Dienstag, 6. September 2011

Kapitel 24.2


„In Alandas war das alles sehr anders“, bemerkte Robin.
„War es das?“ Asrains Stimme enthielt eine Andeutung von Ärger. Hätte Robin nur gewusst, was genau die Irritation hervorrief. „Ihr wollt also über Alandas sprechen? Nun gut, ganz wie Ihr wünscht.“ Bis jetzt war er dem Thema immer ausgewichen. „Wen habt Ihr in Alandas gesehen? Ríochan nehme ich an. Alif? Lemael? Norin? Rehawan? Serona?“ Er nannte noch eine längere Liste von Namen. Robin kannte die wenigsten davon. Nur die Abwesenheit eines Namens fiel ihm auf. Rodil wurde nicht erwähnt. Ein Zufall?
„Ich traf Fürst Ríochan“, sagte er. „Und ein paar der anderen. Alif, zum Beispiel.“
„Und was war Eurer Meinung nach so anders dort?“
Robin dachte nach, wie es in Worte zu fassen war. „Alles“ schien nicht eine ausreichende Antwort zu sein.
„Es gibt etwas, dass Ihr vielleicht nicht wisst“, bemerkte Asrain in sein Überlegen hinein. „Der Fürst dort und der Fürst hier sind sich ähnlicher, als Ihr denkt. Sie sind Brüder.“
Robin lachte. „Sie sind verschieden wie Tag und Nacht.“
„Ihr wisst gar nichts“, sagte Asrain. „Ihr habt ein paar Tage dort verbracht und wart bezaubert von etwas, das Ihr wohl Freundlichkeit nanntet. Etwas, das Euch glauben ließ, Ihr wärt in einer vollkommen anderen Welt. Es scheint, Ihr nahmt keine Misstöne wahr, da Ihr sie hier so kritisiert. Aber das war alles Illusion. Vielleicht auch spielt Euch das Gedächtnis einen Streich. Oder erinnert Ihr Euch wirklich wieder an alles, was geschehen ist, seit Ihr Carraig vor Monaten verließt?“
„Nein“, sagte Robin leise. Das war das Schlimmste von allem. Alles, was seit damals geschehen war, war verschwommen. Nur einzelne Ereignisse ragten aus einer Art von Dunst heraus. Alles andere waren Schatten in dichtem Nebel. „Ich erinnere mich nicht mehr klar an alles. Dennoch ...“

Asrain unterbrach ihn. Das tat er sonst nie. Er war jedoch nicht mehr zornig, sondern vollkommen ruhig. „Es ist ein Spiel um die Macht“, sagte er. „Vielleicht oft mehr ein Kampf als ein Spiel. Doch die Macht ist es letztendlich, um die es allen Beteiligten geht.  In unserem konkreten Fall ist es, wer die Macht in Abhaileon hat.“
„Was ist so begehrenswert an Abhaileon? Für Eure Seite?“
Asrain setzte sich auf einen Diwan und lehnte sich entspannt zurück. „Für sich gesehen ist Abhaileon natürlich bedeutungslos. Es ist rückständig. Es hat keine bedeutenden Resourcen. Es ist für den Handel uninteressant.“ Er lachte. „Seine militärische Bedeutung ist lachhaft. – Aber strategisch macht es Sinn, sich darum zu kümmern.“
„Strategisch?“
Asrain lächelte. „Keine Angst, wir sind immer noch bei dem Thema, mit dem wir begonnen haben. Alandas und Winian halten sich machtpolitisch in etwa die Waage. Und unsere Beziehungen sind seit langer Zeit sehr angespannt. Abhaileon unter alandischer Herrschaft, so unbedeutend es für sich ist, könnte dieses Gleichgewicht kippen lassen.“
„Alandas hat keine Burgen auf abhaileonischem Boden gebaut“, bemerkte Robin. „Weder nach den Großen Kriegen noch je zuvor oder danach.“
„Ja“, gab Asrain zu. „Das ist einer der Unterschiede zwischen den beiden Fürsten. Der unsere setzt mehr auf massive Demonstration der Macht, der andere versucht es auf subtilere Weise. Ob das unbedingt ehrlicher ist ...“ Er zuckte die Schultern. „Wir bauen Burgen. Er hat Regenten – und Ritter.“ Er legte den Kopf schräg und hob eine Augenbraue, während er Robin musterte.

