Sonntag, 4. September 2011

Kapitel 20.3

Ein Zittern ging durch die Luft. Anders konnte man es nicht nennen. Begleitet von einem kaum wahrnehmbaren hohen Ton. Die Pferde scheuten alle unruhig. Weiter hinten hörte Lassalle ein paar der Beizvögel zornig schreien. Er klopfte dem Rotschimmel beruhigend den Hals. Das Tier ging schon wieder weich, aber es legte die Ohren etwas nach hinten, als sei es immer noch über etwas erregt. Vor ihnen an den Hängen zeigte sich eine dunkle wirbelnde Wolke. Vögel. Eine Weile kreisten sie über dem Hang, bevor sie abrupt nach Nordwesten davon flogen.
„Schade, dass wir die Beiz aufgegeben haben“, bemerkte Reginald nach einer Weile. „Heute Nachmittag sind ungewöhnlich viele Kleintiere zu sehen.“
Lassalle blickte nachdenklich auf den Vulkan. Seit mehr als tausend Jahren lag er still da. Spiegelte er jetzt Gearaids brodelnde Wut wieder? Aber nichts zeigte sich mehr an den hohen Hängen. Friedlich lag das Land unter der Sonne.

Als Ciaran zur von ihm festgesetzten Zeit auf den Marktplatz von Escaile ritt, folgten ihm von allen Seiten her neugierige Blicke. Die Straßen waren voller Menschen. Aber für ihn öffnete sich schon von weitem eine Gasse, als er Doitean im Schritt über die Hauptstraße von gehen ließ. Der Fuchs hielt den Kopf hoch und hatte aufmerksam die Ohren gespitzt. Niemand hob die Stimme in seiner Nähe, aber gelegentlich hörte er Bruchstücke geflüsterter Sätze. „... der Rat hat ein Heer geschickt ....“, „... ein neuer Herrscher ...“, „... der Schwarze Fürst ...“, „... Alandas ...“, „... aus dem Norden ...“, „Krieg mit Abhaileon“, „Krieg gegen Carraig“ ... Keines der Gesichter zeigte einen eindeutigen Gefühlsausdruck, doch schienen Angst und Besorgnis vorzuherrschen. Erst direkt am Marktplatz wurden die Straßen leerer. Der Schatten der Sonnenuhr auf dem Platz zeigte exakt die dritte Stunde an, als sein Pferd von Osten kommend auf die Fläche hinaustrat. Ein paar Reiter warteten in der Mitte des Platzes, aber während er Doitean dorthin lenkte, kam ein noch größerer Trupp aus einer der Straßen im Südwesten. Schon von weitem erkannte er Gearaid von Eannas in dieser Gruppe. Er trug Jagdkleidung, und auch wenn er sein Pferd jetzt langsam gehen ließ, zeigten die Schweißflecken auf dem Fell des kastanienbraunen Hengstes, dass er es noch vor kurzem stark angetrieben hatte.
Sie erreichten das Zentrum des Platzes fast zur gleichen Zeit. Der Fürst war flankiert von zwei Männern. Der eine war Renad, sein Gesicht eine Maske mühsam beherrschten Hasses. Der andere war massig, fast kahlköpfig mit einem gewaltigen, herabhängenden roten Schnurrbart. Narben machten sein etwas aufgedunsenes Gesicht noch unschöner. Scharfe Augen waren es jedoch, die da graublau unter den dichten roten Brauen hervorschimmerten. Dieser Mann war weit gefährlicher als Renad, begriff Ciaran.

