XXI Der
Wind weht
"Der Wind weht, wo er will: du hörst sein Brausen, weißt aber nicht,
woher er kommt und wohin er geht."
Johannes
3,8a
Sobald sie die Burg betreten hatten, blieb Ciaran stehen. Er richtete den
Blick auf Renad. „Wie weit werde ich noch kommen?“ erkundigte er sich ruhig.
„Gibt es jetzt noch irgendeinen Schein
zu wahren?“
„Nein“, erwiderte Renad langsam. In seine Augen stieg Triumph. Er zog seine
Waffe, um Gelassenheit bemüht, ohne seine zornige Anspannung ganz beherrschen
zu können.. „Ergreift ihn!“
Sie waren zu sechst. Draußen war ein Burghof voller Männer Escails. Dazu
ein für Ciaran unpassierbarer Weg nach draußen. Es wäre unsinnig gewesen, sich
zur Wehr zu setzen. Der Ritter rührte sein Schwert nicht an. Doch etwas ließ
auch die anderen zögern.
Renad nickte befriedigt. „Gut. Du leistest also keinen Widerstand. Den
Ring! Und das Schwert!“ Den Blick, den der fremde Ritter ihm zuwarf konnte er
genauso wenig deuten wie dessen Worte: „Ich bin nicht ermächtigt, sie Euch zu
überlassen.“
Zwei von Renads Männern grinsten verächtlich. Dennoch, auch sie zögerten.
Renad legte seine Klinge an den Hals des Ritters, gerade scharf genug, dass sie
die Haut verletzte. „Den Ring!“ wiederholte er, jetzt heftiger. „Sonst siehst
du, dass du nur einer von uns Sterblichen bist!“
„Ihr könnt mich nicht töten“, sagte der Ritter. „Ihr könnt nicht ändern,
was der König bestimmt hat. Ich werde hier nicht sterben.“ Diese blauen Augen
blickten mit einem unergründlichen Ernst. Hass brandete in Renad auf. Hass, wie
er ihn noch nie verspürt hatte. Jede Muskelfaser seines Armes schrie danach,
mit einer raschen Bewegung das Gegenteil dieser Worte zu beweisen. Ein Rest von
Vernunft hinderte ihn. Sie brauchten Auskünfte über dieses Alandas. Auch würde
es mehr Genugtuung bringen, diesen ..., diesen arroganten, anmaßenden,
dahergelaufenen Fremden – die Worte schienen zu schwach zu sein – zu
zerbrechen, bevor er starb.
Renads Atem ging in schweren Stößen. Dann löste er die Klinge mit einer
schnellen Bewegung von der Kehle des Ritters und hieb das Heft der Waffe mit
Gewalt gegen dessen Schläfe. Der Fremde brach zusammen. Renad lächelte grimmig.
„Nur ein gewöhnlicher Sterblicher“, sagte er verächtlich in Richtung seiner
Männer, schob die Klinge in ihre Scheide und bückte sich, um das Siegel von der
Hand des Bewusstlosen zu streifen. Der Ring ließ sich nicht bewegen. Renad
fluchte und griff nach dem Messer in seinem Gürtel, aber ein Geräusch im
Bereich des Eingangs ließ ihn innehalten. Gearaid wollte die anderen soweit wie
möglich im Ungewissen über das hier lassen. Der Ring konnte warten. Und es
würde amüsanter sein, ihn von seinem Finger zu schneiden, wenn der andere bei
Bewusstsein war. „Bringt ihn ins tiefste Verlies!“ fauchte er seinen Männern
zu, „Und stellt sicher, dass er auf keine dummen Ideen kommt.“ Er stieß das
Messer zurück und ging in Richtung der Tür. Es war Rensdal, der eintrat. Der
Lord verzog keine Miene, aber sein Blick folgte dem letzten von Renads Männern
um eine Ecke.
„Nichts, das dich anginge“, sagte Renad hart.
