Sonntag, 4. September 2011

Kapitel 20.2


Keine zwei Stunden später war er schon wieder unterwegs. Er hatte nur noch zwei Begleiter. Ingal war jetzt überzeugt, dass er nicht mehr benötigte, um Roscrea sicher zu durchqueren. Sie verfolgten die geradeste Linie in Richtung der Hauptstadt von Eannas. Sie vergeudeten keine Zeit, behielten aber nicht mehr die erschöpfende Routine des Weges nach Carrnarosc bei. Als sie die Grenze erreichten, schickte Ciaran seine beiden Begleiter zurück. Er würde den Weg nicht verfehlen können. Escaile lag genau im Westen, am Fuße eines weithin sichtbaren schon seit vielen Jahrhunderten schlafenden Vulkans. Er mied die Wege, aber die Wälder im Osten der Provinz waren nicht dicht, sondern fast so offen wie in der Nähe Croinathírs. Weite Buchenwaldungen auf sanften Hügeln. Die silbernen Blattknospen waren schon großenteils aufgebrochen. Das Wetter war angenehm. Selten sprühten kurze Regenschauer. Die Sonne gewann täglich an Kraft. Schon bald packte Ciaran seinen warmen Mantel weg. Das Land bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seiner Stimmung.
Bis Carrnarosc war er ganz Anspannung gewesen, seinen Auftrag zu erfüllen. Der sich beschleunigende Rhythmus der Ereignisse hatte ihn mit sich getragen wie ein Pulsschlag der Hoffnung. Alles sprach dafür, dass es so weitergehen würde. Ein Aufbruch in den beginnenden hellen Sommer. Aber im Herzen wusste er, dass es nicht so war. In sich hineinlauschend sah er die Abenddämmerung um sich fallen. Die Dunkelheit, die irgendwann auch das Lied der Vögel um ihn herum verschlingen würde. Eine bleierne Müdigkeit begann sich auf ihn legen, wie er sie noch nie gefühlt hatte. Selbst Doitean schien etwas davon zu spüren. Er war weniger übermütig als bisher. Vielleicht begann er auch nur,  den langen Weg zu fühlen.

Sie durchquerten das östliche Eannas wie Schatten. Dann in der Dämmerung des dritten Tages nach der Überschreitung der Grenze sah er am Horizont den gewaltigen alten Kegel des Escail vor sich aufragen. Seine Hänge waren grün. Er hatte Bilder davon gesehen. Der Wein von dort war bekannt und teuer. Eannas war reich. Ein grünes Land voller Bodenschätze und mit weithin geschätzten Handwerkern. Er schüttelte traurig den Kopf. Was mochte Gearaid sich versprechen von seinem Bündnis mit Carraig? Er wählte jetzt wieder Straßen. Die Gegend war zunehmend dichter besiedelt. Aber er begegnete keinen Menschen. Von weitem sah er manche, aber sein Weg schien wie ausgestorben. Er hörte auf zu grübeln und begann zu beobachten. Wer ihn kommen sah, verließ die Straße. Kinder wurden auf den kleinen Gehöften nach drinnen geholt, sobald man den Reiter kommen sah. Arbeiten wurden unterbrochen. – Ein Land in Angst. Vor wem?
Als er auf einmal lautes Geschrei und Schläge hörte, wandte er den Fuchs sofort in diese Richtung. Er wollte der Sache auf den Grund gehen. Dann schrie jemand um Hilfe. Er spornte sein Pferd mehr an. Der Hengst wieherte erfreut. Seit mehreren Tagen war er allenfalls im Trab gegangen. Mit Leichtigkeit setzte er über eine im Weg liegende Hecke.

