Mittwoch, 7. September 2011

Kapitel 25.1


XXV Dunkelheit auf allen Wegen

"Herr, du Gott meines Heils, zu dir schreie ich am Tag und bei Nacht. Denn meine Seele ist gesättigt mit Leid, mein Leben ist dem Totenreich nahe. Du hast mir die Freunde und Gefährten entfremdet; mein Vertrauter ist nur noch die Finsternis"        Psalm 88,2.4.19

Vor der Tür seines Arbeitszimmers erwarteten Akan seine beiden Unterführer aus Cardolan, die beiden ranghöchsten nach Urkha selbst. Das hätte für sich nichts bedeuten müssen, doch es war auf den ersten Blick erkennbar, dass etwas nicht stimmte. Selbst wäre er nicht gewarnt gewesen durch Barraids Verhalten. Beide sahen gleichermaßen gehetzt und ängstlich aus. Asrik war eher resigniert, Ingro fast manisch. „Später. Ich werde euch rufen lassen, um mir Bericht zu erstatten“, sagte er knapp. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass der Fürst etwas anderes gemeint hatte, das ihn erwarten würde. Aber statt zu gehen, fielen sie beide vor ihm auf die Knie. Akans Blick verfinsterte sich. „Was soll das heißen?“ verlangte er ungehalten zu wissen.
„Wir sind hier auf Befehl des Fürsten“, sagte Asrik, ohne aufzublicken. Wenigstens klang er beherrscht. Ingros Atem ging heftig. „Wir sollten Euch aufsuchen, sobald wir Carraig erreichten.“
Ein leichter Schatten glitt auf das Gesicht des Lords. „Drinnen“, sagte er. „Was es auch ist, fasst euch kurz.“ Er ging voraus.  „Nun?“ Er drehte sich um.
Ingro warf einen Seitenblick auf  Asrik und versuchte dessen Verhalten möglichst exakt zu kopieren. Asrik fiel wieder auf die Knie. Akan runzelte die Stirn, er schätzte solche Gesten nicht, und der andere wusste es und erzitterte. Dennoch blieb er, wo er war, und sprach klar.  „Der Fürst befiehlt, dass Ihr wegen meines Versagens auf Cardolan in diesem Winter mit aller Schärfe gegen mich verfahrt.“ Er atmete tief. „Er erlaubte mir hinzuzufügen, dass er wünsche, mich noch weiter gebrauchen zu können.“
Akan ließ die Finger seiner linken Hand unwillig auf seinem Gürtel trommeln. Er blickte auf den anderen seiner Unterführer. „Und du?“ Seine Stimme war härter als sonst, die Gefährlichkeit, die er stets ausstrahlte noch deutlicher.
Ingro erbleichte noch mehr. Er warf sich nach einem kurzen Zögern ganz zu Boden: „Der Fürst befiehlt, dass Ihr mich meinem Versagen auf Cardolan entsprechend bestraft. Er werde Eure Meinung in Erwägung ziehen, solltet Ihr feststellen, dass es für mich noch eine nützliche Verwendung gibt.“ Der zweite Satz fiel ihm deutlich schwerer.
„Was ist dort vorgefallen?“
Asrik holte tief Luft. „Wir verhinderten nicht, dass Urkha mit dem gefangenen Ardaner sehr unklug vorging.“

