Dienstag, 6. September 2011

Kapitel 23.2


Tatsächlich war die Temperatur schnell angestiegen, während sich die Sonne über den Horizont geschoben hatte. Dorban nickte. Er hatte auch so schon genug, über das er nachdenken konnte. Immer wieder warfen sie Blicke zum Himmel, hielten Ausschau nach Flugzeugen, konnten jedoch keines erspähen. Nach einiger Zeit stießen sie auf eine Piste mit Reifenspuren, der sie in Richtung eines Gebirgszuges folgten. Sie hofften, in der Nähe der Berge eher auf Wasser zu stoßen. Das war ihnen jedoch bis zum Mittag noch nicht gelungen. Sie versuchten, ihre Umgegend im Auge zu halten, aber sie waren müde, erschöpft und in fremdem Terrain unterwegs.
Die Straße hatte begonnen leicht anzusteigen. Als sie an einer Felsgruppe vorbeikamen, peitschte ein Schuss an ihnen vorbei. Bearisean blieb stehen, hielt Dorban am Arm zurück und hob die eigenen Arme langsam. Auf Englisch rief er: „Nicht schießen! Wir sind Touristen!“ Immerhin war das ein Warnschuss gewesen. Das war also niemand, der sie ohne jeden Grund töten wollte.
Dorban nahm ebenfalls langsam die Hände hoch. So warteten sie ab, bis fünf Männer zwischen den Felsen hervorkamen. Sie trugen eine Art von Uniform und Helme. In den Händen hielten sie ihre Waffen schussbereit. Der eine befahl etwas, woraufhin zwei von ihnen ihre Schusswaffen ablegten und die beiden Fremden grob auf Waffen untersuchten. Sie fanden nichts außer den zwei Dolchen. Auf ein paar Worte ihres Anführers hin, fesselten sie den beiden Rittern die Hände auf den Rücken und zogen sich mit ihnen wieder hinter die Felsen zurück. Sie waren hier offensichtlich postiert, um die Straße zu kontrollieren.
Bearisean versuchte nach Wasser zu fragen. Doch sie konnten oder wollten sein Englisch nicht verstehen. Er verstand auch ihre Sprache nicht; er vermutete, dass es ein arabischer Dialekt war, aber sicher war er sich nicht. Robin würde es wissen, dachte er bedrückt. Er könnte vielleicht sogar mit ihnen sprechen.

Dorban betrachtete die Soldaten zunächst interessiert, besonders ihre Waffen. Am Vormittag hatte er sich von Bearisean kurz das Prinzip von Schusswaffen näher erklären lassen. Was er hörte, hatte ihn sehr beeindruckt. Bearisean hatte eigentlich nicht unnötig sprechen wollen. Aber er bedachte Dorbans manchmal heftiges Temperament und zu welchen Schwierigkeiten das führen mochte, sollten sie auf Bewaffnete treffen, also hatte er es für klüger gehalten, ihn ausdrücklich vor Pistolen und Gewehren zu warnen.
Einer der Männer war abkommandiert, sie zu beaufsichtigen. Nach einiger Zeit zündete er sich eine Zigarette an. „Was tut er da?“ fragte Dorban leise. Der andere raunzte etwas und versetzte ihm einen Stoß mit dem Gewehrkolben. So erhielt er keine Antwort. So verging der Nachmittag. Die anderen Soldaten unterhielten sich gelegentlich, aber sie verstanden sie nicht. Von ihnen wurde nur erwartet sich ganz still zu verhalten.  Ihre Gegner machten sich nie die Mühe, ihnen etwas Wasser anzubieten.

Erst am Abend wurde die Stille von einem näherkommenden Motorengeräusch unterbrochen. Ein Jeep kam gefahren. Vielleicht kontrollierte er die Posten. Nach einem kurzen Wortwechsel erhielten sie endlich etwas Wasser. Es war brackig und roch nicht allzu gut, doch zu diesem Zeitpunkt waren sie nicht mehr allzu wählerisch. Sie wurden mit vorgehaltenem Gewehr zu der überdeckten Ladefläche gestoßen und hinaufgeschoben. Ihr Wächter nahm mit dem Gewehr ihnen gegenüber Platz. Die Fahrt dauerte recht lange, und da es bereits Nacht geworden war, und nur unter ihrer Plane eine schwache Lampe schien, sahen sie auch während der weiteren kurzen Halte nichts. Der ihnen gegenüberhockende Soldat verfolgte auch die kleinste Bewegung mit dem Gewehrlauf. Sie versuchten ein wenig Schlaf zu finden, konnten aber nie für lange einnicken, so wurden sie auf der schlechten Straße durchgeschüttelt. Als sie endlich vollkommen steif vom Wagen steigen sollten, stand bereits der erste bleiche Schimmer des Morgens am Himmel.