Der Blick Ingvars glitt den Boden entlang von jener Ecke bis zu der Stelle,
wo sie standen. Kein Blut. Die Erleichterung, die ihn durchschauerte,
überraschte ihn selbst. Er maß den Lord von Glas Fhaile schweigend mit den
Augen, bis dieser unruhig wurde. „Wie du
meinst“, sagte er dann kühl und wandte sich ab, um die große Eingangshalle zu
durchqueren. Als er seine Zimmer erreichte, schickte er alle hinaus und begann
ruhelos auf und ab zu wandern. Arnim würde zu ihm kommen. Sie mussten die
Details noch besprechen. Ein seltsames Sirren war in seinen Ohren, ein Geräusch
fast jenseits der Hörschwelle. Er schüttelte den Kopf, um es loszuwerden, und
tatsächlich ließ es bald darauf nach. Der Gedanke an den Vulkan streifte ihn.
Doch dort jenseits des Fensters lag der Escail ruhig im Sonnenlicht unter einem
wolkenlosen Himmel. Er nahm seine ziellose Wanderung wieder auf.
Ingvar war besorgt. Er wusste nicht viel über Alandas und diese ganze Sache
mit dem König und seinen Gesetzen. Er hatte es nie für erheblich gehalten. Dennoch
wäre wohl sicher alles einfacher gewesen, wäre schlichtweg nur der Regent nach
Eannas gekommen. Diese Gesetze. Er war sich ziemlich sicher, dass sie mit den
Regeln, die in Eannas galten, kaum in Einklang zu bringen waren.
Andererseis, der Regent. Allein in dem Wort lagen ein Versprechen und eine
Hoffnung, die er nicht in Worte fassen konnte. Oder war es dieser ruhige und
doch so durchdringende Blick gewesen, der ihn getroffen hatte? Etwas war anders
seitdem.
Als Lassalle endlich in das Zimmer trat, sagte Ingvar finster: „Wir werden
Garantien brauchen, dass Alandas die abhaileonischen Entscheidungen
respektiert.“
Lassalles Mundwinkel zuckten mit dem Schatten eines Lächelns. Ob er
amüsiert war, ob es Ironie war oder gar Verachtung, Ingvar war sich nicht
sicher. „Wir können reden“, sagte Arnim
und setzte sich. „Es wird uns niemand belauschen.“
„Davon ging ich aus“, entgegnete Ingvar trocken.
Lassalle entgegnete ihm kühl: „Es ist nicht ganz so einfach zu garantieren.
Ich musste abwarten, bis Gearaid und Renad in die Verliese gegangen sind.“ Er
legte ein längliches Bündel undefinierbaren Inhalts auf den Arbeitstisch am
Fenster.
Ingvar konnte sich nicht beherrschen, er begann wieder auf und ab zu gehen.
„Was wenn sie ihn jetzt schon massakrieren?“ Er versuchte grob und gleichgültig
zu klingen. Es misslang.
„Das Risiko besteht“, bemerkte Lassalle. „Aber sie haben jetzt nicht viel
Zeit, und der Regent sollte nicht gleich unter dem ersten Druck
zusammenbrechen.“
„Wann?“ Ingvars Stimme war heiser. „Wann handlen wir?“
Arnim verzog die Lippen etwas. „Heute Nacht.“ Er schlug die Tücher des
Bündels auseinander.
Ingvar trat heran und starrte auf
die goldenen Einlegearbeiten der Schwertscheide wie auf eine angriffsbereite
Schlange. „Kein Falke“, murmelte er schließlich.
Lassalles Faust schlug auf den Tisch, dass der andere zusammenzuckte.
„Verdammt! Die nächsten Stunden verlangen alle Geistesgegenwart von mir, von
dir und den anderen. Seit zwei Stunden kommt keine Maus mehr durch die Wachen
am Verlies, ohne dass Gearaid davon hört! Wir und andere stehen unter
Beobachtung“, er schnaubte verächtlich, „soweit Wilgos’ Stümper dazu fähig
sind. Wir haben heute Nacht Erfolg oder die Sache ist verloren.“ Seine Brauen zogen sich zusammen. „Alandas!
Die nächsten Stunden entscheiden, ob wir uns darüber je wirklich Sorgen machen
müssen! Stirbt der Regent ...“ Er unterbrach sich selbst. Er flüsterte es fast:
„Stirbt der Ritter des Königs ... Ich weiß nicht ...“ Er strich sich über die
Stirn und schloss flach. „Etwas macht mir Angst, Rensdal.“
Ingvar wurde bleich. Seine Lippen pressten sich zusammen. Es war nicht gut,
Lassalle von Angst sprechen zu hören. Er
streckte die rechte Hand zögernd in Richtung des smaragdbesetzten Schwerthefts.