Wirklich großartig! Akan betrachtete sie beide finster.  „Ich werde euren detaillierten Bericht über alles Vorgefallene später hören. Es scheint, Ihr habt die Übergabe Eurer Pflichten noch nicht abschließen können.“ Asrik beugte bestätigend den Kopf. „Ich erwarte euch in exakt sechs Stunden hier. Bis dahin erledigt eure Aufgaben!“
Er wandte sich ab und verließ den Raum, um zu Barraid zurückzukehren. Ingrimmig fragte er sich, wie oft er an diesem Tag noch zwischen den beiden Räumen pendeln würde.
Asrik sprang sofort auf, als er gegangen war und eilte schon im Laufschritt zur Tür. Ingro erhob sich zunächst verständnislos, war aber klug genug, dann dem Beispiel des anderen zu folgen. Er holte ihn hinter der nächsten Ecke ein. Asrik blickte ihn erbittert an. „Du solltest als Ranghöherer von uns beiden bei Asrain Meldung machen. Ich kümmere mich um alles andere, bis du zurück bist. Wir müssen alles bis Mitternacht makellos hinterlassen können.“ Er stürzte weiter. Ingro begriff noch immer fast nichts, aber er eilte zu Asrain, um ihm als dem Oberbefehlshaber die Ankunft der Truppen aus dem Osten offiziell zu melden. Er hatte das bei der Ankunft gleich tun wollen. Aber Asrik hatte ihn davor gewarnt. Ihr Befehl sei, sich sofort bei Akan zu melden. Nun, viel Zeit war nicht verloren worden. Im Gegenteil, es gab noch sechs Stunden, bevor das namenlos Entsetzliche heran war.

Akan kehrte zu Barraid zurück. „Was genau wollt Ihr, dass ich mit diesen beiden anfange?“ erkundigte er sich. „Sie sind beide talentiert genug, aber das dürftet Ihr selbst wissen.“
„Sieh zu, dass du Ingro auf Asriks Standard bringst“, antwortete Barraid wegwerfend. „Ist er dazu nicht fähig, habe ich keine Verwendung für ihn. Schafft er es, kannst du deinen Mann behalten. Bei Asrik dürfte es mit einer harten Lektion getan sein.“
„Wie Ihr befehlt“, sagte Akan mit einer Verbeugung. „Asrik wird seine Strafe bis morgen erhalten. Zu was soll er dann noch zu gebrauchen sein?“
„Ein Kommando in zwei Wochen.“
Akan nickte. „Er wird es führen, auch wenn es ihn hart ankommen wird. Für Ingro werde ich mehr Zeit benötigen.“
„Besagte zwei Wochen.“ Der Ton des Fürsten war endgültig. „Wenn er bis dahin nicht tauglich ist, habe ich keine Verwendung für ihn.“ Dann begann er seine weiteren Wünsche kundzutun. Wie üblich war das Pensum im Grunde nicht bewältigbar und wie üblich wusste Akan, dass er Mittel und Wege finden würde, es zu bewältigen.

******

Die Befehlsübergabe der Truppen aus dem Osten war mustergültig erledigt worden. Neue Kommandeure waren ernannt. Als Akan kurz vor der angegebenen Zeit zu seinem Arbeitszimmer zurück kehrte, erwarteten ihn seine beiden Untergebenen bereits. Sie hatten wieder die gleichen Stellungen eingenommen wie als er sie am Nachmittag verlassen hatte. Keiner von ihnen rührte sich, als er eintrat und um sie herumging. Nur ihr Atem ging unregelmäßig.
Akan musterte sie beide missbilligend. „Ich höre“, sagte er schließlich. „Den vollen Bericht in chronologischer Folge!“
Nach einem Sekundenbruchteil des Zögerns begann Asrik mit dem Bericht über die Verfolgung Dorbans bis zu seiner eigenen Rückkehr nach Cardolan. Ingro übernahm genauso knapp und exakt mit den Ereignissen in Cardolan und auf der Ostheide. Akan unterbrach erst, als Ingro von Urkhas Interpretation des Befehls des Fürsten berichtete und sein Tonfall zögernder wurde. „Die Wahrheit!“ verlangte er knapp.
Ingro holte zitternd tief Atem und presste die Stirn fester an den Boden. „Ich realisierte nicht, dass es wichtig ist, diesen Ritter am Leben zu erhalten. Es kam mir entgegen, dass Urkha sich sein Grab schaufeln würde. Ich habe es versäumt, für die exakte Ausführung des Befehls des Fürsten zu sorgen.“ Seine Stimme brach am Ende des Satzes.
Akan blickte auf Asrik, der daraufhin den Bericht vervollständigte. „Sarto!“ sagte der Lord dann leise und ingrimmig.
Asriks Kopf schnellte sofort nach oben, aber Ingro begriff nicht. Akan bewegte einen Finger und Asrik sprach schnell und leise in Ingros Richtung: „Es heißt „Merkt auf!“ und beinhaltet, dass du kniest und den Herrn ansiehst.“ Ingro gehorchte hastig und kopierte die Haltung des anderen perfekt. Neben Furcht schimmerte Eifer in seinen Augen.