Näherkommend sah Ciaran einen kleinen Hof, eine armselige Angelegenheit genau genommen. Zwei Pferde standen auf dem eingezäunten Hofplatz. Sie tänzelten unruhig hin und her. Nur einer der Reiter war im Sattel. Er konnte sich nicht ganz darauf beschränken, die Pferde ruhig zu halten, da er damit beschäftigt war, ein sich wehrendes Mädchen zu sich hoch zu zerren. Der andere, ein elegant gekleideter dunkelhaariger Ritter schlug mit dem flachen Schwert auf einen waffenlosen älteren Mann ein, der versuchte, die Hände schützend vor sich zu halten. Eine weinende Frau stand dabei, zwei halbwüchsige Kinder und ein junger Bursche, der seltsam unbeteiligt auf den Boden blickte, als wolle er nicht zu der Gruppe gehören.
Ciaran ließ Doitean über die Einzäunung springen. Schnaubend kam der Hengst auf dem Hof zu stehen. „Was soll das hier bedeuten?“ sagte er mit eisiger Stimme. „Weg von dem Bauern, Feigling! Wenn du einen Kampf willst, versuch es mit mir!“ Der Mann mit dem Schwert fuhr herum, flammenden Zorn in den Augen. Aber es war schon fast zu spät für sein Opfer, das mit einem Schmerzensruf in sich zusammenbrach.
Gleich wie aufgebracht er war, der gut Gekleidete erfasste mit einem Blick das teure Pferd, das edelsteinbesetzte Schwert und den kostbaren Ring an der Hand des Fremden. Das allein hinderte ihn wohl, den Reiter anzugreifen. Er senkte die Klinge etwas und richtete sich stolz auf. „Ich bin Lord Renad von Glas Fhaile. Ihr, wer Ihr auch seid, befindet Euch auf meinem Land. Haltet Euch aus meinen Angelegenheiten heraus!“

„Es scheint, die junge Dame hier möchte Euch nicht begleiten, Lord Renad“, sagte Ciaran kühl. „Hat sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht?“
„Sie hat nichts getan, Herr“, rief die Frau. „Niemand von uns. Mein Mann versuchte nur, um Gnade für unsere Tochter zu bitten. Sie ist noch so jung!“
„Ich verstehe“, sagte Ciaran. „Lass das Mädchen los!“ Seine befehlsgewohnte Stimme war so suggestiv, dass der Berittene fast gehorcht hätte.
„Was bildet Ihr Euch ein!“ fuhr Renad auf.
„Ich bilde mir ein, dass ich eine andere Begrüßung erwartet hätte“, sagte Ciaran immer noch kalt.
„Eine andere Begrüßung“, Renads Augen verengten sich. „Und wer seid Ihr, dass Ihr die erwartet?“
„Mein Name ist Ciaran von Fírin. Ich habe einen langen Weg vom Norden Abhaileons bis hierher hinter mir, und Eurem Landesherrn eine Botschaft meines Fürsten auszurichten.“
„Ich habe diesen Namen noch nie gehört“, sagte Renad widerwillig aber vorsichtig. Er erinnerte sich an die Begegnung mit Patris Erendar. Den Mann hatte er auch unterschätzt. Weit unterschätzt. Noch lange vor Ende der Belagerung hatte er Gelegenheit gefunden, sein erstes arrogantes Auftreten zu bedauern. Das jetzt war, wie es schien, wieder jemand, der auf Befehl von Carraig kam. „Ihr kennt nicht zufällig einen Pat?“ fragte er betont leichthin.
Ciaran lächelte. Unheil verkündend, wie er hoffte. „Falls Ihr Patris meinen solltet. Wir haben ein paar Dinge gemeinsam.“

