Donnerstag, 8. September 2011

Kapitel 26.1


XXVI Unter dem Löwenbanner

Ruandor! Dort lag sie vor ihm, die alte mächtige Festung. Rotgoldene Banner wehten auf den Türmen aus rötlichgelbem Stein. Von dort, wo er hielt, konnte Ciaran das Motiv auf ihnen nicht erkennen. Seine Erinnerung zeigte es ihm dennoch: fast jedes Kind in Abhaileon kannte den Löwen auf scharlachrotem Grund und sei es nur aus Sagen und Märchen. Ciaran selbst hatte Fürst Ludoviks Wappen schon oft genug auch in Croinathír gesehen. Nicht nur bei den Besuchen des Fürsten. Es prangte auf den Türen der prächtigsten Räume in der alten Festung. Selbst die Räume, die Tireolas-Donnacht, dem alten Regentenhaus gehörten, übertrafen diese nicht an Pracht. Nur wenige der Fürsten überhaupt hatten permanente Zimmer in der Burg von Croinathír.
Burg Ruandor war weniger groß als das gewaltige Escail doch von schöneren Proportionen. Schönheit hatte für die Fürsten von Ruandor stets eine Rolle gespielt bei dem, was sie schaffen ließen. Viele von ihnen hatten sich im Laufe der Jahrhunderte der Dichtung zugewandt oder der Malerei, seltener der Musik. Fürst Ludovik gehörte nicht zu ihnen, soweit er wusste. Er hatte seinen Ruf als Kämpfer.
Weiter entfernt in den Wäldern hörte er den Ruf von Jagdhörnern. Er selbst hatte schon die weiten Wiesen erreicht, die sich bis zu der Festung hin sanft aufschwangen. Die nächste Stadt, Ruanara, lag zwei Reitstunden im Süden, wie er wusste. Nach Süden und Westen erstreckten sich auch Äcker und Felder, zwischen denen Gehöfte lagen. Er selbst kam aus dem unwirtlicheren Nordosten. Ursprünglich hatte er vorgehabt, die Grenze bei Elifa zu überqueren. Von dort verlief eine Hauptstraße nach Ruandor. Doch durch den unfreiwilligen Aufenthalt in Rudins Lager hatte sich alles geändert. Rudin hatte sein Möglichstes getan, ihn schnell über die Grenze zu bringen. Doch hatten sich seine Führer an unwegsames Gelände gehalten.
Noch waren keine Verhandlungen mit den Lords von Eannas aufgenommen gewesen. Auch Ciaran war unsicher gewesen, ob es wirklich schon sicher für ihn war, das Land offen zu durchqueren.
Es war noch vor dem Mittag. Er ließ Doitean langsam die zum Teil gepflasterte Straße zur Burg hinaufgehen. Glücklicherweise hatte der Fuchs seinen Schock nach ein paar Tagen überwunden gehabt. Dennoch war er seitdem nicht mehr ganz so lebhaft gewesen. Vielleicht spürte er allmählich doch den weiten Weg.
Die Zugbrücke war herabgelassen, die Tore weit geöffnet. Noch bevor er die Burg erreichte, sah er, dass einige  leere Ochsenkarren herauskamen. Ansonsten schien gerade nicht besonders viel Verkehr zu herrschen. Er hielt an, als er den Torposten erreichte, und stieg vom Pferd.
„Was ist Euer Begehr?“ fragte ihn einer der Männer förmlich.
„Mein Name ist Ciaran von Fírin und ich komme mit Botschaft zu Fürst Ludovik“, gab er Auskunft.
„In wessen Auftrag?“
Ciaran lächelte. „Im Auftrag des Fürsten von Alandas“, sagte er dann.
Der Blick des Mannes verschloss sich daraufhin. Er warf einen Blick auf das Schwert an Ciarans Seite und auf sein Reittier und schien zu zögern. „Wollt Ihr es so dem Fürsten ausrichten lassen?“ fragte er knapp.