„Keiner meiner Befehle wurde schlecht befolgt“, begann Akan. Ingro wollte aufatmen, aber er bemerkte, dass Asrik sich um nichts entspannte. „Mit Ausnahme des unausgesprochenen alles zur vollkommenen Zufriedenheit seiner Hoheit auszuführen. Ein Fehler, den ich hier nicht wiederholen werde.“ Er machte eine kurze Pause. Dann erklärte er einfach. „Eure Privilegien und Ränge sind euch genommen. Ihr werdet ab jetzt nicht einmal Atem holen, wenn ich es nicht gestatte.“
Ingro sah aus den Augenwinkeln, dass Asrik wirklich den Atem anhielt. Es war lächerlich, so etwas wortwörtlich zu nehmen. Oder doch nicht? Lord Akan sprach nie ein Wort, das er nicht meinte. Ingro hörte auf zu atmen. Schmerz begann in seinen Lungen aufzuflammen, aber er ignorierte es.
Akan behielt sie scharf im Auge. Der Anflug eines grimmigen Lächelns spielte um seine Mundwinkel. Er machte eine kleine geringschätzige Handbewegung. Ingro sah erleichtert, dass Asrik wieder Luft holte. „Was dich angeht, Asrik“, erklärte der Lord, „wirst du überleben und in vierzehn Tagen ein Kommando übernehmen. Ich erwarte, dass du es übernimmst, selbst wenn du glaubst, keinen Schritt mehr kriechen zu können.“ Asrik regte sich nicht. Der Lord fuhr fort. „Ingro, dein Todesurteil ist so gut wie unterschrieben. Es fehlt nur noch das Siegel darauf. Mein Siegel.“ Ingro unterdrückte jede Reaktion. Er hatte Erlaubnis, hier zu knien und zu atmen, sonst nichts – das hatte er aus Asriks Reaktion begriffen. Wenn Akan damit zufrieden war, zeigte er es nicht. Unbewegt sprach er weiter.  „Aber du hast die Möglichkeit diese Besiegelung hinauszuschieben, falls du dich in den nächsten Tagen als gelehrig genug erweist.“
Der Lord verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging zum Fenster. Eine Weile blickte er auf etwas hinab, das den beiden – jetzt ehemaligen - Unteroffizieren verborgen blieb. Dann kam er zu ihnen zurück. „Ich vergeude mit euch wertvolle Zeit“, sagte er kalt. „Steht auf! Mir liegt nichts an Zeremonien.“ Noch bevor sie gehorchen konnten, wandte er sich ab und sagte im Gehen. „Asrik, du hast zwanzig Minuten, ihm alles Wichtige darzulegen. Mache deine Aufgabe gut, sonst kommt mein persönliches Missfallen zu allem, was dich ohnehin treffen wird, dazu.“ Er ließ sie allein zurück.
Asrik begann mit den Instruktionen, noch bevor sich die Tür hinter Akan geschlossen hatte. Ingro ließ sich zurück auf die Knie sinken und schloss die Augen halb, während er angestrengt zuhörte. Es war leichter, sich so zu konzentrieren. Er war entschlossen weiter zu leben. Sobald der andere schwieg, wiederholte er die Anweisungen leise für sich wie ein inbrünstiges Gebet. Er hatte ein ausgezeichnetes und geübtes Gedächtnis; das war von großem Vorteil, besonders da, wo es um den komplexen Inhalt einiger Befehle aus der ihm bisher unbekannten lange vergessenen Sprache Azarads ging. Asrik nickte, als er geendet hatte; die Wiedergabe war korrekt.
******

