die anderer Bäume.
Es war noch Zeit genug bis Sonnenuntergang. Der Lord von Tairg begab sich wieder auf die Suche nach Brennholz und Essbarem. Den Brustpanzer benutzte er, um etwas Wasser herbeizuschaffen. Bearisean nahm es nur benommen wahr. Er verfiel in einen Halbschlaf, bis ihn Dorban ansprach: „Ich möchte weder Euch noch sonst etwas zu nahe treten, aber es wäre hilfreich, wenn wir Euer Schwert zu dem einen oder anderen benutzen könnten.“ Er war neben dem Ritter in die Hocke gegangen.
Beariseans linke Hand suchte das Heft. Dann fiel ihm etwas anderes auf. „Euer? Wir hatten das doch aufgegeben.“
Dorban seufzte. „Das war Arda.  Und es scheint auch hier in Abhaileon akzeptabel unter allen normalen Umständen. – Aber wenn es um dieses Schwert geht ... Ich möchte nicht den Anschein erwecken, dass ich überhaupt keinen Respekt habe vor dem, wofür es steht, wofür der, der es trägt steht.“ Er räusperte sich. „Besonders da einiges, was ich in den letzten Tagen und Wochen sagte, dies vermuten lassen könnte.“

Bearisean hatte die Augen halb geschlossen und sah ihn nicht an. Sehen kostete zuviel Kraft jetzt. Mit geschlossenen Augen konnte er sich besser konzentrieren. Er konnte sich trotz seines Fiebers ein paar scharfzüngige Antworten auf diese Worte denken, doch er fühlte wie unangemessen sie gewesen wären. Er spürte das Metall und die Steine des Heftes unter den Fingern seiner linken Hand, und mit der Kühle erfüllte ihn auch etwas anderes, das es ihm unmöglich machte, wie so oft gereizt auf den Lord von Tairg zu reagieren. „Ich glaube auch, wir brauchen einen neuen Anfang“, sagte er nach einigem Nachdenken. „Wir wären beide fast gestorben dort, das ist Grund genug. Bisher waren wir weit entfernt davon, Freunde zu sein. Respekt voreinander wäre ein guter Beginn. Meint Ihr das, Dorban?“
Der Lord setzte sich auf den nadelbestreuten Waldboden neben ihm. „In etwa meinte ich wohl etwas Derartiges“, sagte er. „Ich vermute, es wäre hilfreich. Wie soll ich Euch nennen?“
„Bearisean ist gut genug“, antwortete der Ritter.
Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte Dorban wieder, äußerst vorsichtig und höflich: „Euer Schwert? Wäre es möglich, damit ein paar Zweige abzuhauen? Wir haben keine Decken oder Mäntel, die Nächte sind kühl und mit Eurem Fieber ...“

Bearisean zögerte. Was Dorban sagte, war vernünftig. Aber er selbst konnte es nicht ausführen, und es widerstrebte ihm sehr, die Waffe in andere Hände zu geben. „Es darf nicht gezogen werden, ohne dem König die Ehre zu geben“, sagte er nach einigem Überlegen. „Fürst Ríochan ließ da keinen Raum für Zweifel.“ Er lächelte schwach in Erinnerung an die Tage in Bailodia. „Seine Freundlichkeit ist für gewöhnlich überwältigend. Doch in dieser Angelegenheit sprach er sehr strikt. Ich weiß nicht, ob Ihr verstehen könnt oder ob ich es richtig erklären kann: Dieses Schwert steht für etwas sehr Großes.“
„Ich verstehe, dass ich es nicht ziehen sollte“, sagte Dorban. „Aber vielleicht, wenn Ihr selbst es zieht, vielleicht ginge es, dass ich es dann nähme, um damit das Nötige zu tun?“ Als Bearisean immer noch zögerte, fügte er hinzu: „Ich werde darauf achten, es in keiner Weise zu entehren.“
Schließlich nickte der Ritter. Er versuchte aus seiner halb sitzenden, an den Fichtenstamm lehnenden Stellung zu kommen. „Wenn Ihr mir helfen würdet?“
Dorban war sofort an seiner Seite, um ihn zu stützen: „Ihr wollt aufstehen?“
„Nicht ganz“, antwortete Bearisean. Er brauchte die Hilfe des Lords, um bis auf die Knie zu kommen. Das Schwert mit der linken Hand zu aus seiner Scheide zu ziehen war ungewohnt und nur unbeholfen durchzuführen. Er musste es auf seinen Knieen ablegen, um es dann richtig greifen zu können. „Ehre dir, mein König!“ sagte er leise und verbeugte sich leicht. Dann stützte er die Klinge wieder auf seine Oberschenkel, öffnete die Hand und wandte sich an den Lord von Tairg. „Ihr könnt es nehmen!“
Dorban nahm das Schwert behutsam aus seiner Hand und stand auf. Er trat unter den überhängenden Zweigen hervor und betrachtete die Waffe im schwindenden Sonnenlicht genauer. Sie war von vollkommener Schönheit. Das Licht brach sich bläulich in der makellosen Klinge. Kurz darauf zeigte sich, dass sie auch die Schärfe eines Rasiermessers hatte. Das Gewicht war perfekt ausbalanciert, gleich ob man einen ein- oder beidhändigen Griff wählte. Er erledigte die Arbeiten schnell und reinigte die Klinge nach bestem Vermögen, bevor er sie zurückbrachte. Bearisean hatte dort auf den Fersen sitzend gewartet. Schweigend berührte er die Klinge über dem Heft mit den Lippen, bevor er sie zurück in ihre Scheide gleiten ließ. Auch Dorban sprach an diesem Abend kein weiteres Wort mehr.

