Donnerstag, 1. September 2011

Kapitel 15.3


In den nächsten Tagen setzte Tauwetter ein. Es regnete viel, und die Stimmung im Lager war gedrückter. Ciaran wurde schweigsam, vertiefte sich ganz in seine Aufgaben. Was Diriac ihm gesagt hatte, verwirrte ihn. Was auch immer Diriac meinte, Estohar hatte nie positive Eindrücke von ihm bekommen. Wahrscheinlich überinterpretierte er die Dinge, die Pat und Restac gesagt hatten. Und die anderen? Er konnte sie schlecht fragen. Es war alles ganz normal. In Croinathír war er auch immer ganz gut klar gekommen mit seinen Kameraden. Später auch mit den Soldaten unter ihm und den anderen Offizieren. Für eine wirkliche Freundschaft hatte es jedoch nie gereicht. Sie hätten nicht verstanden, was ihn beschäftigte. Und Estohar ...
Noch am letzten Tag machte er eine seiner Kontrollrunden. Davim war noch nicht zurück. Bob, der ihn begleitete, sollte für die nächsten paar Tage die Verantwortung für die Wachen übernehmen. Er war nicht glücklich darüber. „Das ist nichts für mich“, setzte er Ciaran gerade zum drittenmal an diesem Tag auseinander. „Wenn man anderen Kommandos gibt, macht man sich nur unbeliebt.“
„So wie ich?“ fragte Ciaran interessiert zurück. Vielleicht erfuhr er doch noch, was man wirklich von ihm dachte.
Bob überlegte kurz. „Du? Nein, bei dir ist das anders. Das sind keine Kommandos. Nun ja, schon. Aber jeder kann sehen, dass es genau das ist, was nötig ist und kein Wort mehr.“
„Also“, sagte Ciaran. „Wo liegt dann das Problem?“
Bob grinste. „Das Problem liegt darin, dass fast niemand das kann. Ich jedenfalls nicht. Hoffentlich kommt Davim ... Da ist schon wieder eines dieser Drecksviecher!“ Schnell griff er in die Satteltasche und holte einen Stein heraus. „Diesmal bin ich vorbereitet“, murmelte er, als er den Stein warf. Der große dunkelgraue Wolf, dem der Wurf gegolten hatte, wich mit einem Sprung zur Seite aus und tauchte geräuschlos zwischen die Büsche hinter ihm.
„Lass sie doch. Sie tun nichts. Sie stehen nur da und schauen uns zu.“
„Es ist nicht normal“, Bob blickte finster auf die leeren reglosen Büsche. „Sie sollten längst tief im Wald verschwunden sein. Es ist fast Frühling. Überall gibt es mehr Beute als hier am Lager. Vielleicht warten sie, bis sie einen von uns allein erwischen.“
„Sie sind anders als die Wölfe, die ich kenne“, bemerkte Ciaran, als sie weiterritten. „In meiner Heimat waren sie kleiner. Sie verhielten sich auch nicht wie diese hier.“
„Von hier sind sie nicht“, sagte Bob finster. „Das nächste Mal nehme ich einen Bogen mit.“

******
Da warteten sie. Patris lächelte. Es amüsierte ihn, wenn andere auf ihn warten mussten. Am Horizont stand die Burg Ceannacht auf ihrer Felsklippe. Die Hänge waren immer noch weiß von Schnee. Der Winter hielt sich lang in diesem Jahr. Langsam führte er seinen Trupp den Hang hinauf, wo ihn die Führer der Belagerer erwarteten. Einen Bogenschuss vor der Reitergruppe oben ließ er die anderen Halt machen und ritt allein näher. Da war ein mittelgroßer Braunhaariger mit Spitzbart. Sicherlich ein Lord. Weniger wegen des teuren Pferdes und der gleichfalls teuren, hier eher unangemessenen, Kleidung. Sein ganzes Auftreten verkündete, dass er sich für bedeutsam hielt. Der neben ihm war nicht besser. Ein Schönling in gleichfalls eleganter Garderobe auf nicht ganz so teurem Pferd mit einer Narbe neben dem frisierten Schnurbart. Der dritte war interessanter. Immerhin sah er aus wie jemand auf einem Feldzug; er trug einen leichten Lederpanzer. Die Haare über dem kantigen Gesicht waren kurz geschoren. Er hatte viele Narben. Auch  hielt er sich etwas abseits von den beiden anderen. Zwei, drei von den Leuten Barraids waren auch dabei. Er sah die dunklen Mäntel. Aber sie hielten sich im Hintergrund.
Patris lenkte sein Pferd vor der Dreiergruppe quer, lehnte sich lässig im Sattel zurück und sagte: „Hi, ich bin Pat.“
Der Kurzgeschorene betrachtete ihn aufmerksam und abwartend. Aber die beiden anderen waren sichtlich aufgebracht. „Ihr seid spät dran, Bandit!“ sagte der Spitzbart schneidend. „Ich bin Lord Wilgos von Asterne, Protektor von Eannas. Wo bleibt dein Anführer?“
Pat ließ seine Zähne blitzen. „Ich glaube, das hier ist noch Roscrea“, meinte er träge. „Was verschlägt denn einen so hohen Herrn aus Eannas hierher?“
Der Kurzgeschorene verzog keine Miene, aber der Schönling brauste auf: „Hüte deine Zunge, und beantworte die Frage!“
Pat grinste unverschämt: „Und wer seid Ihr?“
„Das ist Renad von Glas Fhaile“, bemerkte der Kurzgeschorene. „Ich bin Reginald von Rina.“ Er verbeugte sich nicht, aber seine Haltung verriet Wachsamkeit dem Neuankömmling gegenüber. Renad und Wilgos warfen ihrem Begleiter finstere Blicke zu.
„Ah“, sagte Pat, „ich hätte erwartet, zuallermindest Lord Lassalle anzutreffen. Er ist verhindert?“
„Das reicht!“ rief Renad zornig und griff nach seinem Schwert. „Ich werde dir Respekt ...“