„Ich frage mich, wie es aussieht“, sagte er düster. „Aber ich frage mich auch, ob ich es wirklich
anfassen will.“
„Rühr es nicht an.“ Lassalles Stimme war hart, sehr hart. „Das ist nichts
für solche wie dich und mich.“ Er faltete die Tücher wieder über die Waffe,
bevor sie an ihre Besprechung gingen.
******
Zuerst fühlte Ciaran die Kälte. Er öffnete die Augen und wollte nach der
Decke suchen, aber etwas stimmte nicht. Das Licht war seltsam flackernd. Die
linke Seite seines Kopfes schmerzte heftig. Als er die Hand bewegte, klirrte
etwas. Die Konzentration fiel zunächst nicht einfach, die Augen wollten nicht
fokussieren. Doch allmählich wurde alles klarer. Handschellen. Ein Gedanke
durchzuckte ihn. Der Ring! Er hob die gefesselten Hände zum Gesicht und spürte
den Druck des Siegels an seiner Wange. Die Erleichterung war ungeheuer. Ein
zweiter Gedanke: das Schwert! Natürlich war es nicht mehr da. Er stützte sich
hoch, kam schwankend auf die Beine, versuchte näher an das Licht zu kommen.
Nach wenigen Schritten hielt ihn ein Gitter auf. Die Fackel flackerte nicht
weit von ihm. Er vermutete, dass er in den Verliesen unter Escail war. Dem
Hörensagen nach waren diese Verliese sehr ausgedehnt.
Allmählich kehrten die Sinne ganz zurück. Er sah sich um. Seine Zelle war
leer. Wände und Fußboden aus grobem unbehauenem Stein. Kein Stroh, kein Wasser,
nur nackter Fels. Sobald er sich seiner Stimme sicher war, rief er nach einer
Wache, aber erhielt keine Reaktion darauf. Er hob die Hände etwas, um den
Siegelring zu studieren. Der Smaragd schimmerte schwach an den Kanten des
Schliffs. Er begriff nicht, warum ihm der Ring nicht genommen worden war.
Für das erste konnte er nur abwarten, was Gearaid tun würde. Er ließ sich
mit dem Rücken zu Wand an einer Seite des Gitters nieder, lehnte die
schmerzende Seite des Kopfes an das kalte Eisen und lauschte auf die Stille.
Vorsichtig überprüfte er, soweit es ihm möglich war, sein Aussehen und
überdachte sein weiteres Verhalten. Weit kam er damit nicht. Ein Blick auf die
brennende Fackel zeigte, dass nur etwa eine halbe Stunde vergangen war, als er
von ferne das Schlagen einer schweren Tür hörte. Als sich dann kurz darauf
Schritte näherten, stand er abwartend am Gitter.
Es waren der Fürst, Renad und drei andere Männer. „Nun, Euer
Hochwohlgeboren“, höhnte Gearaid. „Wie seid Ihr mit Euren Gemächern zufrieden?“
´Ich vermute, Ihr tut Euer Bestes´, erwiderte Ciaran ruhig. ´Leider muß ich
Eure weitere Gastfreundschaft ausschlagen, da mein Auftrag noch nicht zu Ende
geführt ist. Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr Befehl gäbet, mir mein
Pferd zu bringen, damit ich wieder aufbrechen kann.´
Gearaid lächelte kalt. „Ich möchte Euch wirklich nicht unnötig aufhalten´,
sagte er. „Wenn Ihr mir Euren Ring und die nötigen Informationen über die
Kriegsvorbereitungen in Alandas gebt, könnt Ihr sogleich weiterreiten. Ich
möchte keinen Streit mit Eurem Herrn, dem Fürsten von Alandas. Aber Ihr
versteht sicherlich, daß ich den Regentenring von Abhaileon nicht guten
Gewissens in den Händen des Gesandten einer fremden Macht belassen kann. Meine
Verantwortung als Fürst dieses Landes verbietet das.´
Ciaran begriff. Darum lebte er noch: Gearaid wollte mehr über Alandas
erfahren. Er schüttelte den Kopf. „Wozu die Verstellung?“ fragte er. „Ihr wollt
das Siegel Abhaileons für Euch selbst. Das ist unmöglich. Ihr könnt es nicht
tragen, ohne Euch dem Fürsten von Alandas zu unterstellen. Ich habe Euch nichts
mitzuteilen, das für Euch von Belang wäre, außer dem, was Euch schon bekannt
ist.“
Wieder lächelte Gearaid kalt. „Wie Ihr wollt, Herr Ciaran. Heute habe ich
einen Sieg zu feiern und werde keine Zeit an Euch verschwenden. Morgen werden
wir weiter sehen. Ich bin nicht ungnädig: Sobald ich morgen komme, gebt Ihr mir
den Ring und beantwortet meine Fragen freiwillig. Oder ich werde mir zu nehmen
wissen, was ich will.“ Er nickte Renad kurz zu und verließ sie.