Als Bearisean sich umsah, stellte er fest, dass sie auf einem offenen Platz zwischen ein paar barackenartigen Gebäuden standen. Er beobachtete, dass der Offizier, der im Jeep gewesen war in eines der Gebäude hineinging. Von den Soldaten, die den Platz querten, warf ihnen keiner einen zweiten Blick zu.
Nach einer Weile kehrte der Offizier in Begleitung zweier Männer zurück. „Wer seid ihr?“ fragte einer von ihnen. Sein Englisch hatte einen starken Akzent.
„Ein Glück, daß wir endlich auf jemanden treffen, der uns versteht!“ rief Bearisean. Seine Freude war nicht gespielt. Auch wenn er sich sehr bemühte, sich in die Lage normaler ardanischer Reisender zu versetzen. „Wir sind Touristen und haben einiges Pech gehabt.“
Der Übersetzer sprach kurz mit dem anderen Fremden. „Woher seid ihr?“ wollte er dann wissen.
„Wir sind aus Irland“, gab Bearisean bereitwillig Auskunft. Er wusste, dass seine Aussprache einen deutlich gälischen Einschlag hatte. „Wir wollten so eine Art Abenteuerurlaub machen, und dann ist es etwas zu abenteuerlich geworden, denn ...“
„Wo sind Ihre Pässe?“ forderte der andere.
„Ja, also“, sagte Bearisean. Mit so etwas hatte er gerechnet. „Gerade das ist auch so ein Problem. Die haben wir nicht mehr. Wir müssten ganz dringend mit unserer Botschaft sprechen. Die Papiere sind uns allesamt bei einem Überfall abhanden gekommen. Wenn Sie so freundlich sein könnten, uns ein Telefongespräch zu vermitteln?“
„Wo war dieser Überfall?“

Bearisean wusste leider nicht einmal, in welchem Land er sich befand. Genau genommen war er sich nicht einmal sicher, um welchen Kontinent es sich handelte. Er vermutete Asien, aber es konnte auch Afrika sein. Er hoffte, mit ein paar vagen Angaben durchzukommen. Er glaubte, sich erinnern zu können, dass manche Touristen nicht die Schilder der Ortsnamen lesen konnten, die sie durchquerten und sich überhaupt recht ungeschickt verhielten. Er sagte: „Also, wir befanden uns so 50 Meilen vor der Hauptstadt und fuhren auf eine Seitenstraße, da ist es passiert. Fünf, sechs bewaffnete Männer nahmen uns das Fahrzeug ab, nahmen uns gefangen und setzten uns zum Glück dann nach ein paar Stunden wieder in einer unbekannten Gegend ab. Seitdem irren wir so umher, ohne zu wissen, wo wir sind.“
„Nennen Sie mir die Registrierung des Kfz“, sagte der Mann. „Wir werden die Angaben bei der Visaabteilung überprüfen.“
In diesem Augenblick wusste Bearisean, dass er verlieren würde. Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. In weiten Teilen Ardas genügten nicht einmal die Reisepässe. Man benötigte noch diese Extraeinträge, die Visa genannt wurden. Er gab an, daß er sich an die Nummer nicht mehr erinnern könne, es sei ein Leihwagen gewesen aus der Türkei und wusste, daß die Schwierigkeiten in ein paar Stunden erst richtig losgehen würden.

