Dienstag, 13. September 2011

Kapitel 29.2


Béarisean blickte von den Papieren auf, als jemand die Zeltwand des Einganges zurückschob. Er war darauf gefasst, Estohar zurück zu sehen. Jetzt da Ciaran gegangen war. Aber es war ein jüngerer Mann als der Ratsvorsitzende. Auch wenn ihm die meisten der Abhaileoner noch fremd waren, erkannte er ihn leicht wieder an dem feuerrotem mit weißen Strähnen durchsetzten Haar und Bart.
„Darf ich eintreten?“ fragte Lord Orla. „Ich würde Euch gerne allein sprechen.“
„Sagt Rafe Bescheid, dass er niemanden sonst durchlässt“, antwortete Béarisean und legte die Feder sorgfältig zur Seite. Er warf ihr einen kurzen stirnrunzelnden Blick zu und versuchte den leichten Krampf in seiner Hand durch ein kurzes Strecken der Finger zu entlasten. Das war auf Arda leichter gewesen, dort gab es exzellente Schreibstifte. Auch das Tintenfass zu sichern war klüger, wie er sich erinnerte.
„Ich habe ihn schon darum gebeten“, sagte der Lord. „Für den Fall, dass Ihr Zeit für mich habt.“ Er stand immer noch am Zelteingang.
„Sucht Euch einen Platz, Lord Orla“, forderte Béarisean ihn auf. „Was kann ich für Euch tun?“ Er stand von dem Schreibtisch auf. Er wollte keine künstliche Distanz zwischen sich und diesem anderen Mann. Er suchte sich eine der Truhen aus, die entlang der Zeltwände standen. Ein stabilerer Sitz als die Faltstühle und etwas formeller als die Kissen, die es noch auf dem Boden gegeben hätte.

„Es scheint, Ihr habt bereits viel für mich getan“, sagte der Lord von Fuacht und wählte eine Truhe ihm gegenüber. „Dorban erzählte mir gestern abend noch alles über Eure gemeinsame Reise. Vielleicht hörtet Ihr, dass er mit meiner Tochter verheiratet war.“
Béarisean nickte. „Der Regent erwähnte es.“
„Der Regent.“ Etwas wie ein leichtes Leuchten glitt über das Gesicht des Lords. Er räusperte sich leicht hinter der vorgehaltenen Hand und sah sein Gegenüber nicht direkt an. „Gewissermaßen scheine ich Euch auch da zu danken zu haben. Rafe erwähnte etwas über heute morgen.“
Béarisean zog die Brauen zusammen. „Ich bat ihn, dass niemand in Hörweite kommen solle.“
„Das war wohl nicht ganz die einfachste Aufgabe“, meinte Orla höflich. „Seid unbesorgt. Ich hörte nur davon, weil er weiß, dass ich ein besonderes Interesse an Herrn Ciaran habe.“
Nach einem kurzen Zögern nickte Béarisean.
„Ihr seid ein Mann von großer Ehre, Lord Sliabh Eoghaí. Abhaileon hätte auch in Euch sicherlich einen guten Regenten gefunden“, Orla hielt inne. Es war leicht zu sehen, dass er nicht auf eine Antwort wartete, sondern überlegte, wie er sich exakt ausdrücken solle. „Es erscheint sehr angemessen, Euch als Repräsentant für Alandas zu sehen. Es zeigt, dass der Herrscher dort die Traditionen Abhaileons ehrt.“
„Fürst Ríochan“, Béariseans graue Augen blickten ernst. „Ich hoffe sehr, dass Ihr ihn kennen lernen könnt. Ihr würdet vieles anders sehen danach. Aber nicht er gab mir dieses Schwert. Das ist eine Entscheidung, die nur dem König selbst zusteht.“ Er berührte die Stelle über seinem Herzen leicht mit der Hand und verbeugte sich etwas, als er es sagte.