„Das ist Patris Erendar.“ Einer der schwarzgekleideten Reiter war nähergekommen. Er hatte das Auftreten eines Feldherrn und das Aussehen eines alterfahrenen und trainierten Kämpfers. Nicht dass er besonders groß war, nur breitschultrig mit einem starken Kinn und durchdringendem Blick. Die dunkelbraunen Haare waren kurz geschnitten. Er warf einen Blick des Missfallens auf das halb gezogene Schwert Renads und dieser stieß es hastig  zurück.
„Lord Dimail, wie ich sehe“, sagte Pat, ohne seine Haltung zu verändern. „Lange her, dass wir einander begegneten.“ Dimail nickte kurz.
„Sollte mir der Name etwas sagen?“ begann Wilgos. Reginald bellte ein kurzes Lachen, das den Lord deutlich verunsicherte.
„Warum sollte er das?“ antwortete Patris freundlich. „Euren habe ich auch noch nicht gehört.“ Er wandte sich dem Kurzgeschorenen zu. „Reginald. Aus Ecrin?“
„Ihr seid spät dran, Patris“, unterbrach Lord Dimail.
Patris warf einen kurzen Blick auf Ceannacht. „Tun die Verräter dort drüben ihre Arbeit nicht richtig? Oder wolltet Ihr diese Festung mit einer kurzen Belagerung brechen?“ Reginald bellte ein weiteres Lachen.
„Ersteres“, sagte Dimail ruhig. Aber er warf Wilgos einen verächtlichen Blick zu. Pat lächelte. Reginald verzog einen Mundwinkel zu einem halben Grinsen.
„Es ist nicht gerade so, als hätte ich große Erfahrung mit Belagerungen“, meinte Pat weiter.
„Du weißt genau, was wir von dir wollen“, Dimails Stimme wurde härter.
Pat richtete sich auf und hielt die Zügel etwas straffer. „Ja, ich weiß. Aber ich frage mich warum. Meine ... Künste sind nichts gegen die Euren, Lord Dimail.“
„Sie werden ausreichen.“
„Vielleicht.“ Pat warf noch einen Blick auf Ceannacht. „Nur, etwas sagt mir, dass mir dieser Auftrag nicht gefällt.“
Dimail ließ ein kaltes Lächeln sehen. „Wenn du wirklich darauf bestehst, können wir das hier vor allen diskutieren. Aber ich kann dich schon jetzt darauf hinweisen, dass das Resultat das gleiche sein wird.“