„Genau so“, antwortete der Ritter. „Wo finde ich die Stallungen?“
Der Mann erklärte es ihm. „Wartet dann am Brunnen vor dem Haupteingang. Man wird sich um Euch kümmern.“
An den Ställen traf Ciaran auf  Stallburschen genug, brachte seinen Fuchs aber selbst unter. Er sah schnell, dass er sich hier keine Gedanken machen musste, ob das Pferd gut genug versorgt werden würde. Die Boxen waren hell und geräumig, und er sah etliche bildhübsche Tiere in einigen von ihnen. Das Gesicht des Stallmeisters leuchtete auf, als er Doitean sah. „Ein prächtiger Bursche, mein Herr“, sagte er. „Aber die Linien stimmen nicht ganz. Er ist also nicht aus Imreach?“
„Aus Fuacht“, sagte Ciaran. „Orlas Zucht.“
„Ich hörte davon“, sagte der Mann mit einem Nicken. „Ich sah die Pferde, die er aus Imreach geholt hatte. Fürstin Halis wird auch sehr interessiert sein, einen Blick auf diesen Fuchs zu werfen.“
„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein“, meinte Ciaran. „Cerath liegt nicht auf meinem Weg.“
Der Stallmeister lachte. „Sie ist hier. Zurzeit fällt es nicht ganz so auf. Sie und ihre Begleiter sind auf der Jagd. Ansonsten würdet Ihr hier einige der besten Pferde Imreachs sehen.“ Er beauftragte einen der Burschen, vom besten Futter zu holen. „Es scheint, Ihr habt einen langen Weg hinter Euch?“
Ciaran nickte. „Lang, schwer und eilig. - Doitean ist ein wenig eigen. Sehr gutartig, aber scheu gegenüber Fremden.“
„Sorgt Euch nicht. Wir haben hier viel Erfahrung.“ Der Mann streckte die Hand langsam in Richtung des Hengstes und dieser begann vorsichtig daran zu schnuppern. „Seht Ihr? Sie merken so etwas.“
Ciaran wollte seine Satteltaschen schultern, aber der Stallmeister hielt ihn davon ab. „Man wird sich darum kümmern, mein Herr. Sorgt Euch um nichts, Ruandor ist stolz auf seine Gastfreundschaft.“
Der Ritter verließ den Stall mit einem Gefühl der Erleichterung. Lasten, von denen er nicht gewusst hatte, dass sie ihn bedrückten, schienen von ihm abzufallen, seit er die Burg betreten hatte. Er ging zu dem Brunnen vor dem Haupttor und setzte sich auf dessen Einfassung. Wassertropfen sprühten in feinem Regen bis zu ihm hin, wenn der Wind etwas auflebte. Er betrachtete die Figuren in der Mitte: zwei Löwen und ein Drache waren aus verschiedenfarbenen Steinen gemeißelt. Goldener Sandstein für Ruandor, roter Sandstein für Saldyr und ein bläulicher Marmor für den geflügelten Drachen von Donnacht in der Mitte. Die dazugehörigen Wappen waren auf dem Boden des Beckens als Mosaik eingelassen. Nachdenklich betrachtete er sie. Er hatte kein Wappen. Als Regent sollte er eines wählen. Er rief sich die ihm bekannten Symbole in Erinnerung, doch irgendwie konnte er sich keines davon in Verbindung mit seinem Namen vorstellen. Zu Gleann Fhírinne, von wo er seinen Namen hatte, würde ein Drache passen. Doch der einzige Drachen auf den abhaileonischen Wappen gehörte zu Donnacht-Tireolas. Ein Anspruch, den er unmöglich erheben konnte. Vielleicht konnte er einfach bei dem Bild bleiben, das das Siegel von Abhaileon zierte: Falke und Bogen, Abhaileon unter Alandas.
„Herr Ciaran!“ Er blickte auf. Jemand der in die Farben Ruandors gekleidet war, war aus der Tür des Haupteingangs getreten. „Der Fürst wird Euch empfangen!“
Offenbar war es noch nicht entschieden worden, ob er wirklich Gast hier war. Niemand hatte ihm eine Gelegenheit geboten, sich zu waschen. Niemand reichte ihm auch nur Wasser. - Doitean ging es da ganz offensichtlich besser. - Doch der Fürst empfing ihn. Nun, er konnte es ihnen nicht ganz verdenken. Die Zeit in Eannas hatte deutliche Spuren an seiner Kleidung hinterlassen, auch wenn seine Prellungen inzwischen wenigstens verheilt waren. Er sah nicht so aus, wie man sich einen Ritter des Königs vorstellen würde. Und es war in gewissem Sinne besser als das Willkommen in Sailean, das nicht wirklich ihm gegolten hatte.