Robin legte die linke Hand an das Heft seines Schwertes. Er war sich nicht sicher, worin die Beleidigung bestand. Es sei denn ...  „Die Ritter gehören dem König selbst“, sagte er fest. Er strich noch einmal sanft über das Heft, bevor er es losliess. Wenn der Lord sich auf ein Blickduell einlassen wollte, bitte sehr. Er hatte keinen Grund den seinen zu senken.
„Ja und nein.“ Asrain betrachtete ihn fast amüsiert. „Mit diesem Thema kenne ich mich aus. Nominell machen jene drei Schwerter ihre Träger zu Rittern des Königs. Doch das blaue Schwert steht für Alandas und seinen Anspruch. Das grüne Schwert steht für Abhaileon unter Alandas. Nur ein einziges der Schwerter gibt eine Autorität, die der des Fürsten von Alandas selbst in nichts nachsteht. – Wusstet Ihr das nicht?“ Er ließ seine Augen ostentativ auf die Waffe an Robins Seite gleiten.
„Ich verstehe“, sagte Robin langsam.
„Das bezweifle ich“, antwortete Asrain. „Betrachtet einmal alles, was geschehen ist, auch in diesem Licht: Ihr werdet letztendlich über das Schicksal Abhaileons entscheiden. Ríochan weiß das – und war sicherlich sehr interessiert, sich Euch auf das beste zu zeigen.“
Robin schüttelte den Kopf. „Die Unterstellungen, die Ihr hier macht, sind ungeheuerlich. Ich habe dieses Schwert an der Grenze von Alandas selbst empfangen.“
„Und das war unabänderlich“, stimmte Asrain zu. „Aber was sagt das schon aus.“
„Welchen Vorteil sollte Fürst Ríochan denn von solchen Intrigen haben?“
Asrain lächelte nur. „Er liebt es Einfluss zu haben. Und die Verehrung, die man ihm entgegenbringt ... Aber was solltet Ihr mir glauben.“ Er stand auf. „Ich muss leider gehen. Mein Fürst hat mich zu einer Unterredung bestellt, und er legt Wert auf Pünktlichkeit.“ Schon mit der Hand auf der Klinke drehte er sich noch einmal um. „Fürst Barraid kann ein beträchtliches Temperament entwickeln. Sollte Euer Gespräch mit ihm je auf den Punkt Alandas kommen, wären wir Euch allesamt sehr verbunden, wenn Ihr einen Namen meiden würdet.“
„Welchen? Den des Fürsten?“
„O nein“, sagte Asrain. „Der wundeste Punkt ist Alif. Denkt bitte nach Möglichkeit daran!“

Robin blieb zurück und fühlte sich äußerst verwirrt. Alif? Aber das war nicht das Störendste. Fast unwillkürlich glitt seine rechte Hand an den Schwertknauf und zog die Klinge blank. „Ehre dir, mein König“, sagte er fast ohne nachzudenken. Dann glitt er langsam auf die Knie. „Ist das wahr?“ fragte er leise. „Steht dieses Schwert für so viel? Warum ich?“ Es sprengte seine Vorstellungskraft. Autorität, die der Ríochans gleichkam, sie vielleicht übertraf? Es war unglaublich, unsinnig. Aber wenn es nicht stimmte, was konnten die Winianer damit erreichen, falls er es glaubte? Das begriff er noch weniger. Hätten sie nicht gerade das vor ihm verbergen müssen?
Er blickte lange auf das Schwert, das auf seinen Knien lag, und versuchte, irgendwie zu verstehen.  Schließlich kam er zu der Ansicht, dass es wohl belanglos war, ob die Behauptung stimmte oder nicht. Wenn es stimmte, würde er sich hier auf Carraig wenn möglich noch mehr vorsehen müssen. Über die anderen Verleumdungen über Riochan und Alandas weigerte er sich, auch nur nachzudenken. Er senkte den Kopf und begann zu beten.