An den nächsten beiden Tagen konnten sie nur kurze Strecken zurücklegen. Bearisean konnte ohnehin nicht alleine laufen, er musste sich auf Dorban stützen. Das Schwert hatte er deswegen schon auf seine rechte Seite geschnallt, wo es weniger hinderte. Aber er bestand darauf, es selbst zu tragen. Ihre Erleichterung war groß, als sie am dritten Tag dann endlich auf eine winzige Siedlung stießen. Es waren nur vier kleine Hütten, aber sie waren bewohnt. Sie erreichten sie am Nachmittag jenes Tages.
Zunächst stießen sie auf misstrauische Blicke. Dorban konnte es ihnen nicht verdenken. Sie mussten aussehen wie die verwildertsten und heruntergekommensten Banditen. Bearisean musste sich immer noch auf ihn stützen und war immer noch fiebrig, aber er hatte darauf bestanden, das Wort führen zu wollen. Er erklärte den Köhlern und Imkern, die dort lebten mit leiser und erschöpfter Stimme, wer er war und bat um Unterstützung. Dorban schüttelte nur innerlich den Kopf. Es war absolut sinnlos, irgendjemand glaubhaft machen zu wollen, dass der letzte Nachfahre Colins, der zudem ein Ritter des Königs sein wollte, hier in einem derartigen Zustand durch die Wildnis stolperte. Aber kaum endete Bearisean mit dem lapidaren Hinweis: „Und das ist Dorban, ein Ritter aus Dalinie, der mich nach Croinathír begleitet“, verbeugten sich die einfachen Leute und boten ihre volle Unterstützung an.
„Wir können nicht viel tun“, sagte der Wortführer. „Aber was wir haben, steht zu Eurer Verfügung.“
Dorban begriff es nicht, aber er war um Beariseans willen mehr als erleichtert. Die Wunden brauchten Zeit zum Heilen, und der Ritter brauchte bessere Verpflegung als die Rinden, Wurzeln, Kräuter und Maden, auf die sie sich hatten beschränken müssen. Er war erleichtert, dass Bearisean nicht viele Worte über ihn verloren hatte. Gerade jetzt wollte er keine Aufmerksamkeit. Ein unbekannter Name für einen neuen Anfang.

Die Nahrung war einfach. Doch nach den letzten Tagen war der härteste Kanten Brot ein unvergleichlicher Leckerbissen. Dorban stellte keine Anforderungen. Bearisean tat es nicht, und er war hier derjenige der zählte. Er lächelte nur, dankte herzlich für jede Kleinigkeit und ließ sich bei erster Gelegenheit, auf das Lager fallen, das ihm zur Verfügung gestellt wurde. Dorban fragte nach Wasser und begann, sich wieder um die Verletzungen des Ritters zu kümmern. Eine der Frauen unterstützte ihn dabei. Sie lächelte ihn scheu an.
Dorban betrachtete sie sich verstohlen näher. Nicht zu alt und nicht zu schlecht aussehend. Es war ohnehin belanglos. Er würde Beariseans Ruf hier nicht durch unpassende Handlungen beflecken. Er öffnete vorsichtig dessen Schwertgürtel, legte die Waffe aber neben den Ritter, zur Wand hin, an dessen linke Seite.
„Was ist passiert?“ erkundigte sich einer der Männer als er danach vor der Hütte saß und Beariseans Brustpanzer sorgfältig mit einem kleinen Lappen polierte, den man ihm gegeben hatte. „Ihr wurdet angegriffen?“
„Es war nicht hier in der Nähe“, antwortete Dorban. „Sondern weit im Osten. Im Osten von Dalinie.“ Er hatte inzwischen erfahren, dass sie sich irgendwo im Norden von Eannas befanden, nicht mehr auf dem Gebiet der Provinz selbst, sondern im Niemandsland der großen Wälder. „Der Schwarze Fürst auf Carraig ließ mich verfolgen. Und dieser Ritter des Königs kam mir zu Hilfe.“
„Aber sie waren stärker?“
Dorban sah ihre Angst. Er schüttelte den Kopf. „Es waren sehr viele. Der König selbst hat uns wohl gerettet. Der Ritter ist verletzt, weil er sich vor mich stellte, sich an meiner Stelle treffen ließ. Wir wissen selbst nicht genau, was geschah, aber wir fanden uns plötzlich etwa zwei Tage östlich von hier wieder. Wir müssen weiter zum Heer des Rates.“
Sie fragten nach mehr Neuigkeiten. Er erzählte nicht alles. Doch die Bedrohung aus Carraig konnte und wollte er nicht verschweigen. Er konnte ein Messer ausleihen und an einem Bogen arbeiten während der drei Tage, die Bearisean nur selten bei vollem Bewusstsein war. Auch ihre Kleider wurden gewaschen. Ansonsten hatten ihre Gastgeber nicht viel, was sie selbst entbehren konnten.

Als sie am vierten Tag wieder aufbrechen konnten, begleitete sie ein Junge von etwa vierzehn Jahren bis zur nächsten kleinen Ansiedlung weiter im Westen. Es waren zwei Tagesreisen, sagte er, aber sie benötigten fast drei. Bearisean tat sein Möglichstes, aber er war noch sehr geschwächt.
Langsam ging es so immer weiter nach Westen. Sie erreichten nach einiger Zeit den Briomhar, einen Nebenfluss des Toirseach. Es war Anfang Mai als sie endlich in die Nähe der Straße von Ruandor Richtung Toirseach gelangten. Bis dahin konnte Bearisean seinen Schwertarm schon wieder gebrauchen. Dorban hatte mit seinem Bogen ein paar Tiere erlegen können, und sie hatten Fleisch, Felle und Zähne gegen ein Messer und ein paar abgenutzte Fellüberwürfe eintauschen können. Aber sie wussten auch , dass die Zeit inzwischen sehr drängte.

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