Gearaids Augen blitzten gefährlich, aber seine Stimme war Höflichkeit selbst. „Ihr habt eine Botschaft für mich?“
Ciaran ließ sich Zeit zu antworten. Die Begleiter des Fürsten gruppierten sich im Halbkreis hinter ihm. Er nahm an, dass es sich bei ihnen um Lords von Eannas handelte. Er selbst kannte nur einen von ihnen flüchtig. Hager und groß mit tief liegenden Augen, das war Ingvar von Rensdal. Ihn hatte er flüchtig in der Hauptstadt gesehen. Gearaid selbst besuchte den Rat nur selten und ungern. Gewöhnlich schickte er nur niedrigrangige Gesandte, eine Art seine Verachtung für die Regierung Abhaileons zu zeigen. Estohar war öfters außer sich gewesen darüber. Aber manchmal wurden auch für Dinge verhandelt, die für Eannas wichtig waren. Bei einer dieser Angelegenheiten war Rensdal geschickt worden. Im Laufe der Verhandlungen war es fast zu einem tätlichen Zusammenstoß zwischen ihm und Ludovik von Ruandor gekommen. Das Temperament des ruandorischen Fürsten war hitzig, und es schien, dass Rensdal die Grenze nach Ruandor nicht immer respektierte.
Er fragte sich, wer von diesen Männern der berüchtigte Lassalle war. Da auch Rensdal nur in der Gruppe stand - und er galt als einflussreich - und Renad, der so wenig Autorität an sich hatte, an der Seite des Fürsten war, konnte die Aufstellung alles oder nichts bedeuten.
Sein Fuchs war schneller als jedes Pferd hier und sein Rücken immer noch frei. Aber er wusste, dass Flucht keine Option für ihn war. Gleichzeitig war er sich sicher, dass er hier nur auf massive Feindseligkeit stoßen würde. Er verbannte alle Gedanken aus seinem Kopf. Er hatte einen Auftrag. Diesen würde er ausführen

Arnim hatte sein Pferd entschlossen an Gearaids Seite gelenkt. Seit er die winianischen Lords gemieden hatte, gab es Stimmen, die flüsterten, es gebe etwas, das sogar Lassalle fürchte. Es war Zeit mit dem Unsinn aufzuräumen. Gearaid war erfreut gewesen, ihn neben sich zu sehen und hatte nur allen anderen bedeutet, etwas zurückzufallen. Arnim bedauerte wirklich, Erendar nicht selbst begegnet zu sein. Dann hätte er einen Vergleich gehabt. Der Unbekannte kam auf einem guten Pferd. Ein leichtfüßiger junger Fuchs mit starken Muskeln, tiefer Brust und langer Mähne – ein fürstliches Pferd. An dem Schwert, das er trug blitzte es von Edelmetall und edlen Steinen. Prächtige Waffen waren nicht unbedingt nützlich im Kampf, aber sie machten eine Aussage über den Rang ihres Trägers. Das Merkwürdigste jedoch war, dass dieser Mann allein kam. Das machte keinen Sinn. Mächtige Männer ritten nicht ohne Begleitung – Macht war stets umkämpft. Oder fühlte er sich so stark, dass er keinen Schutz brauchte? Fíanael ritt auch oft allein, wenn er Eile hatte. So viel Protektion aus Carraig für einen Dalinianer? Oder war ein Zauberer wie Erendar? Es war schwer zu glauben, wie er dort im Licht des hellen Tages ruhig näher kam. Andererseits, Regi behauptete, auch der Hexer sei auf den ersten Blick unauffällig gewesen.
Der fremde Ritter zügelte sein Pferd zum Halt. Ruhig glitt sein Blick über sie alle, als Gearaid seine Frage gestellt hatte. Intensive Augen hatte der Mann. Sie schienen bis ins Herz zu sehen. Zuletzt blieben sie auf Gearaid haften. Er hob die Stimme, als er sprach, dass es über den Platz bis in die Straßen hallen musste. „Mein Name ist Ciaran von Firin. Ich komme im Auftrag des Fürsten von Alandas.“ Er verbeugte sich nicht.