******

Isabell war begeistert. Das Wetter war ausgezeichnet und die Gesellschaft war ungewöhnlich aber durchaus angenehm. Die ersten Tage waren allerdings recht anstrengend; ihre Reitkenntnisse waren nur sehr mangelhaft, und die langen Tagesritte waren äußerst aufreibend. Sie hatte sich schon nach dem ersten halben Tag wund gefühlt, aber man hatte ihr eine Salbe gegeben, die ausgezeichnet gegen die Beschwerden half. Schon bald konnte sie sich ganz auf alles andere konzentrieren.
Einer der unangenehmeren Aspekte war, dass sie kein Abhaileonisch verstand. So konnte sie sich nur mit zweien ihrer Begleiter unterhalten. Mit Lord Akan, der wie es schien, nicht nur eine der Sprachen Ardas fließend und absolut akzentfrei beherrschte und einem seiner Leute, der beauftragt worden war, ihr die Grundkenntnisse der Landessprache beizubringen. Für Langeweile war also wirklich keine Gelegenheit.
Akan selbst blieb oft nicht bei der Gruppe. Allein oder in Begleitung von zwei oder drei der Männer brach er zu Erkundungen auf, während der Rest der Gruppe ein gleichmäßiges Tempo beibehielt. Wenn er zurückkam, brachte er manchmal andere Berittene mit sich als die, mit denen er aufgebrochen war. Doch alle trugen die Uniform Winians – oder Carraigs. Sie war sich nicht ganz sicher wofür die dunkle Uniform nun stand. Akan äußerte sich nie genauer darüber, was er da tat. Das übliche Tempo war ein schneller Schritt der Pferde, selten ein Trab. So konnte sie sich auch wenigstens langsam eingewöhnen. Wenn das Lager aufgerichtet oder abgebrochen wurde, brauchte sie sich um nichts zu kümmern. Statt dessen kam Lord Akan, um sich mit ihr zu unterhalten. Das waren die besten Stunden. Ihr „Sprachlehrer“ wusste nämlich nicht allzu viel über Abhaileon, wie es schien, und sie war doch so brennend interessiert, mehr über das Land zu erfahren. Akan wusste anscheinend alles und er nahm sich viel Zeit, ihr alles zu erklären.

„Robin sagte, Bearisean habe fest behauptet, dass Abhaileon eine flache Welt sei mit Grenzen zu anderen Welten in allen Richtungen. Stimmt das denn wirklich?“
„Bearisean ist eben Abhaileoner“, sagte der Lord mit einer Spur von Herablassung. „Besonders originell ist es ja nicht, was sie hier meinen: Nordberge im Norden, Westmeer im Westen, Südwüste im Süden und Ostheide im Osten. Die Wahrheit ist, wenn wir zum Beispiel den Osten nehmen, dass das Land nicht mit der Ostheide endet. Weit über Cardolan hinaus an deren äußersten Ende liegen weite Steppen und dann – ritte man immer weiter – gelangte man dahin, wo die Bergkette im Norden nur noch zu Hügeln verflacht und Winian und Alandas Grenze an Grenze liegen.“ Er schüttelte den Kopf. „Kein Abhaileoner ist je soweit gekommen. Sie fürchten ihre Mythen über Winian zu sehr. Und selbst in der Zeit, als Cardolan nur noch in Ruinen lag, mieden sie den Ort, als lauere dort das Böse selbst. Und Cardolan liegt wie gesagt noch auf dem Gebiet des Landes, das sich Abhaileon nennt.“
„Das mit den Toren zu Arda im Westen ist aber doch etwas Rätselhaftes. Wie sollte das sonst zu erklären sein?“
„Nur dass diese sogenannten Tore nicht das westliche Ende der Welt sind. Sie liegen über den ganzen Westen und Teile des Ozeans dort verstreut. Nur hat bisher kein Schiff jenen Ozean durchsegelt, um an dessen anderem Ende wieder auf Land zu stoßen. Sie sind ohnehin keine großen Schiffsbauer, die Abhaileoner.“
„Aber die Tore selbst?“ forschte Isabell nach.
„Die sind schon eine Besonderheit“, räumte Akan ein. „Jedoch gibt es physikalische Erklärungen dafür. Um das auch nur anzureißen, müssten wir eine n-dimensionale Kernphyik höheren Grades zugrundelegen. Wie sehr fühlt Ihr Euch dem Thema gewachsen?“
„Nicht sehr“, gab Isabell nach einigem Zögern zu. „Kennt Ihr Euch tatsächlich damit aus?“