„Wir sind in den größten Schwierigkeiten“, teilte er Dorban mit. Sie durften jetzt unter Aufsicht miteinander sprechen. Abhaileonisch war in einigem ähnlich wie das Irisch-Gälische. Er bezweifelte, dass es hier einen Experten gab, der es würde unterscheiden können. Er schilderte Dorban das Visumproblem und seine wahrscheinlichen Folgen. „Entweder gelingt es uns, in den nächsten Stunden hier wegzukommen oder wir können uns alle Gedanken über Abhaileon aus dem Kopf schlagen. Hier kommen wir dann nicht mehr heraus, bevor in Abhaileon alles entschieden ist. Falls überhaupt“, fügte er düster hinzu. „Sie könnten uns für Spione halten.“
„Wenigstens könnt Ihr mit ihnen reden. Lässt sich denn nicht irgendwie erklären, woher wir wirklich kommen. Wenn es in Abhaileon Überlieferungen über die Tore nach Arda gibt, dann sollte es doch hier etwas Gleichwertiges geben.“
„Das gibt es schon“, gab Bearisean zu. „Doch leider ist das eher auf die Westküste Europas beschränkt. Selbst dort würden sie uns eher als geistig verwirrt betrachten. Dort hätten wir außerdem auch keine Probleme mit dem Militär. Genauer gesagt, dort wüsste ich, wie ich weiterkomme. Aber hier sieht es sehr schlecht aus. Es gibt da nämlich ein Land, das hier sehr unbeliebt ist, und ich fürchte, sie werden vermuten, dass wir in dessen Auftrag hier sind.“
„Ich spreche keine einzige der Sprachen hier“, wandte Dorban ein.
„Das werden sie für eine Finte halten.“
„Was ist mit Eurem Bekannten?“
„Er ist meine letzte Hoffnung. Wenn ich ihn erreichen könnte, vielleicht könnte er selbst das regeln.“

Die Fesseln waren ihnen abgenommen worden. Sie standen aber weiterhin unter Bewachung. Bearisean gelang es einmal, ihre Baracke kurz zu verlassen. Doch an ein Entkommen war nicht zu denken. Er konnte Dorban ohnehin nicht allein zurücklassen.
„Ihr seid ein Ritter des Königs“, sagte Dorban schließlich, als die Stunden dahinschlichen. Sie hatten ein wenig Nahrung erhalten. „Ihr solltet in der Lage sein etwas zu tun. Darum geht es dabei doch, oder?“
„In Abhaileon hätte das Einfluss“, sagte Bearisean. „In Abhaileon könnte ich vielleicht irgendwie Fürst Ríochan erreichen. Aber hier ... Wenn ich mein Schwert noch hätte, vielleicht dann.“
„Gegen diese Gewehre?“
„Es ist mehr als irgendein Schwert“, entgegnete Bearisean. „Das Schwert macht mich zu dem, was ich bin. Und dass es jetzt nicht hier ist, gibt mir nicht gerade Zuversicht.“
Dorban schüttelte missmutig den Kopf. „Aber was ist mit Eurem König? Hat er hier auch keinen Einfluss?“
„Natürlich hat er das. Er ist König über alle Welten“, widersprach Bearisean nachdrücklich. „Aber ich habe nie so ganz verstanden, wie sich das hier auf Arda auswirkt“, fügte er dann bedrückt hinzu. „Robin wüsste da sicher mehr.“
„Ritter Anno ist nicht hier“, bemerkte Dorban unnötigerweise.
„Ich tue, was mir möglich ist“, sagte Bearisean. Er fühlte sich sehr hilflos.  

Als am Abend der Dolmetscher mit einem der höheren Offiziere zurückkam, ahnte Bearisean schon, woran sie waren. Das vorher eher gleichgültige Gesicht des Offiziers war nun äußerst unfreundlich geworden. Auf einen Wink und einen kurzen Befehl hin, traten ein paar Soldaten zu den beiden Rittern heran und fesselten ihnen wieder die Hände, dieses Mal nicht auf dem Rücken, aber mit richtigen Handschellen.
„Sie sind im Auftrag unserer Feinde hier“, lautete der Vorwurf. „Gestehen Sie!“
Bearisean hatte verzweifelt nach einer Erklärung gesucht, die ihnen vielleicht noch eine Frist verschaffen konnte. „Das sind wir nicht“, beteuerte er. „Mein Name ist Alan Rowan und ich bin irischer Staatsbürger. Sie können das überprüfen.“ Er wusste, dass über ihn richtige Papiere existierten. Mit Dorban sah das schon viel schlechter aus. Oder hatte Kurt alle Spuren getilgt, nachdem er gegangen war? „Wir haben kein Visum. Das war eine dumme Wette. Wir waren mit Freunden in der Türkei unterwegs. Jemand hatte uns erzählt, dass es da so eine Art Schmugglerpfade über die Grenze gibt. Wir dachten, wir könnten das schaffen. Aber dann hat uns der Führer im Stich gelassen und das Gepäck mitgenommen. Und dann gerieten wir an diese Banditen oder was sie auch waren ...“ Er fand, dass es nicht vollkommen unplausibel klang, aber er merkte, dass ihm ohnehin kein Glauben geschenkt wurde. Und die Sache mit Dorban ... Wenn der wenigstens irgendeine ardanische Sprache beherrschte, hätten sie es vielleicht durchziehen können. So war es nur eine Frage der Zeit, bis sie berechtigten Verdacht erweckten. Nein, den geweckten Verdacht voll bestätigten. Kein Visum, kein Pass und keine glaubhafte Erklärung, wie sie hier zwischen die Kriegsfronten geraten waren.
Natürlich wurde ihnen kein Anruf gestattet. Stattdessen brachte man sie in die nahe gelegene Gefängnisbaracke.