Arnims Studium des Mannes intensivierte sich. Die Stimme war befehlsgewohnt, das hatte der erste Satz enthüllt, die Haltung selbstbewusst. Er sah auch gut trainiert aus, die Muskeln eines Kämpfers. Nicht sehr groß, aber gut proportioniert. Die Kleidung robust, mit Spuren eines langen Rittes aber teuer. Aus dem Augenwinkel blickte Lassalle auch auf Gearaid. Einen seltsamen Ausdruck hatte der in den Augen. Immer noch zornig, aber zugleich vorsichtig. Ein großer Fürst war schon aufgetaucht aus dem Dunkel der Märchen und Sagen. Barraid und seine Lords hatten ihm deutlich gemacht, dass es ungeahnte Mächte gab, die seine Macht weit übertrafen. Und nun tauchte der zweite große Fürst aus der Welt der Sagen auf, der von Alandas. Nein, Gearaid lachte nicht über das, was da gesagt wurde.
„Ihr habt ein Bündnis mit dem Schwarzen Fürsten auf Carraig, Fürst von Eannas“, fuhr der fremde Ritter fort. „Ihr habt großes Unrecht gegen Fürst Ros zu verantworten. Ein Unrecht groß genug, um den Reichsbann herauszufordern: die Ermordung von Frau und Tochter des Fürsten, als Eure Truppen in Allianz mit den Banditen Restacs Ceannacht einnahmen.“

Renad zischte wie ein überhitzter Kessel, aber Gearaid hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. „Das sind schwere Anschuldigungen“, sagte er mit einer Stimme, der kaum anzumerken war, dass die Gelassenheit erzwungen war. „Es scheint, Ihr glaubt Gerüchten, die mich verleumden wollen. Aber selbst wenn dem so wäre, welches Recht hättet Ihr als Gesandter von Alandas auf abhaileonischem Boden Rechenschaft für Angelegenheiten Abhaileons zu fordern?“
„Zweifaches Recht“, sagte der fremde Ritter ruhig. „Zum einen das Recht als Ritter des Königs, der allein die oberste Herrschaft über Abhaileon hat.“ Er legte kurz die Hand auf das Heft seines Schwertes. Auf Gearaids Lippen begann ein herablassendes Lächeln zu treten, aber Arnim sah es: Als der Ritter das Schwert berührte, war da etwas wie Licht um ihn, etwas Hoheitsvolles. Er fragte sich, wer es noch sehen mochte.
Doch der Ritter sprach weiter: „Zum zweiten trage ich das Siegel der Regenten von Abhaileon.“ Er hielt seine rechte Hand hoch und drehte sie, dass alle den Ring sehen konnten. Licht funkelte in einem grünen Smaragd. Niko nahm die Zügel auf, als wolle er sein Pferd nach vorn treiben. Arnim hörte ein paar unterdrückte Ausrufe im Halbkreis hinter sich. „Alles in Abhaileon begangene Unrecht fällt unter meine Gerichtsbarkeit.“ Noch einmal blickte der Ritter, der vermutliche Regent, über die ganze Gruppe. „Das hier begangene Unrecht ist groß“, sagte er, „und mannigfaltig. Aber Abhaileon steht im Krieg. Darum gewähre ich jedem Amnestie, der darum bittet und sich der gerechten Sache anschließt.“ Leiser fügte er hinzu. „Selbst Euch, Gearaid.“
Arnim warf einen vorsichtigen Seitenblick auf Gearaid. Da lag wirklich eine Spur von Lächeln auf dem Gesicht des Fürsten. Ein gieriges Lächeln und Entschlossenheit.