„Ihr scheint hoch zu stehen in der Gunst Eures Fürsten“, sagte Renad. Als hätte er nie etwas anderes beabsichtigt, verwahrte er seine Klinge beiläufig in ihrer Scheide.
„Es scheint, als habe er mir einiges an Befehlsgewalt zugedacht“, sagte Ciaran. „Ihr könntet bald feststellen, dass ich jedes Recht habe, Euch Befehle zu erteilen.“
Renads Gesicht verdüsterte sich. „Das solltet Ihr mit Fürst Gearaid klären!“ stieß er hervor.
„Das werde ich“, der Ritter zeigte sich unbeeindruckt. „Bildet Gearaid sich noch immer ein, zu den Großen zu gehören? Er könnte bald herausfinden, dass er sich getäuscht hat. Es gibt Änderungen, deren er noch nicht gewahr zu sein scheint.“
„Ich werde Euch nach Escail begleiten“, sagte Renad finster. „Dort wird man Euch nach Eurem Gefallen aufwarten, bis Fürst Gearaid von seinen heutigen Unternehmungen zurückkehrt.“
„Wie weit ist er entfernt?“ Ciaran ließ seine Finger ungeduldig auf dem Schwertheft trommeln.
„Er ist in der Umgegend Escails“, Renad zögerte, dann fuhr er unwillig fort. „Ich kann Euch zu ihm bringen, wenn es Euch so eilig ist.“
„Es ist jetzt kurz vor Mittag“, entgegnete Ciaran ruhig. „Ich habe Wichtigeres zu tun, als auf Gearaid zu warten oder ihn auf seinen ‚Unternehmungen’ zu suchen. Er wird mich mit seinen Lords zur dritten Mittagsstunde auf dem Markt von Escaile treffen und hören, was ich ihm zu sagen habe. Richtet es ihm aus! Ich selbst habe bis dahin noch anderes zu ordnen. Und jetzt rate ich Euch zum letzten Mal im Guten: Gebt das Mädchen frei!“
Der Lord atmete heftig. Worte wollten auf seine Lippen, die er wütend unterdrückte. Seine Augen funkelten. „Lass sie los“, fauchte er schließlich seinem Mann zu und schwang sich selbst auf sein Pferd. „Ich werde Fürst Gearaid ausrichten, was Ihr sagt.“ Sein Blick versprach Rache, aber er trieb sein Pferd zu Eile an.

Das Mädchen war sofort zu ihrem Vater gestürzt, um den sich ihre Mutter bereits bemühte.
„Du gehörst nicht zur Familie?“ wandte Ciaran sich an den jungen Mann, der an der Tür lehnte.
„Doch“, sagte dieser unsicher.
Ciaran sprang vom Pferd. Die Zügel ließ er auf den Boden fallen. Diesen Befehl auf der Stelle zu bleiben, kannte der Fuchs schon. Ciaran trat näher heran: „Deine Schwester soll missbraucht werden, dein Vater wird misshandelt, und du stehst einfach so dabei?“ fragte er ungläubig.
„Was hätte ich denn tun sollen“, murmelte der Bursche, „sie hätten mich nur auch geschlagen!“
Ciaran erwog, ihm eine Ohrfeige zu geben, beherrschte sich aber. Stattdessen wandte er sich der anderen Gruppe zu. Es schien, dass der Mann nicht ernsthaft verletzt war: nur ein paar Schnittwunden und Prellungen. „Ich bin erstaunt, dass Renad Euch nicht einfach umbrachte“, sagte er.
„Der Fürst hätte vielleicht Einwände gehabt“, murmelte der Mann.
„Ich bin noch überraschter, dass der Fürst, um Euch besorgt sein sollte.“
„Er will mich nur vorerst noch lieber lebend als tot. Ihr wisst also, wer ich bin?“
Ciaran schüttelte den Kopf. „Ich bin fremd hier.“
„Nun, Ihr sprecht mich mit einer Anrede an, die ich lange nicht mehr gehört habe.“
Das Mädchen blickte auf. „Mein Großvater war der Lord von ...“. Sie war hübsch. Gerade erst erwachsen mit großen braunen Augen und langen mittelblonden Haaren. Auch wenn diese jetzt sehr in Unordnung waren.
Ihre Mutter unterbrach sie. „Lass gut sein, Igrain. Es bringt nichts, diese Dinge aufzurühren.“