„Das Licht in diesen Schwertern“, sagte Orla leise und warf einen kurzen Blick auf die Waffe an der Seite des Ritters. „Woher kommt es? Aus Alandas oder ... von ihm?“
„Alandas ist voller Licht“, antwortete Béarisean. „Aber ich glaube, es ist nur ein Widerschein.“
„Wie dem auch sei. Es fehlte hier, bevor Ihr kamt. Und es scheint, ich selbst habe daran mitgewirkt, es fernzuhalten.“ Er blickte Béarisean voll an. „Ich bedauere das.“
Dem war nichts hinzuzufügen. Béarisean fragte nur: „Könnt Ihr Dorban helfen, das zu erkennen?“
Orla sah ihn  noch genauso offen an. „Er muss es selbst finden. Lasst ihm einfach die Zeit, die er braucht.“
******
Béarisean saß immer noch über den Papieren, als Ciaran am späten Nachmittag zurückkam. „Hast du mit Fürst Dermot sprechen können?“ erkundigte er sich.
„Wer hat dir davon erzählt?“ fragte Ciaran überrascht zurück.
„Orla selbst.“ Béarisean lächelte flüchtig. „Er kam herein bald nach unserem Gespräch. Er sagte, er wolle sich gerne selbst ein Bild von mir machen, nachdem Dorban über unseren Weg zusammen erzählt hatte.“
Ciaran setzte sich auf eine Truhe. „Die Herrschaft in Dalinie ist noch nicht vollständig übergeben“, bemerkte er.
Béarisean nickte. „Selbst Dorban trägt dem Rechnung, wie ich gestern abend bemerkte. Und Lord Orla ist ein bemerkenswerter Mann. Er saß auch dort, wo du jetzt bist. Er war sehr sachlich. Fast als erstes sagte er, er wolle offiziell seinen Frieden mit Alandas machen. Wir sprachen lange.“ Er berichtete.

„Kam Estohar zurück?“ erkundigte Ciaran sich schließlich.
„Nur einmal sehr kurz. Er braucht Zeit, um sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Doch denke ich, er wird keine Probleme mehr machen. – Übrigens gut, dass du wieder da bist. Deine Unterschrift und dein Siegel werden gebraucht.“
„Was ist das eigentlich alles?“ Ciaran betrachtete die Stöße von Papier mit kritischer Miene.
„Lageberichte. Meldungen. Regierungsgeschäfte. – Alles muss neu geordnet werden, jetzt da wir einen Regenten haben.“ Béarisean seufzte. „Vielleicht reduziert es sich dann für die nächsten Tage. Für heute kannst du die Abkürzung nehmen. Ich sage dir, was es ist und wo du unterschreiben sollst.“
„Danke“, sagte Ciaran einfach aber sehr ernst. „Und nicht nur für das.“
Béarisean lächelte wieder einmal flüchtig. „Wir haben einen Dienst und eine Aufgabe. Zwar ist das hier nicht mein Aufgabenbereich als Botschafter für Alandas. Doch für dich ist es wichtiger, mit den Lords und Fürsten zu sprechen. Sie werden dir folgen. – Du wirst sehen, Estohar hat sich bis morgen gefangen und wird einiges davon übernehmen.“
Ciaran nickte. Er ging an den Tisch und nahm die Feder auf. „Fangen wir an!“

„Zuerst: was ist mit Fürst Dermot?“
„Er ist nirgends zu finden. Seine eigenen Leute wissen nicht genau, wohin er aufgebrochen ist. Er wollte gegen Abend zurück sein.“
„Kein gutes Zeichen“, sagte Béarisean mit gerunzelter Stirn. „Immerhin es sieht aus, als kämen morgen die letzten der Fürsten an.“
„Sobald der letzte da ist, müssen wir sie zusammenrufen.“
„Konntest du mit Dorban sprechen? Wird er zustimmen?“
„O ja“, Ciaran schnitt eine kleine Grimasse. „Der Fürst von Dalinie wird alles tun, was der Regent wünscht. Noch ein Bewunderer mehr.“
Béarisean lachte leise. „Zumindest hat er ein gutes Vorbild. – Zwischen ihm und mir war es immer etwas schwierig.“
„Er hat großen Respekt vor dir“, sagte Ciaran. „Und er wird einmal ein guter Führer sein. Dalinie ist nicht die schlechteste Schule.“
„Und Orla nicht der schlechteste Ratgeber“, stimmte Béarisean zu.