Ingvar ließ seinen Braunen einen Schritt nach vorne machen. „Ich denke ...“ begann er, aber Gearaid unterbrach ihn schnell. „Die Echtheit des Siegels muss geprüft werden. Und was Ihr sagt, erfordert Entscheidungen, die nicht hier auf dem Markt getroffen werden können. Ihr solltet uns auf Burg Escail begleiten, Herr Ciaran.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Renad, Cathal, Riam – begleitet unseren Gast.“ Er verbeugte sich leicht, „Eine ganz persönliche Eskorte.“ Die drei Genannten trieben ihre Pferde auf den Ritter zu.
Ciaran rührte sich nicht. Er blickte auf den Fürsten. Diesmal hob er die Stimme nicht, als er sagte: „Mein Pferd ist schneller als jedes der Euren. Aber warum sollte ich fliehen? Ich komme nach Escail. Und ich werde Escail verlassen. Nichts wird das verhindern können.“
„Wer würde Euch hindern wollen?“ entgegnete Gearaid. „Doch jetzt entschuldigt mich. Regent“, er verbeugte sich sogar noch einmal leicht. „Escail ist nicht auf Euren Empfang vorbereitet. Ich selbst werde dafür sorgen, dass Ihr das Willkommen findet, das Euch gebührt.“ Er winkte ein paar seiner Leute zu sich, verbeugte sich zum dritten Mal und ließ sein Pferd in einen schnellen Trab fallen. Zwei der Lords folgten ihm mit ihren Gefolgsleuten.

Renad hielt nun rechts neben dem fremden Ritter. Er war immer noch vergebens um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht. Riam und Cathal hielten an Ciarans anderer Seite. Der Regent blickte über die verbliebenen Lords. Keiner erwiderte seinen Blick, ihre Gesichter waren Masken aus Stein. Keiner bis auf den Hünen mit dem rotblonden Schnurrbart. Der musterte ihn eingehend, bevor er wie gleichgültig sein Pferd zur Seite wandte, von ihm weg.
„Wir sollten aufbrechen“, sagte Renad.
„Ich werde Euch folgen“, sagte Ciaran.
Der Lord von Glas Fhaile ließ sein Tier in Schritt fallen. Cathal zögerte kurz, übernahm dann aber den Platz dicht an Ciarans Rechten. Der Ritter blickte ihn an, und er wich unwillkürlich etwas weiter zur Seite. Einer nach dem anderen schlossen sich die übrigen an.

Lassalle hielt sein Pferd zurück. Er gab niemandem ein Zeichen. Seine Entscheidung war gefallen, aber er musste zuerst wissen, wo die anderen standen. Reginald war natürlich an seiner Seite. Es war keine Überraschung, dass Ingvar ebenfalls zurückblieb. Elgin und Otho warteten auch. Rieken saß für sich auf seinem Falben und spielte nachdenklich mit dem Zügel. Niko, der sich den Wegreitenden angeschlossen hatte, blickte zurück und zögerte. Er warf einen Blick auf Fiannain und Eamain, dann noch einen auf Lassalle. Der nickte kurz und winkte ihm dann weiterzureiten. Niko würde früh genug eingeweiht werden. Eamain und Finnain also? Dann würden Obhain und Reasan folgen.
Arnim veranlasste seinen Schimmel mit einem leichten Schenkeldruck, sich in Bewegung zu setzen. „Lasst uns ein wenig reden“, sagte er, als er Ingvar erreichte.
Der Lord von Rensdal wirkte  bleicher als gewöhnlich. „Ein Meinungsaustausch?“ fragte er vorsichtig.
„Für den Anfang“, stimmte Lassalle zu. „Nun, was meint ihr?“
Otho lachte tonlos auf.  Aber alle schwiegen. „Ihr könnt reden“, sagte Arnim. „Ich kann jeden von euch um den Kopf bringen, wenn es mir nur darauf ankommt, und wir können einander hier in gewissem Rahmen trauen. Also?“