Akan lächelte leicht. Leicht aber selbstsicher. Es war nicht einmal arrogant. Es vermittelte nur wie mit einem Schulterzucken, dass die höhere Physik für ihn eine Lappalie sei.  „Das tue ich. Ich lege stets Wert darauf, in allem gut informiert zu sein. Bedauerlich, dass wir die Sache nicht ein wenig diskutieren können.“ In seinen Augen funkelte es amüsiert.
„Aber wie kommt Ihr dazu?“ Isabell konnte es nicht glauben. „Ihr lebt hier in Abhaileon!“
„Ich habe schon mehr Zeit in Arda verbracht als in Abhaileon“, entgegnete Akan ruhig. Er blickte sie genauso ruhig an. „Aber darüber werde ich nicht sprechen.“ Das war freundlich aber endgültig gesagt.
Er war fazinierend, dachte Isabell. Sie war sich sicher, noch nie jemandem begegnet zu sein, der von dieser Art war.
„Sind die anderen winianischen Lords Euch ähnlich?“ fragte sie.
„Das werdet Ihr selbst feststellen müssen.“ Er wechselte das Thema, fast ohne dass es ihr auffiel. Gleich, über welches Thema er sprach, es war faszinierend. Seine Bildung beschränkte sich offensichtlich nicht allein auf die Physik. Dazu kam die Fähigkeit, gleich welches Gebiet er wählte, es interessant zu präsentieren.
******
Rodil hielt seine einsame Wache auf der Höhe des Friedensrückens. Die Zinnen und Mauern von Carraig lagen in Sichtweite unter ihm auf den felsigen Hängen des Gebirgsausläufers. Doch da war nicht viel, was er hätte tun können. Da war nicht einmal viel, das er in Erfahrung bringen konnte. Barraid selbst hielt sich in der Festung auf, und einige seiner Lords dazu. Sie wussten, wie nahe die Grenze zu Alandas hier war und würden alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben.
Zumindest war der Ritter dort unten nicht nur am Leben sondern gewann auch langsam seine Stärke zurück. Nachtschwarz und lichtlos war es da unten auf den Mauern – für Rodils Augen jedenfalls. Er wusste, dass ein strahlender Spätfrühling auch die Steine dort unten erwärmte. Schon schäumte der Freach nicht mehr mit so wilder Gewalt in das Tal. Bald würde der Sommer anbrechen, wenn das Wasser des kleinen Stromes stets versiegte. Rodil wusste, er brauchte nur sein Schwert zu ergreifen und die Wahrheit, die er sah, würde die Lügen dort unten so mühelos durchtrennen, wie ein scharfes Schwert ein Spinngewebe. - Und jeder in der Burg würde sofort wissen, was geschehen war.
Darum konnte er nur abwarten. Es gab Momente, da fehlte nicht viel, dass er den Kontakt hätte aufnehmen können. Manchmal brach das Licht dort unten fast durch all die Dunkelheiten hindurch. Die schwarzen Wirbel wallten und brodelten lange, bevor sie wieder zur Ruhe kamen und alles bedeckten. So wenig fehlte, und sie wären ganz gescheitert. Er hegte nie vergebliche Hoffnungen. Ríochan hatte nicht viel über das gesprochen, was geschehen musste. Aber einiges war unweigerlich. Die Dunkelheit würde noch wachsen, bevor es eine Möglichkeit gab, sie zu Fall zu bringen.
******
Asrain verbrachte trübe Stunden in Gesellschaft einer Harfe. Er hatte dabei Zeit genug gefunden, an seinen Kenntnissen der Musik zu arbeiten. Er war sich fast sicher, den Fürsten überzeugen zu können, dass er darin keine weitere Vertiefung brauchte. Er würde auf keinen Fall dulden, dass Akan ... Solche Sätze dachte er nie zu Ende – der Name allein war schon mehr als ausreichend - sondern ging mit wutentbrannten Schritten, die Hände auf dem Rücken zu Fäusten geballt, im Zimmer auf und ab, bis er seinen Zorn wieder unter Kontrolle hatte.
Die Dissonanzen hatten sich nicht aufgelöst. So kaum merklich, wie sie waren. Es waren sogar neue hinzu gekommen. Aber realistisch konnte er nur feststellen: Der Fortschritt, so es denn einer war, war infinitesimal klein. Bei jedem Gespräch mit dem Fürsten erwartete er deshalb schmerzliche Konsequenzen, aber Barraid hörte nur auf seine mit immer größerem Zagen und innerem Zittern vorgetragenen Berichte, gab ein paar knappe Anweisungen und entließ ihn. Das konnte nicht mehr lange gut gehen.
Diese Anweisungen! Was immer sich Barraid dabei dachte, es machte alles nur noch schlimmer. O ja, dieses Gespräch über Alandas hatte eins, zwei Dissonanzen produziert. Er konnte sie hören – weil er wusste, dass sie da waren! Dafür hatte der Ritter in seiner ohnehin sehr straffen Zeiteinteilung seitdem Raum gefunden, lange Minuten, manchmal sogar fast stundenlang da zu sitzen, zu stehen, zu knien – was auch immer- mit der gezogenen Klinge vor sich. Stunden, in denen er vollkommen unerreichbar war für Asrain.
Einmal hatte Asrain mit äußerster Vorsicht bei Barraid nachgefragt, ob es keine Möglichkeit gäbe, diese Waffe doch noch aus dem Verkehr zu ziehen. Das hatte fast das Resultat gebracht, das er in Bezug auf die Arbeit mit der Harfe schon die ganze Zeit befürchtete.
So starrte Asrain also auf diese Harfe. Mit halber Aufmerksamkeit malte er sich Szenarien über die Vernichtung der ganzen Instrumentengattung aus. Und die Tage verstrichen.