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Der Morgen war noch nicht alt. Isabell schlenderte langsam durch den Garten der Festung Carraig, den einzigen grünen Platz in dieser Burg. Auf den kahlen Felsen, die jenseits der Mauern aufragten, wuchs nur ein wenig dürres Gras und Flechten. Der schwarze Basalt war kaum verwittert und bot keinen Halt für Wurzeln. Die Erde für den kleinen Park innerhalb der Burgmauern hatte mühsam herbeigekarrt werden müssen. Die Bäume waren alle noch jung. Burg Carraig war ja auch erst vor wenig mehr als zehn, fünfzehn Jahren neu angelegt worden.
„Ihr seid allein?“ Sie drehte sich um. Es war Lord Akan, der zu ihr getreten war. Sie hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen, seit er sie damals auf dem Weg nach Carraig zurückgelassen hatte. Die wenigen flüchtigen Begegnungen in der Burg waren nicht zu rechnen.
„Hmmm.“ Isabell hatte keine rechte Lust, darauf zu antworten. Seit jenem Tag, an dem sie diese Besprechung mit dem Fürsten und den Lords gehabt hatten, war es zunehmend schwieriger geworden, mit Robin zu reden. Sie hatte eigentlich Hoffnung gehabt, ab da werde es bergauf gehen. Robin hatte sich bereiterklärt, zum Wohle Abhaileons mit den Winianern zu kooperieren. Alles, was sie in dieser und ein paar folgenden kleineren Beratungen gehört hatten, hatte nur unterstrichen, wie wichtig es war, etwas zu unternehmen. Abhaileon würde ohne winianische Intervention in eine tiefe Krise stürzen. Der Krieg dort irgendwo im Süden hatte beängstigende Ausmaße angenommen. Und der Friede zwischen Dalinie und den westlichen Provinzen war von jeher nur brüchig gewesen. Im Nordwesten gab es stets Unruhen zwischen den Provinzen. Die Küste bei Sailean war bedroht. Im Imreach drohten Aufstände. Halb Abhaileon schien entschlossen, Carraig anzugreifen. Immerhin, zur Zeit schien alles noch friedlich.
Sie hatte Robin gut zugeredet. All die vernünftigen Argumente wiederholt. Er hatte sie nicht gerade vor die Tür gesetzt, aber er war immer wortkarger und missmutiger geworden, und hatte sie irgendwie vorwurfsvoll angesehen. Und dann hatte er nichts mehr unternehmen wollen, sondern nur in seinem Zimmer gesessen und vor sich hingestarrt. Als sie heute zum etwa zwanzigsten Mal einen Satz wiederholen musste, weil er nicht wirklich zuhörte, hatte sie es fürs erste aufgegeben und Ausschau nach angenehmerem Zeitvertreib gehalten. Dabei war sie auf den Garten gestoßen.

Vorsichtig nahm Isabell eine der weißen Rosenblüten in die Hand, die zu einem Stock gehörte, der an den Mauern wuchs, die den Garten einfaßten. Der Duft war fein und süß.
„Ihr liebt diese Blumen, nicht wahr?“
„Ich mag Rosen“, gab sie zu. „Diese hier haben einen besonders angenehmen Duft.“
„Ich komme auch gelegentlich hierher“, sagte er mit einem Lächeln, „Die Landschaft ringsum ist ansonst sehr karg.“
„Wir haben uns nun schon einige Wochen nicht unterhalten“, bemerkte Isabell. „War es eine solch schreckliche Pflichtübung unterwegs?“
Er lachte leise. „Nein, es war keine unangenehme Pflichtübung. Im Gegensatz zu dem, was ich alles zu erledigen hatte, sobald ich zurück auf Carraig war. – Soll ich Eure Worte so interpretieren, dass Ihr unsere Gespräche vermisst habt?“
Isabell musterte ihn kritisch. „Ihr seid ein angenehmer Gesprächspartner“, räumte sie dann ein. „Ihr wisst viel und könnt gut darüber sprechen.“ Sie zuckte die Schultern. „Und ich hatte mir tatsächlich eingebildet, meine Gesellschaft sei Euch nicht ganz unangenehm.“ Sie runzelte die Stirn. „Nicht, dass Ihr auf falsche Gedanken kommt. Ich schätze gute Gespräche, und hoffte, auch Ihr hättet unsere Unterhaltungen nicht langweilig gefunden. Nicht mit jedem kann man gut reden. – Aber seitdem habt Ihr mich nicht mehr beachtet.“
„Mein Zeitplan war schlichtweg zu voll“, sagte Akan. „Ihr habt keine Vorstellung, was seine Hoheit manchmal von mir erwartet. Es könnte jedoch sein, dass wir uns ab jetzt wieder häufiger sehen.“