Sie wurden in eine winzige Zelle gestoßen, die außer ihnen sechs menschliche Bewohner und zahlreiche sehr viel kleinere Lebewesen beherbergte. Es war eng. Es war schmutzig. Es gab so gut wie nichts zu essen, und die Handfesseln wurden ihnen auch nicht abgenommen. Es gab keine Verständigungsmöglichkeit mit ihren Mitgefangenen. Die schienen ohnehin an keiner Verständigung interessiert. Sie mieden die beiden Ausländer, als hätten die eine ansteckende Krankheit. Das heißt, ganz zu Anfang hatten die „Alteingesessenen“ der Zelle versucht, ihnen das Leben noch schwerer zu machen. Doch der kräftig gebaute Dorban, der alle seiner Gegner um mehr als Haupteslänge überragte, hatte sich auch ohne Worte - oder gerade ohne Worte - schnell Respekt zu verschaffen gewusst. Dorban wurde ohnehin zusehends gereizter und da er sonst kein Ventil fand, bekam Bearisean den Großteil seiner ohnmächtigen Wut, wenn auch nur verbal, so doch sehr effektiv ab.
Dorban hatte sich bemerkenswert lange zurückgehalten. Aber als er feststellte, dass ihnen nichts und niemand zu Hilfe kommen wollte, wurden seine Bemerkungen immer sarkastischer. Warum kam ihnen dieser König nicht zu Hilfe. Genau genommen, wenn er Beariseans Hypothesen folgte, hatte der sie wohl doch in diese Lage manövriert. Wenn es eben doch nicht ein blinder Zufall war.
Beariseans Frustration wuchs ebenfalls von Tag zu Tag. Er wusste, dass der König alles in der Hand hatte. Er wusste es. Aber hier saß er mit Dorban in dieser Zelle und nichts geschah. Er wusste auch nicht, was er auf dessen Spott erwidern sollte. Er hoffte auf ein Wunder, doch in ihm – gleich wie er sich dagegen wehrte – wuchs auch immer mehr die Verzweiflung. Er antwortete gar nicht mehr auf die giftigen Seitenhiebe. Immerhin konnten sie noch zusammenhalten gegen die sechs anderen. Soweit ging Dorban denn doch nicht in seinem hilflosen Zorn.

Nach etwa anderthalb Wochen begann dann die Lage noch bedrohlicher zu werden. Sie wurden nacheinander zu einem Verhör abgeholt, dessen Verlauf kaum mit den internationalen Bestimmungen über Menschenrechte in Einklang zu bringen gewesen wäre. Bearisean wusste, dass es diese Menschenrechtskonvention gab. Er hatte versucht, das zu erwähnen, aber das war nicht zur Kenntnis genommen worden. Auch wenn sich ihre Befrager derzeit noch offensichtlich zurückhielten. Als Information brachte Bearisean aus den ersten langen zwei Stunden das Wissen mit, daß ihre Kontrahenten sich darauf eingeschossen hatten, die beiden Fremden als Angehörige des amerikanischen Geheimdienstes zu betrachten, und die Amerikaner schienen sich in diesem Land sehr unbeliebt gemacht zu haben, nach dem zu schließen, über das man von ihm nähere Auskünfte gewollt hatte. Typisch Ardaner!
Zurück in der Zelle traf ihn Dorbans Abwesenheit wie ein Schlag. Was wenn sie jetzt auch noch getrennt würden? Damit war zu rechnen. In diesem Falle wäre wohl wirklich alles entschieden gewesen. Zu seiner Erleichterung wurde Dorban jedoch - für dieses Mal wenigstens - zurückgebracht. Der Lord war in lädierterem Zustand als sein Kamerad; er hatte sich auf eine Prügelei mit seinen Bewachern eingelassen, bei der er von vornherein auf verlorenem Posten gestanden hatte.