„Ich brauche Auskünfte“, sagte Ciaran.
„Wer seid Ihr, Herr?“
„Jemand, der Renad Angst machte“, murmelte Igrain.
Ciaran lächelte: „Ich bin der Regent Abhaileons“, sagte er.
Der Blick des Mannes heftete sich sofort auf seine Hand. „Das Siegel Abhaileons“, sagte er ungläubig.
„Eingesetzt von Carraig“, flüsterte seine Frau mit gesenktem Blick.
Ihr Mann schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein. Könnte das Böse als so gut auftreten, warum sollte es sich um uns kümmern?“
„Ich komme aus Alandas“, sagte Ciaran sanft. „Ich bin ein Ritter des Königs.“

„Vielleicht mache ich jetzt einen schlimmeren Fehler als je in meinem Leben“, sagte der Mann und kniete nieder. „Aber ich glaube Euch. Orthai existiert nicht mehr, aber es würde Euch folgen.“ Ein Fieber brannte in seinen Augen. Ciaran begriff. Ein verzweifelter Mann verbarg sich unter dem ruhigen Äußeren. Verzweifelt genug, um auf Alandas zu hoffen.
„Gearaids Verbrechen sind derart, dass er seinen Titel nicht behalten wird“, sagte Ciaran leise. „Zurzeit kann ich noch nichts daran ändern, aber die Zeit wird kommen. Dann werde ich Orthai nicht vergessen. Wie heißt Ihr, Lord von Orthai.“
„Mactir“, der Mann stand auf. „Wie groß ist Eure Eskorte, Herr?“
„Ich bin allein“, sagte Ciaran. „Alle, die mir folgten, ließ ich in Roscrea zurück. Sie werden dort nötiger gebraucht.“ Er lächelte flüchtig. „Ich komme im Auftrag des Fürsten von Alandas. Gearaid wird mich nicht aufhalten können.“
Jetzt waren alle Gesichter ungläubig. Mactir sagte: „Ich würde es nicht wagen, Eure Worte in Frage zu stellen. Vielleicht sind all die Sagen wahr. Aber Ihr werdet Zeichen und Wunder brauchen, wenn Ihr heute allein nach Escaile reitet. Wenn Ihr ein sterblicher Mensch wie wir seid, werdet Ihr kaum lebendig, noch weniger frei von dort herauskommen.“
„Wir werden sehen“, sagte Ciaran einfach. „Ich bin nur ein sterblicher Mensch, aber ich habe auf meinem Weg hierher schon manches geschehen sehen, das man ein Wunder nennen könnte. Doch jetzt erzählt mir, was Ihr könnt, von der Situation in Eannas. Ich hörte von Aufständischen im Westen.“

„Das ist Rudin“, erklärte Igrain mit Stolz. „Mein älterer Bruder. Er führt sie an. Wahrscheinlich wollte Renad sich deswegen an mir rächen. Er kennt mit Sicherheit nur Gerüchte. Aber er weiß, dass Rudin entkommen ist.“
„Und nun seid ihr alle Geißeln, um gegen Rudin eingesetzt zu werden“, stellte Ciaran fest. „Vielleicht wäre es das Beste, wenn Ihr alle Zuflucht bei ihm suchtet. Renad wird wiederkommen. Und ein Krieg ist unweigerlich.“
„Auch das noch aufgeben!“ klagte die Frau. „Wir können nicht in die Wälder! Nicht mit den Kindern!“
„Es könnte sicherer sein, als was in den nächsten Wochen kommt“, sagte Mactir langsam.
„Ich gehe auf jeden Fall!“ erklärte Igrain wild. „Ich packe das Nötigste.“ Sie verbeugte sich vor Ciaran und eilte dann nach drinnen.
„Geh packen!“ sagte Mactir zu seiner Frau. „Unser Weg muß ja nicht gleich so weit  sein. Ich habe noch ein paar alte Freunde, die uns für kurze Zeit verstecken können. Ich helfe, sobald ich dem Regenten alle Auskünfte geben konnte, die er wünscht.“