Er wurde in den Thronraum von Ruandor geführt, eine prachtvolle aber nicht übermäßig große Halle mit einem flachen Podest an ihrem oberen Ende. Dort stand der Löwenthron, ein breit geschwungener sesselartiger Sitz ohne Rückenlehne, goldene Löwen zu beiden Seiten und das Löwenbanner an der Wand dahinter. Von der Decke des Saales hingen fächerartig bunte Stoffbahnen zu den Wänden herab. Wandteppiche und Läufer verliehen der Halle noch mehr Farbe. Wachen standen zu beiden Seiten des Thronstuhles, je zwei zur Rechten und zur Linken.
Fürst Ludovik saß hoch aufgerichtet auf dem Sessel, die Hände auf den Köpfen der Löwen. Seine fülligen brandroten Locken und der beeindruckende Bart hatten ebenfalls eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Löwenmähne. Er war groß, aber so breitschultrig, dass er stämmig wirkte. Ein gewaltiger Mann. Estohar von Tarim musste früher einmal ein wenig wie er ausgesehen haben, wusste Ciaran.

Ludovik lachte gern und oft. Er war als ausgesprochen leutselig bekannt. Doch jetzt war sein Gesicht fast grimmig, als er den eintretenden Ritter betrachtete.
Ciaran verbeugte sich leicht. „Ich grüße Euch, Herr von Ruandor!“ sagte er.
 Der Fürst erwiderte den Gruß nicht. „Man sagte mir, Ihr nennt Euch Ciaran von Firin“, sagte er. „Eure Sprache hat den Klang von Dalinie. Aber wer seid Ihr und was wollt Ihr?“
Ciaran wollte ansetzen zu antworten, aber der Fürst unterbrach ihn nochmals. „Bevor Ihr sprecht, überlegt Euch gut, was Ihr sagen wollt. Es gibt Namen, die hier in Ruandor heilig gehalten werden, gleich wie es sonst in Abhaileon stehen mag. Ich werde es nicht dulden, dass Ihr oder ein anderer Spott damit treibt. Also sprecht klug, oder tragt die Folgen!“
Ciaran richtete sich ebenfalls auf. „Ich komme im Auftrag des Fürsten von Alandas und bin ein Ritter des Königs“, sagte er ruhig.
Ludovik erhob sich. „Ihr tätet wohl daran, Belege für diese Behauptung vorzuweisen“, sagte er drohend.
 Ciaran blickte ihm gerade in die Augen. Er musste dazu den Kopf ein wenig heben. „Es sind zwei Beweisstücke, die ich Euch bieten kann: den Siegelring von Abhaileon als Beleg für das erste, mein Schwert zum Zeugen der Wahrheit für das zweite.
„Zeigt mir das Schwert!“ sagte Ludovik. Seine Augen funkelten vor Erregung.
Ciaran griff langsam nach dem Heft und zog ebenso langsam die Klinge blank. Die Wachen beobachteten ihn scharf mit der Hand an der Waffe. Er hielt die Klinge nach oben gerichtet zwischen sich und den Fürsten, der bis an den Rand des Podestes getreten war, auf dem der Thron stand.
„Ehre dem König!“ sagte er ruhig und fest und hob das Schwert höher. Licht brach durch die Fenster zu beiden Seiten und wurde an dem bläulichen Metall reflektiert, als bräche es daraus hervor. Ciaran selbst war etwas geblendet davon. Es war, als sei ein heller Stern unter sie gefallen.
Als der Glanz wieder langsam erlosch, trat Ludovik von dem Podest herunter. Er kniete nieder und verbeugte sich bis zum Boden. „Sprecht, Herr!“ sagte er einfach, als er sich wieder auf die Knie aufgerichtet hatte. „Ruandor steht zu Euren Diensten.“
Ciaran hörte ein Geräusch. Er blickte auf und sah, dass die Wachen ebenfalls niedergekniet waren.