Die Augen des Lords schimmerten tückisch im unsteten Licht. „Ich werde die
„Befragung“ leiten“, sagte er. „Es wird mir eine Freude sein, diesen Ring von
deinem Finger zu schneiden. Ich werde mit keiner Wimper zucken, wenn dir jeder
Knochen einzeln gebrochen oder dir die Haut in Fetzen abgezogen wird. Dir wird
deine Anmaßung noch vergehen, du Abschaum. Morgen wirst du auf den Knien vor
mir um Gnade winseln.“
„Ich bin ein Ritter des Königs“, Ciarans Stimme war ruhig und fest. „Eher
werden diese Mauern einstürzen, als dass ich das tue. Ihr, Renad, seid ein
Landesverräter und Verbrecher.“
„Du wirst mich nicht provozieren“, sagte Renad ingrimmig. „Nicht jetzt.
Gearaid will, dass wir es dir hier so tüchtig besorgen, dass du morgen
freiwillig nachgibst. Er hat ein gewisses, wenn auch nur flüchtiges und
geringes, Interesse, diplomatische
Schwierigkeiten mit diesem Alandas zu vermeiden. Aber er will eine schnelle
Antwort.
Ich habe genug von deiner Unverschämtheit gesehen, um zu wissen, dass du
sie ihm nicht geben wirst, wenn du dich noch halbwegs auf den Beinen halten
kannst. Und ich will kein Risiko eingehen. Vielleicht bist du in Wirklichkeit
nur ein Feigling und Waschlappen und brächest wider Erwarten zu früh zusammen,
wenn ich dir jetzt die gehörige Abreibung für deine Frechheit heute morgen
verpassen ließe. Nichtsdestotrotz, ein paar blaue Flecken solltest du morgen
vorzuweisen haben. Und dann werde ich freie Hand haben.“ Er winkte seinen
Begleitern zu.
„Es hätte schlimmer sein können“, dachte Ciaran, als sie eine halbe Stunde
später gingen. Um ihn herrschte jetzt tiefe Dunkelheit; sie hatten die Fackel
nicht zurückgelassen. Es hatte in der Vergangenheit Waffenübungen gegeben, nach
denen er sich auch nicht besser gefühlt hatte. Er hatte den metallischen
Geschmack von Blut im Mund, doch es war nichts Ernsthaftes. Das Unangenehmste
waren die Narben aus Gleann Fhírinne, die wieder begonnen hatten, wie Feuer zu
brennen. Doch er war besorgt wegen des kommenden Tags. Er wusste, es gab da
Dinge, die seine Kraft übersteigen würden. Er war durchaus bereit zu sterben,
ohne den Gegnern etwas von dem zu geben, was sie wollten. Was er nicht wusste,
war, ob er darauf hoffen konnte zu sterben, bevor sein Wille gebrochen wurde.
Das allein wäre schon übel genug gewesen, aber er stand hier nicht nur für sich
selbst. Der Gedanke, Renad könne einmal prahlen, ein Ritter des Königs habe ihn
um Gnade gebeten, brannte heftiger als alle Wunden und Prellungen. Das durfte
nicht geschehen!