„Gearaid will den Ring“, brach es zornig aus Rieken heraus. „Er wird ihn ermorden lassen!“
„Er will mehr als den Ring“, entgegnete Ingvar. „Er will auch Informationen über Alandas. Darum wird der ..., wer er auch ist, nicht gleich sterben.“
„Dieser Ring“, sagte Elgin, „ich möchte ihn wirklich sehen. Wenn es das Siegel Abhaileons ist ...“ Eine Weile herrschte Schweigen. Sie hatten sich nicht allzu schwer getan, dem Rat in Croinathír den Rücken zu kehren. Der Rat war eine Farce. Er stand nicht für Abhaileon nach ihrem Verständnis. Genauso wenig wie für die Mehrzahl der Provinzen. Das waren nur ein paar von denen da oben im Norden, die ihn unterstützen. Aber der Regent stand für Abhaileon. Ein Abhaileon, das sie nie gekannt hatten, aber dessen Nennung etwas in ihnen berührte
„Ich werde nicht einfach zusehen, wenn der Regent ermordet wird!“ Riekens Stimme war noch erregter. Er funkelte sie alle an.
„Regent. Es steht ja nicht fest, ob er wirklich der Regent ist“, warf Otho ein. „Vielleicht ist er nur ein Verrückter. All das mit Alandas und dem König ...“
„Hast du seine Augen gesehen?“ widersprach Elgin. „Der Mann ist nicht verwirrt. Und diese ruhige Sicherheit, wie er da auf diesem prächtigen Fuchs saß. Er weiß genau, was hier geschehen ist, und er weiß auch jetzt, was Gearaid plant.“
„Wenn er das wüsste, warum reitet er dann nicht um sein Leben?“ unterbrach Otho trocken.
„Es klingt fast, als habest du dich verliebt“, bemerkte Reginald boshaft. „Ach, was sind seine Augen von strahlendem Blau und wie aufrecht ist seine Haltung“, flötete er.

Elgins Gesicht wurde düster. Aber Lassalle hob die Hand. „Es ist etwas Ungewöhnliches in ihm“, sagte er fest. „Ich sah es auch.“ Reginald sah nicht aus, als sei er einverstanden, sagte aber nichts weiter. „Er kann nicht flüchten, weil er der Regent ist“, fuhr Lassalle fort, „und vielleicht mehr als das ist. Der Regent muss stark sein.“
Ingvar nickte. „Er war beeindruckend. Aber wie es steht, werden wir weder das Siegel sehen, bevor es an Gearaids Hand prangt, noch viel mehr von dem Fremden.“
„Er hat Verstand“, sagte Reginald plötzlich widerwillig. „Das mit der Amnestie war ein gekonnter Zug.“
„Es ermöglicht mir, wirklich zu handeln“, sagte Arnim.
„Du willst ihn also befreien?“ erkundigte sich Otho.
„Ihr denkt nicht weit genug“, sagte Arnim. „Doch zunächst wird genau das geschehen müssen.“
„Ich sehe es als meine Pflicht an, das Verbrechen zu verhindern“, rief Rieken sofort.
„Vorausgesetzt wir haben die Sicherheit, dass das Siegel echt ist“, sagte Ingvar scharf.
Otho nickte: „In dem Fall bin ich dabei. Zudem, Mactir war ein Freund. Mir gefiel nicht, was da heute Morgen geschehen sollte, und er hat Renad tüchtig auf die Finger geschlagen.“
„Ich bin dabei“, sagte Reginald mit einem Schulterzucken. „Zeit, dass Wilgos und die anderen einmal sehen, wer in Eannas das Sagen hat. Du hast lange genug gewartet, Arnim.“
„Ich habe lange gewartet“, bestätigte Lassalle. „Und du, Elgin?“
„Ich hoffe schon lange auf eine Alternative zu dem da im Norden. Berais steht für den Regenten.“
„Dann probieren wir Folgendes“, begann Arnim.