„Steht auf, Fürst“, bat Ciaran ihn. „Ich bin nur ein Diener dessen, der mich gesandt hat.“
Ludovik blickte zu ihm auf, ohne der Aufforderung nachzukommen. „Ich habe sehr lange auf etwas wie heute gewartet“, sagte er leise aber entschieden. „Lasst mich den Moment auskosten. Ihr sagtet, Ihr kämt im Auftrag des Fürsten von Alandas. Was ist sein Befehl?“
Ciaran verwahrte das Schwert wieder und wiederholte ihm die Worte Fürst Ríochans. Ludovik verbeugte sich nochmals mit großem Ernst. „Es wird geschehen, wie der Fürst befiehlt.“ Wieder blickte er mit klaren Augen zu Ciaran auf. „Ihr sagtet, Ihr tragt das Siegel Abhaileons?“
Ciaran griff nach dem Ring und wollte ihn vom Finger ziehen. Ludovik hielt ihn davon ab. „Nein, Herr. Lasst den Ring an der Hand, an die er gehört! Sollte ich Eurem Wort nicht glauben? Gewährt mir nur das Vorrecht, Euch in Eure Hand den Treueid zu leisten!“
Da er immer noch keine Anstalten machte, sich zu erheben, trat Ciaran zu ihm heran. Nach dem Vorangegangenen war er nicht erstaunt, die komplette und mit Leidenschaft vorgetragene alte Formel zu vernehmen.
Mit großer Ehrerbietigkeit küsste der Fürst das Siegel und berührte dann Ciarans Fingerspitzen mit den Lippen. „Vergebt mir, mein Regent“, sagte er demütig, „ich ließ Euch nicht einmal Wasser anbieten.“
„Es machte Euch mehr Ehre als der großzügige Empfang, den andere einem Boten gaben, von dem sie glaubten, er sei aus Carraig gesandt“, sagte Ciaran.
Ludovik neigte dankend den Kopf und erhob sich endlich. Mit ihm standen auch alle anderen Anwesenden auf. „Bringt Wasser!“, befahl der Fürst. „Bringt Wein und Brot!“ Ein breites Lächeln glitt auf sein Gesicht: „Und kein Wort, von dem was hier geschehen ist, bis Fürstin Halis zurück ist! Besonders kein Wort zu ihr darüber! Aber schickt sie sofort zu uns!“  Er verbeugte sich vor Ciaran. „Kommt mit in mein Arbeitszimmer, Herr!“
Ciaran folgte ihm. Es war nicht weit. Sobald sie eingetreten waren, wandte der Fürst sich zu ihm um. „Ich habe eine Bitte an Euch, die reichlich vermessen ist, doch Ihr würdet mir eine unschätzbare Huld erweisen, dürfte ich Euer Schwert noch einmal näher betrachten.“
Ciaran lächelte. „Ich sehe keinen Grund, Euch das zu verweigern, Fürst Ludovik. Eurer Hand vertraue ich es gerne an.“ Er löste das Schwert von seinem Gürtel und reichte es dem Fürsten.
Ludovik strich zärtlich über die Ornamente von Heft und Scheide und führte den Smaragd im Knauf an seine Lippen. „Es ist ein solches Wunder, dass dieses Schwert hierher zurückgekehrt ist“, sagte er schließlich. „Vor so vielen Jahrhunderten trug Colin von Donnacht es hier in Ruandor. Damals war Mharig Fürst und trug selbst das Rubinschwert. Wem ist jenes dieses Mal anvertraut?“
„Entweder Bearisean von Sliabh Eoghaí oder Anno von Arda. Als ich ihnen begegnete, hatte noch keiner von uns sein Schwert empfangen.“
„Wisst Ihr“, sagte Ludovik, er strich weiter mit den Händen über die Schwerthülle, „natürlich träumte ich auch davon, selbst ein Ritter des Königs zu sein. Ich war in Geata Tir und bei Gleann Fhírinne aber fand die Zugänge nach Alandas verschlossen.  Damals in meiner Jugend. Inzwischen bin ich nur einfach von Herzen dankbar, dass ein Ritter des Königs gekommen ist. Wird auch Fürst Ríochan nach Abhaileon kommen?“
„So weit ich es weiß nur, wenn sich wirklich sämtliche Fürsten damit einverstanden erklären.“
„Es ist wie damals“, sagte Ludovik mit gerunzelter Stirn. „Erst als Elianna kam und Colin den Bogen brachte, als selbst Davim bereit war, ihn als Regent anzuerkennen und im Namen aller darum bitten zu lassen, kam Fürst Ríochan.“ Er seufzte. „Davim wollte nicht einmal auf Mharig hören. Und Etlan zögerte ebenfalls mit der Entscheidung bis zum Letzten. Die Dalinianer wollten ihre Differenzen mit dem Rest des Landes nicht einfach begraben. Und das obwohl wirklich alle mit dem Rücken zur Wand standen.“
Ciaran verstand kaum etwas von all dem. „Wovon genau redet Ihr, Ludovik?“ erkundigte er sich vorsichtig.