Asrain war während der folgenden zwei Tage äußerst gereizt. Abgesehen von den Momenten, in denen ihm wahre Panikattacken die Luft rauben wollten. Er war sich sicher, dass die Dissonanzen in der Harfe dabei waren sich aufzulösen. Noch dazu war der Ritter ihm gegenüber ungewöhnlich freundlich und zugleich abweisend. Er hatte Akan im Verdacht. Das war geschehen, nachdem dieser mit dem Ardaner gesprochen hatte. Es war ihm zuzutrauen, dass er so etwas tat, nur um Asrain in Misskredit zu bringen. Er hatte versucht, ihn deswegen zur Rede zu stellen. Zuerst hatte er nach ihm geschickt, aber eine bedauernde Abfuhr bekommen. Inzwischen ziemlich außer sich suchte er ihn selbst auf und fand ihn mit finsterer Miene in den Verliesen. Was auch immer er da zu tun hatte. „Ich bin Befehlshaber hier in Abhaileon“, sagte er zornig. „Ich habe nach dir gerufen.“
Akan warf ihm einen kurzen Blick zu und verbeugte sich flüchtig. „Du bist Befehlshaber in Abhaileon. Darum habe ich mich entschuldigen lassen. Die Befehle seiner Hoheit haben jedoch Vorrang und dulden keinen Aufschub.“ Er wandte sich schon wieder ab.
„Ich befehle dir, mir Rede und Antwort zu stehen.“
„Wie du willst“, sagte Akan. „Ich höre dir zu auf dem Weg zwischen meinen anderen Aufgaben und werde auch antworten, insofern ich nicht gerade anderweitig beschäftigt bin.“
„Das ist Insubordination!“ tobte Asrain.
„Geh zu seiner Hoheit“, entgegnete Akan gleichgültig. „Ich habe keine Zeit für Streit.“