Sie näherten sich der Festung Escail. Die Burg lag oberhalb der Stadt am flachen Berghang inmitten der Weinberge. Ein gewaltiges Gebäude und gut gesichert gegen Angriffe. Ciaran wusste, dass es erst nach den Großen Kriegen gebaut worden war. Die alte Festung war damals zerstört worden. Die neue hatte sich nie bewähren müssen. Aber damals hatten viele nichts dem Zufall überlassen wollen. Um in das Innere zu gelangen, musste erst ein langer ansteigender schmaler Korridor durchritten werden, der zwischen Außen- und Innenmauer verlief und fast das ganze Gebäude umrundete. Aus der Mauer über dem Gang schauten zahlreiche Schießscharten herab. Auf dieser schmalen Strecke konnten nur je zwei Männer nebeneinander reiten. Er sollte jetzt andere Sorgen haben, aber er war neugierig darauf, die Anlagen zu sehen. Estohar mochte ihm Leichtsinn und Ungestüm vorgeworfen haben, aber er hatte stets Methoden der  Verteidigung intensiver studiert als die des Angriffs. Und er hatte immer mit einem Krieg gerechnet, auch wenn alle anderen es nicht wahrhaben wollten.
Cathal und Riam hatten ihre Pferde hinter ihn zurückfallen lassen und unterhielten sich leise. Er konnte nichts davon ausmachen, bis kurz vor der Burg der eine von ihnen sagte: „Wo steckt eigentlich Lassalle?“
„Vielleicht hat er es übel genommen, dass Renad hier die Leitung bekam“, schlug der andere vor.
Der erste seufzte. „Die Lage macht mich allmählich nervös. Anfangs schien Wilgos der große neue Mann zu sein. Aber jetzt beginne ich mir langsam Sorgen zu machen. Er hat die Dinge nicht in der Hand. Dieser Aufstand jetzt in Asterne selbst. Wie will er das Land im Griff haben, wenn das in seiner eigenen Lordschaft passiert?“
„Nun, er war den ganzen Winter bei Ceannacht“, wandte der andere ein.
„Ja“, sagte der erste grimmig, „und seit seiner Rückkehr ist er noch unberechenbarer. Mir gefällt nicht, was sie über ihn und diesen Erendar erzählen.“
„Ruhig“, befahl der zweite. „Da kommt Lassalle.“

Ciaran hörte schnellen Hufschlag. Eine ganze Gruppe schien heranzukommen. „Du würdest mir sicher nicht den Vortritt nehmen wollen, Cathal“, sagte eine dunkle, ein wenig raue Stimme.
„Unser Auftrag war ...“, begann die zweite Stimme wieder.
„Wir haben Escail erreicht“, sagte der erste. „Ich werde Euch nicht aufhalten.“
„Ich denke, ich habe ebenfalls ein gewisses Vorrecht“, bemerkte noch ein anderer.
Ciaran ritt in den Korridor zwischen den Mauern. Die Stimmen seiner vorherigen Begleiter klangen ferner. Einige Reiter schienen sich dazwischen zu drängen. „Du auch noch, Rieken“, rief die zweite Stimme von vorhin schließlich zornig.
„Nein“, lachte der Angesprochene, „Ich wollte mit dir reden, Cathal.“
Renad drehte sich um. Sein Blick war zornig, aber er sagte nichts. Ciaran blickte ihn fest an. Dem Lord stieg das Blut ins Gesicht und er wandte sich schnell ab.
Der Kopf eines Rotschimmels tauchte neben Ciarans Sattel auf. Von der Sorte hatte es vorhin nur ein Tier gegeben, das des Glatzköpfigen mit dem roten Schnurrbart, der an Gearaids Seite gehalten hatte. War er Lassalle? Was dann folgte, war mehr als überraschend. „Das Siegel!“, flüsterte eine Stimme drängend; er konnte sie kaum ausmachen. „Schnell!“
Ciaran zögerte. Es konnte eine List sein. Aber dann dachte er an Patris und seinen Ruf, und wie dieser versucht hatte, ihn vor Carraig zu retten. Patris, der dann vor Ceannacht einen unheilvollen Anteil gehabt hatte. Er nahm den Ring vom Finger, ließ ihn in die rechte Hand gleiten, hielt sie etwas hinter sich.