„Die Großen Kriege natürlich.“ Der Fürst war erstaunt. „Ihr wisst nicht darüber Bescheid?“
Ciaran schüttelte den Kopf. „Ich kenne nur, was in der Nife-Sammlung steht. Auf welche Quellen bezieht Ihr Euch?“
Ludovik lächelte. „Mharigs Aufzeichnungen. Es ist mir klar, dass die Euch nicht bekannt sein können. Aber da Ihr in Alandas wart, dachte ich, Ihr seid über alles unterrichtet.“
„Ich war dort nur wenige Stunden. Das heißt, es waren wohl zwei Tage, aber ich war am Rande des Todes, als ich über die Grenze gebracht wurde. Fürst Ríochan erteilte mir meinen Auftrag und ich brach schon wieder auf. - Mharig hat also Aufzeichnungen hinterlassen?“
„Ja“, Stolz strahlte im Gesicht des Fürsten. „Sie sind wohl nicht komplett, doch dafür sehr detailliert. Er fing wahrscheinlich erst an, all das aufzuschreiben, als er schon sehr alt war. Die ersten Jahre unter Colin waren eine harte Zeit für ganz Abhaileon. Der Zustand, in dem das Land war. Die Wunden, die jene Kriege gerissen hatten“, er schüttelte den Kopf. „Ihr könnt Euch das kaum vorstellen. Alle Kräfte gingen in den Wiederaufbau. Und als gerade alles einigermaßen stabilisiert war ...“
Er unterbrach sich. „Das gehört jetzt wirklich nicht hierher. Vielleicht, wenn Ihr Zeit findet, darin zu lesen. Jedenfalls war Mharig selten auf Ruandor. Er hatte stets geplant, die neuen Chroniken zu schreiben. Doch nie hatte sich Gelegenheit ergeben. Ich vermute, dass seine nächsten Nachfahren noch davon wussten. Doch selbst hier in Ruandor waren sie mittlerweile in Vergessenheit geraten. Aber ich entdeckte sie auf einem der Speicher. Ich war noch sehr jung damals.“
Sie wurden unterbrochen. Diener kamen und brachten alles, was der Fürst verlangt hatte. Er winkte ihnen zu gehen. „Bitte, gestattet mir als Wiedergutmachung für den Mangel an Willkommen, Euch zu dienen“, sagte er.
„Fürst Ludovik“, protestierte Ciaran. „Dazu besteht keinerlei Notwendigkeit. Das sagte ich Euch bereits!“
„Dann gewährt es mir als einmalige Gunst“, antwortete Ludovik. „Eine Gunst für das Haus von Ruandor, um der Ehre des Königs willen, in dessen Namen Ihr gekommen seid.“
Zögernd gab Ciaran sein Einverständnis. „Um der Treue von Ruandor und der Ehre des Königs willen.“
Das Lächeln, das auf Ludoviks Lippen trat, blieb dort, während er ihm alle nötigen kleinen Handreichungen machte, als der Ritter sich den Staub von Gesicht und Händen wusch.