„Als nächstes werdet Ihr behaupten, Ihr habt nach mir gesucht!“
Er lächelte. „Was, wenn dem so wäre?
„Dann wüsste ich gerne warum.“
„Nun“, sagte Akan. „Ich könnte Euch zum Beispiel vorschlagen, einen kleinen Ausflug zu machen. Es wäre zu schade, wenn Ihr das Reiten nach all der Mühe wieder verlernt.“
„Ich darf also hinaus? Robin sagt, es ist ihm nicht erlaubt.“
„Das stimmt schon“, gab Akan zu. „Wir können uns nicht erlauben, ihn auf irgendeine Weise zu verlieren, aber Ihr tragt kein Rubinschwert. Daher gibt es keine derartigen Bedenken.“
„Ich hätte wirklich nichts gegen einen Ritt“, sagte Isabell. „Carraig ist beeindruckend, aber ich würde gerne auch draußen sein. Ist der Wald weit?“
„Nicht zu weit. Aber Blumen gibt es dort nicht so viele. Besonders keine Rosen.“
Sie lachte. „Dann gehen wir. Vielleicht ist Robin heute abend besser gelaunt.“
„Was ist denn mit ihm?“ erkundigte Akan sich beiläufig, während sie wieder das Innere der Burg betraten.
„Ich habe den Eindruck, das weiß er selbst nicht“, sagte Isabell ausweichend. „Vielleicht ist er einfach zu lange hier drinnen eingesperrt.“ Der Lord fragte nicht weiter.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. „Wie gefielen Euch eigentlich die Texte über Elianna?“ fragte er plötzlich.
„Ich war fasziniert. Gibt es irgendwo ein Bild von ihr?“
„Nicht hier in Abhaileon“, sagte er, „aber“ – ein Glitzern trat in seine Augen -, „vielleicht könnte ich Euch etwas zeigen, das Euch interessieren würde.“
„Was wäre das?“ wollte sie wissen.
„Zuerst müsst Ihr mir feierlich versprechen, keinem Menschen davon zu erzählen.“
„Etwas Verbotenes?“
„Nicht direkt. – Versprecht Ihr es? Kein Wort. Auch nicht zu Eurem Cousin.“
Sie zögerte. „Hat es etwas mit ihm zu tun?“
„Es gibt derzeit nichts, was ihn damit in Verbindung bringt“, versicherte Akan. „Es geht mir nur darum, dass das unter uns bleibt.“
„Also gut. Ich werde zu niemandem davon reden. Was ist es?“
Er lächelte. „Kommt einfach mit!“

Er führte sie schnell durch zahlreiche Korridore, von denen ihr die meisten nicht vertraut waren. Doch dann erkannte sie etwas wieder. „Das sind die Zimmer des Fürsten!“
Akan nickte. „Er ist ausnahmsweise nicht hier. Selbst Lúg ist nicht anwesend. Das ist selten. – Hier hinein.“
Er sah sich schnell um und öffnete eine Tür.
Es war nur ein kleines Zimmer. Es war fast leer. In seiner Mitte stand nur eine gläserne Vitrine. „Hier. Erkennt Ihr das?“
Sie trat näher. Dort unter dem Glas lag ein großer Bogen aus dunklem Holz mit einem passenden Köcher. Er war nicht gespannt. Natürlich nicht. Grüne Edelsteine glitzerten an dem Zwischenstück und den Enden. „Colins Bogen?“ fragte sie. „Der den Elianna brachte?“
Akan nickte. „Eines der wertvollsten Dinge, die es in ganz Abhaileon gibt. Er gehörte schon Colin dem Drachentöter. Das liegt mehr als zweitausend Jahre zurück.“
„So alt?“ fragte Isabell ungläubig. „Was für ein Holz soll das sein?“
„Das Holz ist nicht das Geheimnis“, erklärte Akan. „Es ist eine Art Magie, die ihn nicht verderben lässt. – Wir sollten jetzt gehen. Der Fürst wird bald zurück sein.“
Sie eilten wieder nach draußen und durch einige Gänge, bis er den Schritt wieder verlangsamte.

„Habt Ihr diese Texte über Elianna für mich ausgesucht?“ fragte sie nach einer Weile.
„Das war ich“, bestätigte er.
„Warum gerade die?“
„Ich hatte Euch gesehen. Nur kurz. Aber Ihr rieft sie mir sogleich in Erinnerung. Und ich hatte den Eindruck, es werde von Vorteil sein, wenn Ihr nach Abhaileon kämt. Darum beauftragte ich Sirok, Euer Interesse wach zu halten.“
„Das ist Euch gut gelungen“, murmelte sie. Dann blieb sie stehen. „Ich will Bogenschießen lernen“, sagte sie relativ unvermittelt. „Robin wollte sich darum kümmern, dass Asrain es mir ermöglicht. Aber er scheint nicht mehr daran gedacht zu haben.“
„Es könnte auch an Asrain liegen“, bemerkte Akan. „Ich glaube, ihm würde die Idee nicht besonders gefallen.“
„Warum?“
„Nur eine Art Aberglaube“, meinte Akan. „Das ist alles, was dahinter steht.“ Er vermied es jedoch, das näher zu erklären.

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