Pat zuckte die Schultern. „Nun denn. Aber die hier brauchen wir dazu nicht.“ Er winkte mit dem Handrücken in Richtung der Lords aus Eannas.
Wilgos wurde dunkelrot im Gesicht. „Wer auch immer Ihr seid, Patris Erendar, ich bin es, der hier das Kommando führt, und ich ...“
„Ihr könnt gehen“, unterbrach ihn Lord Dimail. Sein Ton duldete keinen Widerspruch. Wilgos zitterte vor unterdrücktem Zorn. So war er noch nie brüskiert worden. Mit verzerrtem Gesicht riss er jedoch sein Pferd herum und ritt davon. Renad folgte ihm direkt. Nur Reginald grüßte Patris mit einem Nicken und einer angedeuteten Verbeugung, bevor er langsamer folgte.
„Wer ist er?“ tobte Wilgos, als Reginald sie wieder erreichte. Bei allem Zorn achtete er darauf, dass dies außerhalb von Dimails Hörweite geschah. „Wie kann er sich erdreisten?“
Renad war auch nicht klüger. „Dimail deutete immer nur an, dass noch jemand Wichtiges käme. Mit den Banditen. Sie kamen von Norden.“ Er warf einen finsteren Blick auf Reginald, der jetzt zu ihnen herankam.
„Er ist aus Imreach“, sagte Reginald. „Und man sagt, er beherrscht die schwarzen Künste.“ Mit Genugtuung sah er, wie Wilgos erbleichte. Dann wandte er  sich wieder von ihnen ab. Dimail und Patris hielten noch dort auf dem Hügel und sprachen miteinander.

Patris ließ sein Pferd tänzeln. „Ich könnte mich weigern“, meinte er leichthin.
„Das könntest du“, sagte Dimail ruhig. „Andererseits würde es dich etwas kosten.“
Patris zog die Zügel an. Er legte den Kopf schief und betrachtete den schwarzgekleideten Lord ein wenig spöttisch.  „Warum bist du dir so sicher, mich zu kennen? Ich könnte damit eure Pläne durcheinander bringen. Vielleicht wäre es das wert.“
„Wenn du meinst“, Dimail verzog keine Miene.
Patris seufzte. „Er hätte Asrain hierher schicken sollen. Dann hätte ich mehr Spaß gehabt. Willst du dich nicht ein wenig beunruhigen lassen durch die Vorstellung, was er mit dir macht, wenn das hier scheitert?“
„Ich bin stets beunruhigt beim Gedanken an ihn.“
„Ah“, Patris seufzte nochmals. „Du bist fast so schlimm wie Akan. Warum ist er nicht hier?“
„Er hat zu tun. Deshalb verschwende ich hier meine Zeit mit dir. Würdest du dir das bei ihm leisten?“
„Wer jetzt?“ meinte Patris leichthin. „Redest du von Akan oder von seiner Hoheit?“
Dimail lächelte unverbindlich. Er wollte offensichtlich nicht antworten. Patris wusste ebenfalls, dass es Dinge gab, über die niemand sprach. So verzog er nur das Gesicht. „Nein, Dimail, Lieber, ich kenne meine Grenzen durchaus. Aber ich bestehe darauf, mir die wenigen Optionen, die noch bleiben, offen zu halten.“ Sollte Dimail aus dieser Antwort machen, was er wollte. Seltsam genug. Er selbst hätte nicht sagen können, wen von den beiden Genannten er mehr fürchtete.
„Also?“ erkundigte sich Dimail.
Patris presste die Lippen zusammen und antwortete missmutig: „Sag mir, was ich zu tun habe. Dann bringe ich es hinter mich.“