******
„Warum eigentlich sehen wir nie auch nur eine Siedlung?“ erkundigte Isabell sich eines Abends. Sie waren jetzt schon einige Tage unterwegs. „Ist Abhaileon so dünn besiedelt und so groß?“
„Es ist groß genug, wenn man Pferde braucht um von einem Ende ans andere zu kommen“, sagte Akan. „Aber selbst wenn wir uns an die Wälder halten, wir sind nicht weit vom Fuß der Nordberge entfernt, und die Abhaileoner meiden sie seit jeher weitgehend. Hinzu kommt, dass der Osten Abhaileons tatsächlich hauptsächlich aus Wald und Fels besteht.“
„Ich verstehe das nicht“, Isabell runzelte die Stirn. „Warum sollten sie die Nordberge meiden? Alandas ist doch in keiner Weise gefährlich für sie. Eher das Gegenteil, dachte ich. Außerdem gibt es doch schon lange keine Verbindung mehr zwischen beiden, so wie ich das verstand.“
„Sie fürchten Alandas fast so sehr wie Winian“, Akan verzog kaum merklich einen Mundwinkel. „Oder besser gesagt, es ist ihnen nicht ganz geheuer. Was das andere angeht, die Beziehungen zwischen Alandas und Abhaileon waren schon oft angespannt. Die Abhaileoner lieben ihre Unabhängigkeit sehr. – Und dann sind da natürlich noch die Drachen.“
„Drachen?“ Isabell war sehr interessiert. „Richtige Drachen? Atmen sie Feuer?“
„Einige von ihnen. Es gibt nicht viele. Sie tauchen nur im Süden der Nordberge auf. Die Feuerspeienden sind ziemlich unangenehm.“ Er zuckte die Schultern. „Jedenfalls für die Abhaileoner. Wir aus Winian haben keine großen Probleme, mit ihnen fertig zu werden.“
„Ihr habt andere Waffen?“
Akan lachte auf und sah sie direkt an. „Unsere Waffen würden Ardaner staunen lassen. Aber wir halten uns hier an gewisse Regeln. Es bereitet in der Tat einige Mühe.“
„Wenn Eure Waffen so beeindruckend sind“, wollte Isabell nachdenklich wissen. „Ist Winian dann Arda noch in anderem überlegen?“
Akans Gesicht blieb ausdruckslos. „Ihr würdet mich für arrogant halten, wenn darüber detaillierter sprechen würde.“
„Dann habt Ihr auch Eure physikalischen Kenntnisse nicht in Arda erlernt?“
„Das habe ich nicht. Ich war schon lange, was ich bin, bevor ich auch nur von Arda hörte.“