Arnim atmete auf, als seiner Forderung so schnell Folge geleistet wurde. Es war mehr, als er hatte hoffen können. Auch Renad hatte sich noch nicht wieder umgedreht. In einer fließenden Bewegung beugte Lassalle sich nach vorn, ergriff den Ring und ließ sein Pferd zu Ingvar zurückfallen. Er warf einen Blick auf den geschnittenen Smaragd mit dem Bogen und dem Falken. Er strich mit dem Finger darüber – und erkannte. Es gab kein besseres Wort, für das, was sich in ihm änderte. Es war das Siegel Abhaileons unter Alandas. Stumm reichte er es an Ingvar weiter, der eine Weile schweigend darauf starrte. Weiter nach hinten wagten sie es nicht zu geben. Reginald, Otho und Elgin verschafften ihnen Sichtschutz, während Rieken bemüht war Cathal und Riam abzulenken.
Endlich nickte Ingvar langsam und gab ihm den Ring zurück. Wieder trieb Arnim sein Pferd nach vorne, behutsam, dass kein veränderter Hufschlag Renad vorzeitig warnte. Auf gleicher Höhe mit dem Regenten gab er ihm den Ring zurück, ohne ihn anzublicken, während er gleichzeitig seinem Schimmel die Fersen in die Flanken stieß. Renad drehte sich um und Arnim lenkte sein Pferd neben ihn. Renad blickte wütend, aber das tat er schon, seit er Gearaid vom Kommen des Fremden benachrichtigt hatte, und er wagte es nicht, Lassalle wegzuschicken. Er war mutiger, solange Wilgos in der Nähe war. Wenig später erreichten sie den Innenhof.

Gearaid erwartete sie. Als er sich wieder vor dem Regenten verbeugte, hätte Arnim am liebsten ausgespuckt ob der Heuchelei. Stattdessen stieg er ruhig vom Pferd und reichte die Zügel einem Stallknecht, während er zuhörte. „Lord Renad wird Euch nach drinnen begleiten. Meine Diener haben ihre Anweisungen erhalten.
Der Regent entgegnete nichts. Er blickte ihn nur an. Aber er folgte Renad. Auf Lassalle warf er keinen Blick. Ein umsichtiger Mann.
Der Fuchs des Fremden wieherte zornig, als jemand nach seinem Halfter griff. Er warf den Kopf und tänzelte.
„Was für ein Tier“, sagte Gearaid unter dem Atem. „Vorsichtig mit dem Hengst“, rief er laut. „Ich will nicht, dass er kopfscheu gemacht wird.“

Arnim trat an ihn heran. „Dieses Siegel würde ich gerne näher betrachten“, sagte er.
Der Fürst lächelte kühl. „Du wirst es noch sehen, das versichere ich dir.“
„Ja“, sagte Arnim, „aber ob ich den Mann wiedersehe?“
„Was kann dir daran liegen?“ Gearaids Stimme wurde kälter. In seinen Blick trat Misstrauen.
„Mir liegt daran, keine diplomatischen Schwierigkeiten mit den Armeen des Fürsten von Alandas zu bekommen“, antwortete Lassalle mit einer Grimasse.
Die Replik schien ins Schwarze zu treffen. Gearaids Blick wurde unruhig. „Und was schlägst du vor? Den Mann mit dem Regentensiegel herumlaufen zu lassen?“ Er hob die Schultern. „Vielleicht lasse ich ihn laufen. Aber nicht mit diesem Ring.“
„Dennoch, ich wüsste gerne, was er zu sagen hat“ Lassalle strich sich nachdenklich über die Bartwurzel. „Über die neu aufgetauchte Macht im Norden.“
„Ich machte dir ein Angebot, als es um Ceannacht ging.“
„Wilgos ist nicht anwesend. Und ich habe ... Erfahrung im Gewinnen von Informationen.“
Gearaid zögerte. „Renad wird die Verhöre leiden. Vielleicht ziehen wir dich später hinzu.“

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