******

Gearaid gestikulierte heftig. Seine Worte drangen nicht bis zu Lassalle, der einen Bogenschuss entfernt ruhig auf seinem Pferd saß, die Hände auf dem Sattelknauf verschränkt. Er würde bald genug alles erfahren, was jetzt gesagt wurde. Der Bote war von Wilgos, der von Ceannacht direkt in den Norden der Provinz geritten war, weil er nach den letzten Unruhen dort das Zentrum der Rebellen vermutete. Ein unmerkliches Lächeln glitt auf Lassalles Lippen. Er selbst hatte eine recht klare Vorstellung, wo sich das Hauptlager der Aufständischen befand. Nicht im Norden. Aufständische war ohnehin ein großes Wort. Ein bunt zusammen gewürfelter Haufen von geflüchteten Bauern, vergrämten unbedeutenden Adligen, ein paar Abenteurern, Frauen und Kinder darunter. Der einzige darunter, der ernst zu nehmen war, war Rudin von Orthai. Ein Name, der auch Gearaid beunruhigte. Die Orthais waren angesehen gewesen. Noch dazu hatten sie keine echte Bedrohung für Gearaids Herrschaft dargestellt. Der alte Orthai war ein ängstlicher Mann. Konflikte waren nicht seine Sache. Dennoch – ein Mann mit Prinzipien, wenn man ihn so darauf stieß, wie Gearaid es getan hatte. Eine Dummheit, ihn mit etwas zu konfrontieren, das er nicht mittragen konnte. Gearaid hatte ihn hinrichten lassen. Seitdem gärte es unter einigen der anderen Lords. Ingvar hatte danach vermehrt Lassalles Gesellschaft gesucht. Keiner wusste Genaues, aber hartnäckig wurde geflüstert, Lassalle habe sich darüber mit Gearaid entzweit. Lassalle selbst bestätigte oder dementierte nie etwas von diesen Gerüchten.
Diener räumten die Reste des Mittagessens zusammen. Lassalle betrachtete es ausdruckslos. Es war keine rechte Jahreszeit für die Beiz. Aber der Fürst hatte seinen neuen rotschwingigen Jagdhabicht erproben wollen. Und als wäre das Fest am heutigen Abend nicht ausreichend, hatte er dazu ein halbes Gelage im Freien richten lassen. Wie meist  bestand er darauf, von seinem ganzen Hofstaat begleitet zu werden. Wegen des Festes waren ohnehin die meisten der Lords von Eannas schon versammelt gewesen. Es wurde nicht laut ausgesprochen. Doch das Fest war als eine Art Siegesfeier gedacht gewesen.

Lassalle ließ keine Regung in sein Gesicht steigen. Vorsichtig achtete er darauf, dass sich auch seine Finger nicht spannten, wo sie lagen. Er blickte auf Reginald, der neben ihm hielt und ebenfalls den Fürsten im Blick hatte. Plötzlich lachte der langjährige Gefährte auf: „Man könnte denken, dass Patris ihm selbst auf diese Distanz noch Ärger macht“, sagte er. In seiner rauen Stimme lag Bewunderung. Nicht für Wilgos, auf den sich der Satz bezogen hatte. Das bevorstehende Fest war auch zu Ehren des Lords von Asterne, des Eroberers von Ceannacht, gedacht.
„Die Aufständischen sind unberechenbar“, bemerkte Lassalle. „Da braucht es keine Zauberei.“ Es wäre nicht uninteressant gewesen für ihn, selbst diesem Erendar zu begegnen. Seit seiner Rückkehr von Ceannacht war er Hauptgesprächsthema für Reginald. Sein Cousin war mehr als fasziniert von dem Mann, der eine Art Hexenmeister zu sein schien. Ein Teil der Begeisterung mochte daher rühren, dass Wilgos und Renad seit seinem Auftauchen vor Ceannacht von einer ungewöhnlichen Serie von Missgeschicken heimgesucht worden waren. Die Dummköpfe, sie hatten den Mann, nach dem, was Renad erzählte, gleich beim ersten Treffen beleidigt mit ihrer Arroganz. Nicht einmal seinen Namen erkannt. Erendar war bekanntermaßen eitel. Reginald war klüger gewesen. Es schien, er war nie an Erendar ganz herangekommen, aber von ihm toleriert worden. Sie hatten wohl gelegentlich zusammen getrunken und Würfel gespielt.
Lassalle unterdrückte das Lächeln, das auf seine Lippen treten wollte. Er hätte die seltsamen Dinge, die Renad und Wilgos zugestoßen waren, zu gerne gesehen. Reginalds Schilderungen waren lebhaft. Erendar, der lässig zu einem der beiden Lords aus Eannas schlenderte, im Vorbeigehen bemerkte: „Schönes Pferd“ oder „hübsches Messer“. Kurz bevor das Gelobte auf rätselhafte Weise zu Schaden kam. Offenbar waren Wilgos und Renad mit der Zeit sehr nervös geworden.