Isabell dachte nun längere Zeit nach, während sie weitergingen. Ein Spaziergang war am Abend nach der langen Zeit im Sattel doch immer gut, um die Muskeln entspannen zu können. Man hatte ihr gesagt, allein sei es unter Umständen zu gefährlich; es gebe Banditen im östlichen Abhaileon. Doch Akan begleitete sie des öfteren. Offenbar war es nicht so gefährlich, dass ein einzelner Bewaffneter etwas zu fürchten hatte, denn niemand sah ihnen auch nur nach, wenn sie gingen. Schließlich stellte sie die Frage, die sie schon lange bewegte: „Warum eigentlich seid Ihr hier  in Abhaileon?“
Akans dunkelgraue Augen waren unergründlich. „Darauf gibt es vieles zu sagen“, meinte er. „Ich werde Euch bei weitem nicht alles nennen. Aber etwas, das Ihr hören solltet: Abhaileon steht an einer Zeitenwende. Sein altes Regierungssystem ist am Zusammenbrechen. Die Welt schwankt zwischen einer Art Feudalismus und Bruchstücken einer Demokratie. Keines vom beiden hat einen festen Stand. Über Jahrzehnte, vielleicht schon Jahrhunderte hinweg hat sich eine Art Machtvakuum aufgebaut. Um wieder die Physik zu zitieren: Es muss eine nicht unbedeutende Kraft aufgewandt werden, um ein geschlossenes System davor zu bewahren ins Chaos zu fallen. Das Chaos hat begonnen loszubrechen. Das Bündnis der Provinzen ist kurz vor dem Zerbruch. Neue Mächte kommen auf. Die Straßen sind nicht mehr sicher, weil Räuber ihr Unwesen treiben. Wenn keine starke Hand eingreift, wird alles, was derzeit besteht, von Kriegen und Unruhen zerrissen werden.“ Akan sah ihr wieder in die Augen. „Manche sagen, Macht trage Verantwortung mit sich.“

„Was ist dann mit Alandas?“ fragte Isabell verwirrt. „Hat Alandas nicht genug Macht?“
„Alandas hat genug Macht“, antwortete Lord Akan. „Aber es verfolgt auch Interessen, die wir eher für bedenklich halten.“
„Was sind das für Interessen?“
Der Lord lächelte unverbindlich. „Es steht mir leider nicht zu, jetzt mit Euch darüber zu sprechen. Ich bin mir sicher, auf Carraig werdet Ihr mehr erfahren.“
Isabell runzelte ärgerlich die Stirn. „Ihr seid sehr gut im Ausweichen!“ bemerkte sie.
Akan lächelte nur. „Ich gebe Euch zumindest derzeit noch Möglichkeit für andere Fragen. Stellt sie ruhig. Auch wir werden uns dann erst auf Carraig wiedersehen. Meine Aufgaben hier im Westen sind ausgeführt. Ich reite schon heute nacht voraus.“
„Wir könnten alle das Tempo beschleunigen“, schlug Isabell vor.
Er schüttelte den Kopf. „Ihr reitet immer besser. Aber das wäre zuviel verlangt. Ich möchte, dass Ihr in bester Verfassung ankommt.“
Nach dieser Mitteilung  wollte Isabell leider gar keine Frage mehr einfallen.
******
Akan nahm nur eine Handvoll der Reiter mit sich, aber fast alle Reservepferde. Erst an diesem Tag hatte er die Neuigkeiten erfahren, als er den Posten an einem der Übergänge nach Alandas auswechselte. Weiter nach Westen war es anscheinend noch nicht gedrungen gewesen: Urkha hatte endlich das mehr als verdiente Ende gefunden. Leider nicht, bevor er seine Aufgabe auf Cardolan vollkommen verpatzt hatte. Cardolan war immer noch Akans Zuständigkeit. Was immer ihn deswegen erwartete, er würde es auch durchstehen, aber es konnte ihn zusätzliche Zeit kosten. Doch der Ritter war auf Carraig. Das eröffnete neue Möglichkeiten. Die junge Ardanerin war in sicheren Händen und hatte genug zum Nachdenken. Dafür hatte er gründlich gesorgt. Er war jetzt auf Carraig nützlicher. Teran würde den Rest der Aufgaben allein erledigen können.
Es kostete sie über eine Woche, das Tal des Freach zu erreichen. Als Akan kurz unterhalb der Tore noch einmal über die Ebene nach Osten blickte, bestätigte sich seine Ahnung, dass Eile angebracht war. Das waren mehr als die Truppen aus Cardolan, die da jetzt anrückten. Bald würde es hektisch zugehen um Carraig herum. Auch würde er von Asrik wohl einen besseren Bericht bekommen, was im Winter geschehen war.
Lùg warf ihm einen fragenden Blick zu, als er ihm kurz vor den Zimmern des Fürsten begegnete. Doch für dieses Mal ignorierte er ihn. Er wollte die Unannehmlichkeiten sofort hinter sich bringen, um dann seine Konzentration ganz der bevorstehenden Aufgabe zuwenden zu können.