Es wäre angenehmer gewesen, liegenzubleiben, aber er kämpfte sich auf die
Knie. „Mein König“, begann er tastend zu formulieren. „Ich kann nicht sehen,
wie ich jetzt noch den Weg nach Ruandor fortsetzen soll. Es steht zu erwarten,
dass ich Escail nicht mehr verlasse. Ich will mein Äußerstes tun, um deinem
Namen keine Unehre zu machen. Doch ich fürchte, das wird nicht ausreichend
sein. Ich brauche die Kraft auszuhalten oder einen Tod, bevor ich gebrochen
werde.“ Doch dann erfasste ihn Zorn. „Soll dieser unbedeutende Fürst sich
rühmen können, daß er deine Pläne vereitelt? Soll er sagen, daß dein Wort
nichts wert ist? Hilf mir! Er und seine Handlanger sollen erkennen, daß du
mächtiger bist als alle Mächtigen. Führe mich heraus aus dem Kerker, damit dir
die Ehre gegeben wird. Alle, deren Herz noch nicht vollständig verdorben ist,
werden mir zur Seite stehen, weil sie sehen, daß du mit mir bist.´
Er schüttelte den Kopf über die Vehemenz dieser seiner letzten Worte. Jetzt
hätte er sein Schwert brauchen können, um es zu berühren, den Kopf daran zu
stützen. Doch da waren nur die Gitterstäbe. Er fragte sich, was mit dem Schwert
geschehen werde. Es war undenkbar, dass einer der Verräter aus Eannas es führen
könnte. Dann wurde er sich des Drucks des Ringes an seiner linken Hand bewusst.
Das erinnerte ihn an den Ritter mit dem roten Bart. Vielleicht versuchte jemand
ihm zu helfen. Doch würden sie stark genug sein?
Arnim brauchte seine ganze in langen Jahren und
unter härtesten Bedingungen erlernte enorme Beherrschung, um nicht wie Ingvar
unruhig auf und ab zu gehen. Natürlich,
er hatte immer noch die Wahl, ganz offen vorzugehen, den Regenten zu befreien
und dann auf seine Besitztümer zu flüchten. Den Aufstand erklären lassen, seine
Anhänger versammeln ... – Sie waren nicht wirklich dazu bereit. Zu lange hatte
er gezögert. Er brauchte zum mindesten noch ein paar Wochen, um wirklich
vorbereitet zu sein.
Hätte er nur mehr Zeit gehabt. Doch er kannte
Renad zu gut. Es war kein Tag zu verlieren, wenn das Verhör morgen begann.
Vielleicht wäre der Regent bis zum Abend noch am Leben, aber Renad verstand
sich nicht auf die Feinheiten der Folter; alles, was er und Wilgos kannten, war
Brachialgewalt. Lassalle selbst hatte da subtilere Methoden. Grausamer
vielleicht, doch unendlich viel effektiver. Man nehme zum Beispiel den einen
von Renads Leuten, der mit in den Verliesen gewesen war bis vor einer knappen
Stunde. Der Mann war jetzt tot - in diesem Stadium der Pläne konnte kein Risiko
eingegangen werden - aber er hatte
geredet.
Warum fühlte er solchen Widerwillen beim Gedanken
an das Ende dieses Gefolgsmannes aus Glas Fhaile? Niemand um den es schade
gewesen war. Wurde er alt und weich oder war es die Besorgnis durch irgendeinen
Umstand die lockende Amnestie nicht erlangen zu können? Den Freibrief für ein
Weiterleben in Ehren. In der Ehre, die ihm fast seit seiner Geburt vorenthalten
worden war. Macht und Einfluss hatte er erobert. Doch was war aus der Ehre
geworden? Zuerst war sie ihm verweigert worden, doch dann hatte er sie
aufgegeben, hatte sich hineingestürzt in den Strudel von Dunkelheit, Vergeltung
und Gewalt.
Alandas. Im Gegenteil zu Ingvar wusste er nur zu
gut, wofür das stand. Einmal, in einer Jugend, die kaum noch Erinnerung war,
hatte er Träume gehabt. Als die Hoffnungen starben, hatte er sich mit aller
Vehemenz von diesen Dingen abgewandt, jede ihm bekannte Regel mit Willen und
Absicht gebrochen. Lassalle hatte nicht vor, um Amnestie zu bitten! Doch er
würde das Angebot annehmen, und war sich sehr sicher, dass er erhalten würde,
was er verlangte. Sein Lächeln war
freudlos: Der Ritter des Königs hatte wenig Wahl in der Angelegenheit. Es hätte
sich anfühlen sollen wie ein gewaltiger Erfolg. Jemand von jener Seite mehr
oder weniger gezwungen, dem erklärten Feind all dessen, wofür er stand, eine
solche Amnestie geben zu müssen. Warum hatte der Gedanke einen so bitteren
Beigeschmack?