Reginald blickte ihn aufmerksam an. Er hatte das schwache Lächeln gesehen. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Es gab noch nie zuvor Unruhen in Asterne selbst. Und dann gleich so heftig.“ Der letzte Satz war mehr eine Frage.
Lassalle zog nur eine Augenbraue leicht hoch. Selbst Reginald brauchte bei weitem nicht alles zu wissen. Wilgos von Asterne hatte schon lange eine empfindlichere Warnung verdient gehabt. Und Ceannacht ... Nein, es war nicht Ceannacht. Auch nicht, dass eine Maßnahme lang überfällig gewesen war. Es war nur das Mädchen. Diese unschuldigen und vertrauensvollen Augen standen vor ihm, wenn er die Augen schloss. Als ob es in seiner Macht gestanden hätte, irgendetwas zu ändern.
„War es eigentlich seine Idee?“ fragte er Reginald. „Dieses Päckchen an Ros?“ Nicht, dass es entscheidend war. Asterne hatte den Befehl gegeben. „Oder Erendar?“ Vielleicht war der Mann ein Zauberer, aber wenn er derjenige war – Arnim kannte wenig Furcht.
„Patris? Wenn du mich fragst, hat der nicht mehr getan, als dieser Dimail von ihm forderte. Er ist ungeheuer zynisch. Tat als ginge ihn nichts etwas an. Und so etwas ist nicht sein Stil. Er ging nie auch nur in die Nähe der Gefangenen. Selbst als Wilgos ...“
Lassalle schnitt ihn mit einer Handbewegung ab. Er hatte schon genug darüber gehört. „Komm zur Sache“, sagte er ruhig.

Reginald zuckte unsicher die Achseln. „Vermutlich war es Dimail, der den Anstoß gab. Kurz bevor er nach Norden ritt und Patris mitnahm.“ Er wurde fast nachdenklich. „Nun, wenn es mein Job gewesen wäre, ich hätte es hinter mich gebracht. Vielleicht hätte ich schon... Ach gleich. Wilgos ist jedenfalls eine tückische Ratte. – Wo ist Renad heute eigentlich?“
„Auf seiner privaten Jagd“, Lassalles Blick war hart. Jedoch nicht härter als sonst, wenn von Wilgos und Renad die Rede war. „Sie wird ihn auf die Dauer einiges kosten.“ Er ließ seinen Blick weiterschweifen zu einer anderen Gruppe von Reitern. Ingvar unterhielt sich leise mit Otho und Elgin. Noch ein Stück weiter saßen Rieken und Niko auf ihren Pferden. Nikos Blick hing unverwandt auf Gearaid. Von hier aus konnte er es nicht sehen, aber Lassalle wusste, dass Hass darin lag. Seanin und Caillin näherten sich gerade Riam, Fiannain und Cathal. Cathal und Riam gehörten zu Wilgos’ Anhängern. Sie alle waren harte Männer. Kein Lord von Eannas hatte seinen Rang inne, wenn er von vielen Skrupeln geplagt war. Dennoch gab es Unterschiede.
Nikos Blick wandte sich plötzlich abrupt nach Südosten. Dann merkten auch andere auf. Neugierig lenkten einige ihre Pferde auf Gearaid zu, dessen Gespräch mit Wilgos Boten sich ohnehin dem Ende genähert hatte. Auch Lassalle stieß seinem Rotschimmel die Fersen leicht in die Flanken, so dass der Wallach sich in Bewegung setzte. Reginald hielt sich an seiner Seite.