******
Isabell starrte das Päckchen an, das sie ihrem Briefkasten entnommen hatte. Das war nicht mit der Post gekommen. Dennoch, ihre Adresse stand darauf. Ein schmales Päckchen. Vielleicht ein Buch? Sie drehte es vorsichtig hin und her. Kein Absender. Kein Poststempel. Starkes Packpapier. Eine festsitzende Kordel. Und ein heftiges Kribbeln in der Magengrube.
Ungeduld. Aber sie zwang sich zu Sorgfalt. Überraschungen waren besser, wenn man sie genoss. Sie entknotete die Schnur. Entfernte vorsichtig die Klebestreifen. Das dicke braune Papier war gut gefaltet, mit scharfen Kanten. Dreimal war es um zwei dicke Pappdeckel gewickelt, die an einer Seite geleimt waren. An der anderen waren sie zweifach zusammen gebunden. Es sah alt aus. Ein Zettel klebte darauf. Nicht alt. Mit einer scharfen gut leserlichen Handschrift stand dort: „Das dürfte Euch interessieren.“
„Euch“! Die alte Anredeform. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die Schleifen aufzog. Zwischen den Pappdeckeln lagen ein paar Blätter. Leicht vergilbt und handbeschrieben. Sie grübelte über den Buchstaben. Doch. Sie konnte das lesen, wenn sie sich anstrengte. Sie kannte den Stil aus ihren früheren Kalligraphieübungen. Die Sprache war Latein, sie hatte schon etwas Keltisches befürchtet. Sie runzelte die Stirn. Die Überschrift war einfach. „Einige Notizen zu Elianna von Saldyr“.
Weiter. „Es sind uns wenige Aufzeichnungen von den Großen Kriegen erhalten. Sagen ranken sich um jene ferne Zeit der abhaileonischen Geschichte ...“ Ihr Herz schlug schneller. Abhaileon! Es würde vielleicht doch noch eine Chance geben, dieses Abenteuer nicht ganz zu versäumen.
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Ciaran war erleichtert, als der Aufbruch endlich heran war. Das Gefühl, dass die Zeit drängte war immer stärker in ihm geworden. Der Frühling schritt nun schnell voran. Junges Grün begann zwischen den verblichenen Farben des Vorjahres durchzuschimmern. Doch noch immer fegten kalte Stürme über das Land. Und immer wieder stießen sie auf die großen dunkelgrauen Wölfe. Den meisten der Männer waren sie unheimlich. Viele begannen einen Bogen bereit zu halten. Doch nie konnten sie eines der Tiere erlegen.
Diriac schien es eilig zu haben. Sie ritten lange Tagesstrecken und erreichten relativ schnell den Toirseach, der die südliche Grenze Dalinies bildete. Vor ihnen lag jetzt das Gebirge der Teach Reasa, immer noch schneebedeckt zwischen den Einzugsgebieten des Toirseach im Westen und der Uibhne im Osten. Und weit im Norden, ein Zufluß der Uibhne, entsprang der Siron an den Berghängen oberhalb Gleann Fhírinnes. Es war Nachmittag, als sie die Toirseachfurt durchquerten. Kein ganz einfaches Unterfangen, der Fluß war angeschwollen von der Frühjahrsschmelze. „Pat überquerte ihn noch auf Eis“, sagte Diriac, während sie warteten, dass auch die letzten die Furt unbeschadet passierten. Und dann leiser: „Heute nacht.“
Ciaran nickte. „Wenn ich keine Zeit verlieren will. Welche Wache gibst du mir?“
„Die dritte. Die zweite nehme ich. Aber es wäre gut, eine falsche Spur auszulegen.“
„Ich habe darüber nachgedacht“, sagte Ciaran. „Wir sollten uns ein wenig streiten. Mache heute abend etwas früher Lager.“
Diriac nickte. Er befahl etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang Halt. „Zeit die Pferde etwas zu schonen“, sagte er. „Jetzt, da wir den Fluß hinter uns haben, ist die beste Gelegenheit.“
Ciaran runzelte die Stirn. „Warum diese Stunde verlieren? Wir sollten es hinter uns bringen.“
„Niemand hier hat es so eilig, nach Carraig zu kommen“, bemerkte Diriac.
Ciaran zuckte die Schultern. „Na schön, dann gehe ich noch ein bisschen jagen.“
„Du bleibst hier!“
„Jetzt hör mal!“
„Ich bin dafür verantwortlich, dass du sicher nach Carraig kommst. Du gehst auf keinen Fall allein.“
„Diriac. Ich weiß, du meinst es gut. Aber manchmal übertreibst du“, Ciaran wurde gereizter, fügte sich aber mißmutig. Zu einem der Männer sagte er murrend: „Ich frage mich, was für einen Eindruck es macht, wenn ich auf Carraig mit einem Kindermädchen ankomme!“
Der Mann lachte. „Komm schon. Diriac meint es nur gut. Das weißt du doch.“
„Ja“, sagte Ciaran. „Nur letzthin übertreibt er einfach. So kann ich nicht in Carraig ankommen.“
„Und was willst du machen?“
Ciaran zuckte die Schultern. „Du wirst noch sehen.“ Er tat, als denke er nach. „Das dürften noch gut sieben Tagesritte sein bis Carraig.“
„Eher acht. Also, überschlaf es“, schlug der andere vor. „Oder rede mal mit ihm drüber.“

Diriac weckte Ciaran kurz, nachdem er selbst seine Wache angetreten hatte und sein Vorgänger eingeschlafen war. Er folgte ihm ein paar Schritte, als er leise sein Pferd wegführte. „Viel Glück!“ sagte er schließlich und wollte sich umdrehen, aber Ciaran hielt ihn zurück.
„Warte!“ Es war nicht einfach, es zu sagen. Aber es schien notwendig. „Wenn du je wieder von mir hörst, wird es unter dem Namen Ciaran sein. Ehemals Hauptmann der Palastgarde. Was ich jetzt bin oder sein werde ... Wie auch immer. Viel Glück!“
Diriac atmete tief, sagte aber nichts. Doch drückte er  ihm kurz mit einer Hand die Schulter. Ciaran schwang sich auf seinen Braunen. Die Nacht war dunkel, Diriac wurde sofort in den Schatten unsichtbar.

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