Am liebsten hätte er das Fest gemieden. Doch das
wäre unklug gewesen. Lord Lassalle verpasste keine Feste. Es würde den
Erwartungen aller entsprechen, ein wenig um Gearaids Wohlwollen zu rivalisieren
und gegen Renad und Wilgos zu intrigieren. Und er sollte im Zentrum sein, um
sicherzustellen, dass alles nach Plan ging. Er wählte seine Kleidung mit
Sorgfalt: Nicht für einen Gang durch die Verliese und eventuelle Scharmützel,
sondern für einen Empfang, eines Fürsten würdig, oder eines Regenten.
„Ich vermisse unseren Ehrengast“, bemerkte Ingvar
leichthin. „Wo versteckt Ihr ihn Gearaid? Oder hat er uns bereits wieder
verlassen?“
„Er ist unpässlich.“ Gearaid war abweisend.
„Der Ring“, sagte Ingvar. „Wann werden wir ihn
sehen?“
„Das werde ich morgen klären“, winkte der Fürst
ab. „Es bestehen wohl kaum Zweifel, dass die Ansprüche dieses Fremden reine
Anmaßung sind. Selbst wenn das Siegel gefunden sein sollte, würde es
ausgerechnet jemand tragen, der von sich behauptet, ein Ritter des Königs zu
sein?“ Er lachte auf.
Ingvar lachte auch, doch nur kurz. In dieser
Angelegenheit war ihm so ganz und gar nicht nach Lachen. Er versuchte davon
abzulenken „Das könnte allerdings ein Versuch der Alander sein, ihre Ansprüche
auf Abhaileon zu untermauern. Was ist von jener Seite zu erwarten?“
„Das konnte ich noch nicht ergründen“, antwortete
Gearaid mürrisch. „Hölle auch, dass wir davon noch nicht früher erfuhren.
Dieser Fíanael hat offensichtlich ein paar Dinge verschwiegen.“
„Er hatte noch nie Skrupel zu lügen.“ Lassalle war
zu ihnen getreten.
Gearaid hob die Augenbrauen. „Du hast also
beschlossen, dein Schweigen in dieser Angelegenheit zu brechen?“ Er ließ seinen
Blick über die eisblaue Weste streifen, eine Farbe, die er noch nie an Lassalle
gesehen hatte. Sie stand ihm jedoch gut. Silberne Stickerei malte Flammen aus
Frost an den Umschlägen und Borten. Es dauerte etwas, bis Gearaid es ganz
einordnen konnte: die Farben von Corrugh. Das Gesicht des Fürsten wurde noch
fragender.
„Ich wurde um etwas betrogen“, sagte Arnim
beiläufig. „Vor vielen Jahren. Ich will es jetzt zurück.“
Gearaids Gedanken rasten. Die Amnestie, die der
Fremde verkündet hatte! Lassalle beanspruchte den Fürstenthron von Corrugh! Die
Amnestie könnte ihm die Legitimation dazu geben. Jetzt lächelte der Lord
grimmig: „Ein gewisser Ring könnte viel Bedeutung für mich haben.“
Gearaid zwang sich auch zu einem Lächeln, während
er fieberhaft weiter überlegte. „Eine hohe Forderung, aber keine unmögliche“,
sagte er. „Ist das der Preis, für den du Zugeständnisse machen würdest?“
„Ich habe beschlossen, dafür gewisse Risiken
einzugehen. Doch bevor ich entscheide, will ich den Fremden sprechen.“
Gearaid schüttelte sofort den Kopf. Etwas sagte
ihm, dass diese beiden niemals zusammentreffen durften. „Es wird nicht nötig
sein“, sagte er, „Du wirst erhalten, was du willst. Du aber wirst so bald wie
möglich im Norden gebraucht. Ich wollte schon heute mittag mit dir darüber
sprechen, aber dann kam zu vieles dazwischen.
Wilgos hat mehr oder weniger zähneknirschend zugegeben, dass er mit der
Situation dort nicht fertig wird und deine Hilfe tolerieren würde.“
„Hat er das.“ Lassalles Stimme war flach. Er
vermutete eher, dass Wilgos wider Erwarten mehr über den Ursprung der Unruhen
herausgefunden hatte, als er ihm zugetraut hätte. „Schreibt er, dass er einen
bestimmten Verdacht hat?“
Gearaid griff in seine Brusttasche und holte das
Papier heraus. „Lies selbst! Er drückt sich nicht allzu klar aus. Aber er weiß,
dass es Konsequenzen geben wird, wenn er nicht für ein paar schnelle Klärungen
dort und andernorts sorgt.“
Lassalle überflog das Schreiben und nickte.