Asrain blieb nichts anderes übrig, als neben ihm herzugehen, um ein paar Worte zu wechseln. In jeder anderen Lage hätte er beim Fürsten selbst protestiert, doch zur Zeit war nichts wichtiger als ein Gespräch mit diesem zu vermeiden. Das Wort hätte auf die Harfe kommen können und dann ...  „Etwas stimmt nicht mit diesem Ritter, seit du mit ihm gesprochen hast.“
„Worauf begründest du diese Behauptung?“
„Das geht dich nichts an!“
Akan zuckte die Schultern. „Es ist alles in bester Ordnung. Was auch immer du gerade bemerkst. Es wird sich ändern.“
„Etwas ist am Scheitern!“
Akan schüttelte verächtlich den Kopf. „Der Zusammenbruch ist nahe. Wenn du mir nicht glaubst, frage Fíanael. Sobald er zurück ist. Der sollte auch fähig sein, es zu erkennen.“ Er schlug Asrain eine Tür fast ins Gesicht hinein zu.
Der Lord blieb wutschnaubend zurück. Er würde Fíanael natürlich nicht fragen. Es war schlimm genug, dass er mit Akan gesprochen hatte.
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Zwei Tage lang war Robin glücklich. Er lächelte nur, wenn keiner der Winianer um ihn war und hielt sich ganz an seine übliche Trainingsroutine. Aber sein Herz war endlich wieder leicht. Er plante die Rückkehr in die Ställe sorgfältig. Am frühen Abend schien dort alles verlassensten zu sein. Doch er hatte ohnehin nicht vor, sich besonders auffällig zu benehmen. Am zweiten Abend wählte er von seinem Waffentraining denselben Weg, den Akan ihn geführt hatte. Er konnte immer noch vorgeben, es sich überlegt zu haben und mit dem Winianer über Musik sprechen zu wollen. Falls er überhaupt anzutreffen war; er hatte seit jenem ersten Gespräch keinen Blick mehr auf ihn erhascht.
Robin ließ sich Zeit, blieb bei dem einen oder anderen Pferd stehen und redete ihm freundlich zu. Er hatte ein paar verschrumpelte kleine Äpfel aufgespürt, die er dabei verfütterte.
Der Rapphengst stand ruhig und mit gespitzten Ohren in seiner Box, als Robin näher kam. Nur sein Schweif zuckte unruhig hin und her. Robin lächelte ihn an. Nun, ganz aus der Nähe, konnte kein Zweifel bestehen. Er kannte jede Linie des Rappen, jede noch so kleine Bewegung war vertraut. „Wir haben uns schon gesehen“, sagte er für eventuelle Zuhörer. „Schön, dass du heute nicht ganz so zornig bist, Schöner.“ Aber sein Blick war eine Frage, die andere Worte sprach. Der Rappe reagierte weder auf die gesprochenen noch die unausgesprochenen Worte. Robin zog einen Apfel aus der Tasche, während er langsam näher trat, und hielt ihm dem Pferd vor die Nase. Er erwartete zumindest ein freundliches Schnauben, das nur er verstehen konnte. Aber nichts dergleichen. Der Rappe rollte mit den Augen und bleckte die Zähne. Kein Zeichen des Verstehens.
„Schon gut“, sagte Robin freundlich. „Nimm trotzdem wenigstens den Apfel.“ Der Hengst schnupperte. Dann kam er langsam näher. Er streckte die Nase in Richtung des Obstes und schnappte zu.
Robin warf sich trotz seiner Überraschung schnell nach hinten. So schnell, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Stallboden stolperte. Ungläubig stützte er sich mit der Linken auf und sah auf seinen zerrissenen rechten Ärmel. Eine dünne Spur von Blut sickerte aus der gequetschten Haut hervor. Der Apfel war davon gerollt. Er wusste nicht wohin. Der Hengst wieherte schrill und bearbeitete mit den Vorderhufen die Türseite seiner Box.
Der Ritter stand vorsichtig auf und entfernte sich langsam. Aber der Rappe beachtete ihn nicht weiter. Er hatte sich offenbar in einen richtigen Wutanfall hinein gesteigert. Seine Augen zeigten nur noch das Weiße und waren blutunterlaufen. Er attackierte zornig die Wände seiner Box und schien die Ursache seines Ausbruchs ganz vergessen zu haben.

Schon fast am Ausgang blieb Robin noch einmal stehen und sah zurück. Es konnte keinen Zweifel mehr geben. Dieses Pferd, so ähnlich es ihm auch sehen mochte, war nicht Hibhgawl. Aus irgendeinem Grund schien deswegen die Welt für ihn zusammen zu brechen. Er änderte automatisch seinen Weg ab, zurück auf sein Zimmer. Er musste die zerrissene Weste wechseln. Es war ihm auch nicht nach einem Gespräch mit einem der Lords zu Mute. Er hatte Glück und begegnete auch keinem von ihnen. Auf seinem Zimmer angekommen, schnallte er den Schwertgürtel ab und legte ihn auf den Tisch. Er zog die Weste aus, wusch vorsichtig die Wunde aus und verband sie provisorisch, legte die Stiefel ab und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf sein Bett.
In ihm war alles leer, wie ausgebrannt. Er wusste, dass sein Schwert ihm neue Kraft geben konnte. Doch er fand nicht mehr die Stärke aufzustehen und es von dem Tisch zu holen, wo er es hingelegt hatte. Alle Müdigkeit und Erschöpfung, die er schon seit Wochen zurückgedrängt hatte, schienen aufzusteigen wie gewaltige Flutwellen und über ihm zusammenzuschlagen. Ihn begann zu frösteln und er zog die Decke um sich. In einer fernen Ecke seiner Gedanken stellte er fest, dass das eine Schockreaktion sein musste. Von fern fühlte er auch, dass er das Bedürfnis hatte zu weinen, doch es kamen keine Tränen. Trotz der großen Müdigkeit war auch nicht an Schlaf zu denken. Er saß nur so da bis in die frühen Morgenstunden hinein, zitterte in der Decke und konnte keinen klaren Gedanken fassen.