„Es ist allerhöchste Zeit, daß etwas geschieht“, sagte Bearisean, als der andere Ritter sich wieder etwas erholt hatte. „Das hier war erst der Beginn der richtigen Probleme. Als nächstes werden sie uns in unsere Einzelteile zerlegen. Ich habe irgendwie etwas von „ein eindringliches Exempel statuieren“ verstanden und leider haben wir nun einmal keine der Informationen, die sie wollen.“
„Ich warte schon lange auf sinnvolle Vorschläge“, raunzte Dorban grimmig und spuckte Blut aus. Dann wandte er dem Ritter verächtlich den Rücken zu und wollte sich vorerst auf keinen weiteren Wortwechsel mehr einlassen.
Es war mitten in der Nacht, als Bearisean ihn aus dem Schlaf rüttelte. In der Zelle herrschte Dämmerlicht. In der Mitte der kleinen Raumes brannte eine schwache Glühbirne, die auch des Nachts nie ausgeschaltet wurde, wohl um die Häftlinge stets unter Kontrolle haben zu können.
„Du wolltest doch eine Chance hier herauszukommen“, sagte Bearisean. Die höfliche Anrede hatten sie irgendwann in diesen Tagen des Elends aufgegeben. Dorban hatte damit angefangen, um seine Verachtung besser zu demonstrieren und Bearisean hatte sich im Zorn einmal hinreißen lassen, auf die gleiche Weise zu antworten. Danach war eine Rückkehr zu den Formen nur noch als Farce erschienen.  Jetzt wirkte sein Gesicht schmal und entschlossen und in seiner Stimme lag etwas, das Dorban aufhorchen ließ. Die Resignation, die er während der letzten Tage darin zu hören gemeint hatte, war einer gewissen Härte gewichen. Vielleicht verfügte dieser geheimnisvolle Königsritter doch noch über irgendwelche Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie aus ihrer prekären Lage befreit werden konnten. Dennoch stellte er sich sofort widerborstig. „Ich sehe keine Chance“, knurrte er. Jetzt da er wach war, spürte er seine Verletzungen und Prellungen noch mehr als am vorhergehenden Tag. „Scher dich zur Hölle!“
„Das ist eine Empfehlung, der ich bestimmt nicht nachkomme“, versicherte Bearisean gelassen. „Und was die Chance angeht, die du nicht siehst: die wahrzunehmen liegt einzig und allein in deinen Händen. Ich kann gar nichts tun dabei. Deswegen sitzen wir immer noch hier fest“

„Hast du Fieber?“ erkundigte sich Dorban unfreundlich. „Du phantasierst.“
„Nein“, sagte Bearisean. „Ich habe Fürst Ríochan gesehen.“
Der Lord von Tairg wandte sich ihm endlich zu; er klang schon erheblich interessierter. „Du erklärtest mir doch, das sei nicht möglich“, sagte er. „Wieso jetzt auf einmal?“
„Vermutlich weil wir hier gar nicht vom Fleck kommen und die Zeit drängt“, sagte Bearisean nachdenklich. „Es würde mich nicht wundern, wenn in Abhaileon inzwischen schon Frühling ist.“
„Wo ist er dann?“ fauchte Dorban. „Ist er nur für meine ungläubigen Augen unsichtbar? Hat er zufällig einen Schlüssel dabei und eine kleine Armee um uns hier herauszuholen?“
„Dass wir ihn hier nicht direkt treffen können, hatte ich ja erklärt“, sagte Bearisean geduldig. „Weil wir auf Arda sind. Wir werden auch keine Armee brauchen. Das einzige was wir brauchen ist eine Art Schlüssel, und den hast du. Sozusagen“
„Sehr lustig!“ Dorban war nicht im Geringsten amüsiert. „Du hast doch Fieber! Wie willst du deinen Fürsten denn gesprochen haben?“
„Im Traum“, erklärte Bearisean.
Dorban brüllte wie ein gereizter Stier. „Ich fasse es nicht. Du weckst mich aus meinem Schlaf in diese elende Wirklichkeit, um mir etwas von Träumen vorzufaseln. Lass mich wenigstens nachts mit diesem hirnverbrannten Blödsinn in Ruhe. Weißt du, daß ich einen Augenblick lang, einen winzigen Augenblick lang wirklich geglaubt hatte, es sei etwas Wahres daran. Wir könnten hier herauskommen. Und da kommst du mir mit Träumen! Es reicht! Ich ...“