Danach setzten sie sich und teilten Wein und Brot. Es war mehr eine symbolische Handlung, da es bald Zeit für das Mittagsmahl war, wie der Fürst erklärte. „Aber ich habe vor, Euch versteckt zu halten, bis meine Schwester Euch begegnet ist.“

Seine Augen blitzten von einer innerlichen Freude, dann wurde er nachdenklich. „Ich bin mir sicher, dass ich Euer Gesicht nicht zum ersten Mal sehe. Sind wir uns schon einmal begegnet?“
„Begegnet ist nicht die richtige Bezeichnung dafür“, sagte Ciaran. „Ich sah Euch des Öfteren in der Hauptstadt. Ich diente dort in der Palastgarde.“
„Richtig!“ rief Ludovik. „Jetzt da Ihr es sagt, erkenne ich Euch wieder. Ihr wart seit etwa zwei Jahren einer der Hauptleute dort. Ihr fielt mir auf. Ihr wart jung für einen solchen Rang.“
Ciaran blickte auf den Tisch; er fühlte seine Wangen heiß werden. „Es war Lady Airen, die entschied, mir die Aufgabe anzuvertrauen. Sie glaubte mich geeignet dafür.“
„Und ich dachte immer, dass Estohar die Auswahl treffe“, lachte Ludovik. „Es scheint, Lady Airen hatte ein ausgezeichnetes Auge. Wie schon gesagt, Ihr fielt mir auf. Ich überlegte, ob ich Euch nicht das Angebot machen solle, bei mir in Dienst zu treten. Es ist selten, dass man auf Männer von Eurem Talent und Eurer Gesinnung trifft, so wie Abhaileon heute ist. Doch dann dachte ich, dass Ihr Estohar nötiger seid als mir.“
Ciaran hoffte, dass die Hitze in seinem Gesicht dem Wein angelastet werden konnte. Er hob noch immer nicht den Blick. „Estohar hätte nicht gezögert, mich gehen zu lassen. Er war der Meinung, ich sei noch nicht reif genug für diese Verantwortung.“
Der Fürst lachte laut und vergnügt. „Ich dachte wirklich, er hätte ein sichereres Urteil. Weiß er schon, was Ihr jetzt seid?“

Ciaran rechnete nach. Neill konnte mittlerweile die Hauptstadt erreicht haben. „Es könnte sein, dass er es in den letzten Tagen erfahren hat“, sagte er. „Hauptmann Neill war in Daliní, um den Aufruf des Rates zu überbringen, als ich dort eintraf.“
„Wie steht es in Dalinie?“ wollte der Fürst wissen.
„Sie werden nach Corimac kommen. Nur Brian verweigerte sich. Aber es schien, dass das kein sehr großes Hindernis darstellen wird.“
Ludoviks Augen leuchteten auf. Er beugte sich gespannt vor: „Orla! Was hat Orla gesagt, als Ihr dort erschient?“
„Es ergab sich, dass ich ihn vor allen anderen sprach. Er sah das Regentensiegel und hat dafür Sorge getragen, dass mir jeder einzelne Lord von Dalinie die Treue geschworen hat. Es war beeindruckend zu sehen, wie er dort alles zu lenken versteht.“
Der Fürst nickte. „Er war immer rechtschaffen und ein Ehrenmann, und er weiß seinen Einfluss einzusetzen. Wenn Ihr ihm dazu noch gefielt ... Doch was sagte er zu Eurem Schwert?“
„Es fiel ihm nicht leicht, das zu akzeptieren“, antwortete Ciaran. „Aber er versuchte es.“
Ludovik wollte sich noch nicht damit zufrieden geben. „Was heißt das genau?“
„Er bestand darauf, dass der Eid an den Regenten in der alten Form geschworen wurde, erzählte mir Rafe von Muine. Niemand kannte den Wortlauf mehr außer Rafe, aber es war Orla, der ihn wollte. – Ich begreife nicht wirklich, warum er das und anderes tat. Er war ein wenig ablehnend, wenn es um Alandas ging.“

Dieses Mal wusste er, dass es ziemlich eindeutig nicht der Wein sein konnte, der ihm die Röte ins Gesicht trieb. „Ich glaube, er tat es mir zuliebe. Aber ich verstehe es wirklich nicht warum. Wir hatten nur wenige Worte gewechselt. Es ist wohl einfach, dass er ein großes Herz hat.“
„Das hat er“, bestätigte Ludovik. „Aber auch ein sehr verschlossenes. Ihr ahnt nicht, was für ein Wunder da geschehen ist. Als er hier vorbeikam mit seinen Pferden aus Imreach, blieb er ein paar Tage und ungestüm, wie ich manchmal bin, habe ich ihn zu sehr in die Ecke getrieben in Sachen Alandas. Ich hätte es besser bleiben lassen sollen. Ich wusste nicht, wieviel Bitterkeit da in ihm war.“ Er schüttelte den Kopf. „Er hat alles verloren, was er je liebte. Es war ihm nie anzumerken, wie schwer er daran trägt.“ Er seufzte. „Aber Ihr scheint seine Freundschaft gewonnen zu haben.“
„Dessen bin ich mir bewusst“, sagte Ciaran. „Aus irgendeinem Grund geschieht so etwas in letzter Zeit ziemlich oft. Ich würde sagen, es liegt an dem Schwert oder dem Ring, doch es begann schon vorher. Ich weiß nicht, was sie alle in mir sehen.“ Er sah den Fürsten an. „Es ist gut, mit Euch reden zu können. Ihr seid der erste und einzige, der nicht darauf sieht, wer ich war oder bin und ob ich diesen Siegelring trage – Euch geht es wie mir in erster Linie um dieses Schwert“, er berührte kurz das Heft an seiner Seite, „und das, wofür es steht.“
Der Fürst von Ruandor sah ihn lange an, bevor er darauf antwortete. „Wie viele sind es, die Euch so unerwartet Freundschaft erwiesen haben?“ sagte er dann mit einer seltsam neutralen Stimme. Seine Augen waren forschend auf den Ritter gerichtet.