Es war Renad, der da im scharfen Trab herankam. Sein Brauner keuchte, als er ihn bei Gearaid zügelte. Der Lord verbeugte sich knapp vor dem Fürsten. „Ich konnte Euch nicht gleich finden. Ein Bote ist gekommen. Direkt vom Fürsten, wie es scheint. Er verlangt Euch zu sprechen.“ Seine Stimme klang ungewöhnlich gepresst.
Gearaid blickte überrascht auf. „Warum ist er dann nicht hier?“ Sein Blick schweifte zu den Falknern. Er hatte vorgehabt, den Nachmittag noch zu nutzen, aber es war nicht unabdingbar. „Nun gut, ich komme früher als geplant zurück. Du hast ihn auf Escail untergebracht?“
„Ich schlug es vor, aber er sagte, er habe keine Zeit zu verschwenden. Ihr sollet ihn zur dritten Mittagsstunde auf dem Markt von Escaile treffen.“
„Wer ist es?“ fragte Gearaid in eisigem Ton. „Wieder Fíanael?“
„Keiner von den Lords des Fürsten. Ein Dalinianer. Ciaran von Firin, sagte er und führte sich auf, als sei er der neue Herr über Eannas.“
„Ein Dalinianer“, wiederholte Gearaid flach. In seinen Augen war Hitze. „Wir werden sehen, was seine Kompetenzen sind.“ Er warf einen Blick zur Sonne; die Zeit war knapp, wenn er rechtzeitig an dem Treffpunkt sein sollte. Er hätte es vorgezogen, den unverschämten Fremden warten zu lassen, aber was Wilgos und Renad über die Begegnung mit Erendar erzählt waren, warnte vor unwägbaren Konsequenzen. Er würde sich also beeilen – und handeln, sobald er die Lage überblicken konnte. „Wir reiten!“ befahl er laut. Befriedigt stellte er fest, dass Lassalle sein Pferd dicht hinter ihn lenkte. Seine Aversion schien sich also nur auf die schwarzgekleideten Lords zu beziehen. Der Rest des Trosses folgte in lockerer Gruppe. Er ließ sein Pferd in einen leichten Trab fallen.

„Wie ist es gegangen?“ wandte er sich an Renad, der neben ihm ritt.
Der Blick des Lords verdunkelte sich noch mehr. „Er hat mich an der Ausführung gehindert.“
„Er? Doch nicht Mactir? Oder gar sein prächtiger jüngerer Sohn?“
„Der Bote“, stieß Renad zwischen den Zähnen hervor.
„Warum sollte einer wie er das tun?“
„Um zu demonstrieren, dass er es tun kann, vermute ich“, fauchte Renad. „Dieser arrogante Dreckskerl fügte noch hinzu, Ihr machtet einen Fehler, wenn Ihr Euch zu den Großen rechnet. Es habe Änderungen gegeben.“
Der Fürst antwortete eine Zeitlang gar nichts. Lassalle sah, dass seine Hände sich so an den Zügeln verkrampften, dass sie zitterten. Er kannte Gearaid gut genug, um zu wissen, dass das Zorn war, nicht Angst. Obwohl auch Furcht im Spiel sein musste, sonst wäre die Eruption schon jetzt gekommen.
„Sagte er sonst noch etwas?“ Die Stimme des Fürsten war so weich, dass sie für den Ritter hinter ihm kaum zu vernehmen war.
„Nicht viel“, Renad war mehr am Rande der Beherrschung als Gearaid selbst. Seine Stimme war lauter als nötig. „Nur, dass er einiges mit Erendar gemeinsam habe.“
Gearaid fluchte heftig und lange. Lassalle ließ sein Pferd etwas zurückfallen. Hier gab es nichts Relevantes mehr zu erfahren.

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