Der Fürst war in einer seiner seltenen großzügigeren Launen. Er erwähnte kein Wort von Cardolan und wollte nur einen exakten Bericht über die Erledigung von Akans Aufgaben. Er befahl ihm mit einer Handbewegung aufzustehen und ihm folgen. Sie gingen zu Asrains Zimmern. Der Lord sprang auf, als sie eintraten und warf Akan einen Blick zu, der nicht nur wie üblich Zorn, Hass und Verachtung enthielt, bevor er sich tief vor dem Fürsten verbeugte. Da war auch eine Art Misstrauen in seinen Augen gewesen, das Akan vorerst nur registrieren aber nicht einordnen konnte. Barraid wies auf eine Harfe.
Es war kein besonderes Stück. Nicht schlecht gearbeitet aber alt und ein wenig abgenutzt. Als Akan sie aufnahm, begriff er, um was es ging. Die Harfe war eine abhaileonische Arbeit, doch jemand hatte sie sie zu etwas mehr gemacht. Jemand aus Alandas oder ... Er war sich nicht ganz sicher, aber vielleicht ... Doch deswegen war Asrain nicht hier mit dem Instrument. „Der Ritter?“ erkundigte Akan sich. Asrain nickte knapp und mit zusammengekniffenen Lippen.
Akan strich einmal leicht über die Saiten und lächelte mehr oder weniger unwillkürlich. Ein böses kleines Lächeln. „Ich würde ihn gerne selbst sehen“, bemerkte er. Barraid nickte befriedigt.
„Eure Arbeit, Gebieter?“ fragte Akan ruhig, während er das Instrument zurücklegte. Asrain sah daraufhin nach einem Wutanfall aus, aber es war unmöglich, dass er dieses Werk ohne Anleitung vollbracht hatte. Jedenfalls wagte er es auch nicht zu protestieren.
 Der Fürst lächelte und warf dem blonden Lord einen vielsagenden Blick zu. „Asrain hat die Möglichkeit genutzt, seine Fähigkeiten etwas zu vervollkommnen.“ Asrain verbeugte sich. „Nach anfänglichen Missgriffen hat er sich so verbessert, dass ich dir nicht auftragen muss, ihm weiterführenden Unterricht zu erteilen.“ Das Gesicht des Lords wurde zu einer Studie von Erleichterung gemischt mit wildem Zorn. „Ja, wirf einen Blick auf  Ritter Anno und komm dann wieder zu mir. Asrain sollte wissen, wo er ist.“ Er ging.
Akan verzog keine Miene, und Asrain bewahrte die Beherrschung. Etwas Boshaftes trat in seinen Blick. „Er ist im kleinen Waffensaal und trainiert“, sagte er erstaunlich bereitwillig.
Akan nickte und ging ebenfalls. Er wechselte selten so viele Worte mit dem anderen.