„Wenn du weiter so schreist“, entgegnete Bearisean sachlich, „dann kommen mit absoluter Garantie gleich einige der Soldaten gerannt, und die Chance ist sicherlich vertan.“
„Und wenn schon“, begann Dorban. „Was haben wir denn überhaupt noch zu verlieren?“ Dann brach er ab, denn ihm fiel auf, daß alle ihre Mitgefangenen noch schliefen. Trotz seines lauten Geschreis. Einer von ihnen bewegte sich unruhig im Schlaf. Das war alles.
Misstrauisch betrachtete Dorban die Szene. Merkwürdig. Ob da doch irgendeine andere Macht die Finger im Spiel hatte oder war es reiner Zufall? Vielleicht sollte er Bearisean tatsächlich erst einmal zuhören. Mochte sein, dass irgendetwas daran war. Der Lord wusste, daß er nach einem Strohhalm griff, aber er wusste auch, dass ihre Lage ansonsten hoffnungslos war. Er hatte sich noch nie so hilflos gefühlt wie in dieser anderen Welt, wo zu der Bedrohung noch die verunsichernde Fremdheit kam. „Erzähl also“, sagte er schließlich.
„Es ist nicht viel“, sagte Bearisean. „Ich träumte, ich sei wieder im Palast in Bailodia und wusste doch zur gleichen Zeit, daß ich hier in Arda bin, zusammen mit dir. In dem Traum begegnete ich Fürst Ríochanund bat ihn um Hilfe in unserer misslichen Lage, aber er sagte: „Du weißt, das ist selbst in Abhaileon nur mit großen Einschränkungen möglich. Auf Arda habe ich gar keine Rechte.“ Ich war niedergeschlagen. „Dann werde ich meinen Auftrag nicht zu Ende bringen können, denn bald werden wir dort sterben“, sagte ich. Aber der Fürst schüttelte den Kopf. „Der Schlüssel zur Freiheit ist da, wenn ihr ihn nur ergreift“, sagte er. „Ihr steht vor dem Tor, es muß nur aufgeschlossen werden.“ - „Womit? Wo ist es?“ fragte ich, aber ich erhielt keine Antwort. Stattdessen verblasste alles, was ich sah, vor mir. Ich wollte danach greifen, glaubte etwas zu erhaschen und wurde wach.

„Es war nur ein Traum“, dachte ich. Doch dann bemerkte ich, daß ich noch immer etwas in der Hand hielt. Erstaunt fragte ich mich, wonach ich wohl im Schlaf gegriffen haben mochte. Wie es sich herausstellte, war es nur ein Papierfetzen, der seinem Aussehen nach wohl schon lange hier auf dem Boden gelegen haben kann. Trotzdem strich ich ihn glatt, betrachtete ihn näher und mir stockte fast der Atem, als ich sah, was darauf geschrieben ist.“
„Was ist es? Zeig her!“, rief Dorban gespannt und wieder alle Vorsicht vergessend.
Bearisean hielt ihm ein vergammeltes, zerknittertes Etwas vor die Nase, auf dem mit viel Mühe einzelne Buchstaben entziffert werden konnten. „Du kannst es nicht lesen“, sagte er. „Es ist in einer Sprache Ardas geschrieben. Aber der Text lautet: „Ich lege ihm den Schlüssel des Hauses David auf die Schulter, was er öffnet, kann niemand verschließen, und was er verschließt, kann niemand mehr öffnen. - Ich habe ihn geschaffen, den Gefangenen zu sagen: Kommt heraus! und denen, die in der Finsternis sind: Kommt ans Licht!“
„Was hilft das uns denn?“ fragte Dorban mit nicht geringer Enttäuschung. „Von wem auch immer dieser Text spricht, er ist nicht hier, und wir haben keinen Schlüssel. Wer weiß, wie dieser Fetzen hierher geraten ist. Oder hilft dir das etwa weiter?“
„Das tut es“, sagte Bearisean. „Es würde nichts helfen, dir jetzt auseinanderzusetzen, woher diese Worte stammen und was sie an ihrem originalen Platz aussagen. Aber ich habe begriffen, was sie in unserer augenblicklichen Situation heißen.“
„Und das wäre?“ wollte Dorban wissen.
„Wir müssen lediglich den König um Hilfe bitten, und er wird dafür sorgen, daß wir hier herauskommen.“

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