******
Asrain saß vor dem Tisch, auf dem die Harfe lag, und brachte es nicht über sich, sie nochmals zu überprüfen. Er befürchtete, dieses Mal würde auch die kleinste Dissonanz verschwunden sein. Er schwor sich, dass er in dem Fall zum Fürsten ginge und Akan die ganze Schuld anlasten würde. Der musste damit zu tun haben. Draußen war es schon lange dunkel geworden.
 Barraid kam wie üblich bei seinen seltenen Besuchen unangemeldet. Asrain fragte sich, ob Akan ihm zuvorgekommen war und selbst dem Fürsten erzählt hatte, was geschehen war. „Wie steht es also?“ fragte Barraid.
„Seht besser selbst“, Asrain merkte, dass seine Stimme rau war. Würde es nur zur Folge haben, dass er nicht mehr Oberbefehlshaber in Abhaileon war oder war Schlimmeres zu befürchten? Er vermutete Letzteres.
Der Fürst nahm die Harfe und strich darüber. „Ausgezeichnet“, sagte er. „Wie ist das gelungen?“

Asrain fehlten für einen Moment die Worte. Es war keine Sinnestäuschung gewesen. Diese Dissonanzen hätte er in größter Achtlosigkeit nicht überhören können. „Eigentlich gar nichts Besonderes“, brachte er dann hervor. „Er war wohl ohnehin kurz vor dem Bruchpunkt. Ich habe nur das Bestehende etwas vertieft.“ Sein letzter Vorstoß an diesem Nachmittag war ein Fiasko gewesen, wie er sehr wohl wusste.
Barraid nickte zufrieden. „Akan hatte auch bemerkt, dass das kurz vor dem Durchbruch steht“, sagte er. „Der Rest dürfte um einiges einfacher werden.“
Als er gegangen war, griff der Lord gierig nach dem Instrument. Er atmete erleichtert auf, als er die Saiten anstrich. Er wusste nicht wie, aber er hatte gewonnen.
Er rief den seiner Leute zu sich, dem er aufgetragen hatte, den Ritter im Auge zu behalten, während er selbst versuchte Akan aufzuspüren. Vielleicht hatte der Mann einen Hinweis, was geschehen war. Doch der langweilige Rapport förderte nichts zu Tage. Es war wohl kaum der kleine Kratzer, den der Dummkopf sich bei Barraids Hengst geholt hatte. Mehr aus einer Laune heraus, fügte er eine andere Frage hinzu.

„Asrik?“ sagte der Mann. „Wisst Ihr es noch nicht, Herr? Er und Ingro hatten doch einen heftigen Zusammenstoß mit dem Fürsten noch dort auf Cardolan. Sie behielten ihr Kommando, bis sie die Truppen hierher brachten. Niemand hat sie seitdem mehr gesehen. Es heißt, Lord Akan sei für ihre Bestrafung zuständig, da er ja Kommandant von Cardolan ist.“
Natürlich. Hätte er sich nicht den Kopf wegen dieser Harfe zerbrochen, hätte er es längst gewusst. Ingro hatte bei ihm Meldung erstattet und etwas gesagt, dass er das Kommando an wen-auch-immer abgäbe. Aber er hatte gerade die Harfe überprüft gehabt und war zu beschäftigt mit dem Schwinden der Dissonanzen gewesen, als dass er viel auf das geachtet hätte, was dieser kleine Offizier über das derzeit reichlich irrelevante Cardolan sagte.
Das erklärte auch Akans finstere Laune an diesem Nachmittag. Vermutlich hasste er es, seinen Mann Asrik zu verlieren, und es auch noch selbst erledigen zu müssen. Es hieß, dass er viel Arbeit in die Ausbildung seiner Leute investierte.  Und Asrain erinnerte sich, dass Ingro auch immer viel zu fasziniert von seinem neuen Kommandanten gewesen war. – Wirklich, das war die beste Nacht seit sehr langer Zeit.
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