Er musste nicht erst die Tür zum Waffensaal öffnen, um zu wissen, um was es ging. Der Ritter trainierte mit seinem eigenen Schwert. Wenig überraschend, dass Asrain da zurückscheute. Akan hatte jedoch nicht vor, sich davon allzu sehr beeindrucken zu lassen. Er war noch andere Unannehmlichkeiten gewohnt. Leise trat er ein. Der Ritter unterbrach seinen Bewegungsablauf nicht, so hatte er Zeit ihn genauer zu betrachten. Er sah nach nichts Besonderem aus. Dunkle, leicht gelockte Haare. Relativ hager, aber das waren wohl auch die Folgen der Zeit in Cardolan. Die noch frisch wirkenden Narben ebenso. Seine Bewegungen waren nicht ganz flüssig. Er schwitzte gewaltig. Das Schwert zitterte etwas, als sei es ihm zu schwer. Die Abfolge ... Akans Augen verengten sich geringfügig. Das war keine Frage, wo er das gelernt hatte. Selbst in Alandas kamen dafür nicht viele in Frage. Derzeit war der Mann vollkommen überfordert damit. Er brachte die Kombination ohne großes Bravour zu Ende. Dann drehte er sich zu ihm um, ohne jede Überraschung. Er senkte das Schwert und blickte ihn fragend an. Ein durchaus selbstbewusster Blick in diesen grau-grünen Augen.
„Mein Name ist Akan“, sagte der Lord.
„Lord Akan, vermute ich“, sagte der Ritter und ging ein paar Schritte näher. „Ich hörte von Euch.“ Seine Worte verrieten nicht was es war, was er gehört hatte.
„Ihr könntet Euer Schwert verwahren“, schlug der Lord vor. „Ich habe nicht vor, einen Übungsgang mit Euch auszutragen.“
„Derzeit würde es auch noch wenig Sinn machen“, entgegnete der andere. „Aber eines Tages könntet Ihr es fürchten.“
Er war bemerkenswert unverfroren und unverschämt, stellte Akan fest. „Ihr haltet uns also noch immer für den Feind“, sagte er sanft. „Bedauerlich.“
Anno betrachtete kritisch die Klinge seines Schwertes und führte das Heft an die Lippen, bevor er die Waffe in ihrer Scheide verwahrte. Es lag Hingabe darin, doch auch ein wenig Resignation. „Wenn Ihr es nicht seid, lasst mich gehen!“
„Ich bin nicht Euer Gastgeber“, bemerkte Akan freundlich. „Ich bin noch keine Stunde lang zurück.“

Der Ritter nahm ein Handtuch und wischte sich den Schweiß ab, bevor er Hemd und Weste anzog. „Was wollt Ihr?“ sagte er. Da war etwas an diesem neuen winianischen Lord, das ihm auf den ersten Blick hin nicht zusagte. Er sah eigentlich unauffällig genug aus, und dennoch.
„Mir wurde mitgeteilt, Ihr habet eine gewisse Liebe zur Musik“, sagte Akan. „Das ist kein weit verbreitetes Interesse hier.“
„Oh“, sagte Robin ohne Begeisterung. „Das kam wohl von Lùg. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Asrain das zur Begrüßung erzählte.“ Er zuckte die Schultern. „Die Musik, die ich am meisten liebe, dürfte Euch kaum zusagen. Dennoch, wenn Ihr eine Harfe für mich übrig hättet, würde ich sie vielleicht nehmen. Asrain versprach einmal, eine für mich zu finden als Ersatz für meine verlorene. Aber das war wohl nicht ernst gemeint.“
„Wenn Ihr wollt, kommt mit mir“, schlug Akan vor. „Ich bezweifle zwar, dass ich hier eine Harfe habe. Ich halte mich nicht oft auf Carraig auf. Aber ein paar Instrumente befinden sich in meinen Zimmern. Vielleicht sagt Euch eines zu.“
Robin musterte ihn skeptisch. „Und deswegen kommt Ihr fast direkt nach Eurer Ankunft nach wer weiß wie langer Reise zu mir?“
„Warum nicht?“ erwiderte Akan ruhig. „Je länger ich bleibe, desto weniger Möglichkeit würde ich dafür finden. Der Fürst erhebt große Ansprüche auf meine Zeit.“
„Wie Ihr wollt“, sagte Robin gleichgültig. „Irgendein Instrument wäre vermutlich besser als gar keines.“

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