Gearaid wusste vermutlich wirklich nicht Bescheid. Aber dieser Zwist war nun
auf die Spitze getrieben. „Ich werde morgen aufbrechen“, sagte er. „Vermutlich
noch, bevor der Tag graut. Aber dazu muss ich entsprechende Vorbereitungen
treffen.“ Gearaids Gesichtsausdruck war so zufrieden, wie Arnim sich fühlte.
Ihm war gerade die ideale Tarnung verschafft worden. Reginald würde bald bei
den Ställen sein. Er wollte sich um den Fuchs des Regenten kümmern. Regi hatte
eine gute Hand mit Pferden. Er hatte gemeint, es werde kein Problem geben, wenn
sich das Tier zuvor etwas an ihn gewöhnte.
Arnim wollte gerade Ausschau nach Elgin halten,
als Rieken ihn erspähte und fast auf ihn zustürmte. „Draußen!“ schnitt Lassalle
ihn ab, bevor der Jüngere ein Wort hervorbringen konnte. Er ahnte, um was es
ging. Eine Nische im Korridor mit Blick nach beiden Seiten bot sich an, um das schnell
zu klären. Die vorbeieilenden Dienstboten würden sich hüten, gerade ihn
belauschen zu wollen. „Also?“ fragte er ruhig.
„Renad!“ stieß Rieken hervor. Trotz seiner Erregung
dämpfte er seine Stimme. „Er war in den Verliesen. Sie haben den Regenten
zusammengeschlagen. Renad erzählt überall davon! Und was er morgen tun wird!
Dass der Fremde gesagt habe, dass eher die Festung zusammenbricht, als dass er
redet, aber dass er schon bei der kleinen Tracht Prügel halb zusammengebrochen
ist.“
„Es ist alles unter Kontrolle“, sagte Arnim
nachdrücklich. „Meiner. Bis morgen ist er frei. Also geh an deine Aufgaben!“ Er
lachte. „Oder hast du Angst, dass das mit dem Zusammensturz der Burg jetzt
passiert?“
„Kann nicht ich ...?“
„Bestimmt nicht“, sagte Lassalle hart. „Diese
Aufgabe ist bei Otho in den besten Händen. Aber ich brauche Elgin jetzt. Hast
du ihn gesehen?“
„Er wollte Richtung Hofplätze, glaube ich. Er
sagte nicht wozu.“
„Dann weiß ich Bescheid. Auf deinen Platz jetzt.“
Er schüttelte den Kopf, als der andere sich beruhigter zum Saal zurückbegab und
fragte sich, was in Rieken vor sich ging. Als sei das Wohlbefinden des Regenten
für ihn eine Sache von Leben oder Tod. Wenigstens war Elgin schon an seinem
Platz.
Er machte einen Schritt in den Gang hinein, als
der Boden unter ihm zu wanken begann. Er stützte sich an die Wand. Gift? Nein,
auch die Musik im Saal brach ab. Ein seufzendes Grollen rollte durch die Gänge,
wurde innerhalb von Sekunden ohrenbetäubend. Etwas riss ihn zu Boden. Das
Fenster in der Nische zersplitterte. Schreie im Saal, als die Decke einbrach.
Risse brachen in den Wänden auf. Er musste hier schnellstens heraus. Aber es
war unmöglich, auf die Beine zu kommen. Und plötzlich sprang ihn eine Angst an,
wie er sie nie gekannt hatte. Die Burg brach zusammen, weil der Bote des Königs
beleidigt worden war. Sie würde ihn unter sich begraben, und er hatte noch
keine Gelegenheit gehabt, mit dem Ritter zu sprechen. Es war mehr als ungerecht.
„Warum?“ schrie er in das tobende Chaos und konnte seine eigene Stimme nicht
ausmachen. „Warum hasst du mich so? Warum gibst du mir nicht diese halbe
Stunde, um etwas zu tun, das mit meinem bisherigen Leben bricht? Aber du stößt
mich in die Finsternis anstatt mir einen Funken von Licht zu geben!“
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