„Ich weiß es nicht einmal genau“, erklärte Ciaran. „Sie sagen es mir schließlich nicht alle, was sie von mir denken. Diriac sprach zuerst davon. – Ich schulde Euch da noch eine längere Geschichte, aber wir werden ja zusammen in den Norden reiten. Ich war unter Tarnung in dem Lager des Banditenführers Restac, Diriac ist dessen Verwandter und ein Unterführer dort. – Nun, er eben. Einige andere, wie er sagte. Dann wohl Restac selbst, ein wenig. Pat, natürlich.“ Er zögerte, sagte es dann aber. „Patris Erendar, um genau zu sein. Er versuchte, mich vor Carraig zu retten.“ Er hielt noch einmal inne. Aber Ludovik zeigte keine Reaktion auf den Namen, sah ihn nur unverwandt an. „Von Orla wisst Ihr ja. Aber auch Rafe von Muine. Dann Finn von Sailean. Das war aber mehr so eine Art Heldenverehrung; er ist noch sehr jung. Ingal von Illaloe. Nun, er hatte ohnehin seine alten Eide gehalten. Er hatte nur nie verstanden, was sie wirklich hießen. Und dann in Eannas. Ich weiß gar nicht, wer alles daran beteiligt war. Auf jeden Fall Arnim von Lassalle.“
„Lassalle“, wiederholte Ludovik tonlos.
„Lassalle“, bestätigte der Ritter entschlossen. „Ich stehe zu seiner Freundschaft. Er kniete nieder, als er mir mein Schwert zurückgab. So wie die anderen ihn anstarrten, war das keine leere Geste.“

Ludovik stand auf. Er schien erschüttert.  Er riss seinen Blick von Ciaran los und ging an eines der Fenster. Lange stand er dort und blickte hinaus, ohne etwas zu sprechen.
Ciaran senkte den Kopf und holte tief Atem. Er hatte den ersten Schritt getan. Eines Tages würde er es Estohar erklären müssen. Besser, wenn er schon auf dem Weg dorthin klare Fakten schuf.  Wenigstens hatte Fürst Ludovik beherrscht reagiert und ihm nicht vorgeworfen, durch diese Entscheidung Verrat begangen zu haben. Es war natürlich ein Elend, dass er ihn derartig schockieren musste. Der Herrscher von Ruandor war einer der wenigen in Abhaileon, der in seinem ganzen Leben in Treue zum König und zu Alandas gestanden hatte. Seine Anerkennung, seine lobenden Worte waren für ihn unendlich kostbar gewesen. Doch er konnte und wollte auf keine Vorspiegelungen bauen.
Schließlich stand auch er auf. „Fürst Ludovik, ich versichere Euch, was ich getan habe, habe ich im vollen Bewusstsein meiner Verantwortung vor dem König und Fürst Ríochan und zum Wohle Abhaileons getan. Bitte, vertraut meiner Entscheidung. Ohne Lord Lassalle wäre Eannas eine Bedrohung in unserem Rücken, während wir bei Carraig kämpfen müssen. So werden Gearaid die Hände gebunden sein. Und wenn Ihr jetzt bedauert, den Siegelring Abhaileons gerade an meiner Hand zu sehen, das ist nichts Unabänderliches. Es ist nur meine Aufgabe, alle unsere Kräfte zu sammeln und zu einen. Sobald dann die Schlacht geschlagen ist ...“
Ludovik drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht war sehr ernst, doch in keiner Weise zornig. „Der Siegelring ist an der richtigen Hand“, unterbrach er. „Entschuldigt Euch nicht für richtige Entscheidungen. Es ist nur ...“

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