Sonntag, 4. September 2011

Kapitel 21.1


XXI Der Wind weht

"Der Wind weht, wo er will: du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht."
                                                                                                                                                      Johannes 3,8a

Sobald sie die Burg betreten hatten, blieb Ciaran stehen. Er richtete den Blick auf Renad. „Wie weit werde ich noch kommen?“ erkundigte er sich ruhig. „Gibt es jetzt noch  irgendeinen Schein zu wahren?“
„Nein“, erwiderte Renad langsam. In seine Augen stieg Triumph. Er zog seine Waffe, um Gelassenheit bemüht, ohne seine zornige Anspannung ganz beherrschen zu können.. „Ergreift ihn!“
Sie waren zu sechst. Draußen war ein Burghof voller Männer Escails. Dazu ein für Ciaran unpassierbarer Weg nach draußen. Es wäre unsinnig gewesen, sich zur Wehr zu setzen. Der Ritter rührte sein Schwert nicht an. Doch etwas ließ auch die anderen zögern.
Renad nickte befriedigt. „Gut. Du leistest also keinen Widerstand. Den Ring! Und das Schwert!“ Den Blick, den der fremde Ritter ihm zuwarf konnte er genauso wenig deuten wie dessen Worte: „Ich bin nicht ermächtigt, sie Euch zu überlassen.“

Zwei von Renads Männern grinsten verächtlich. Dennoch, auch sie zögerten. Renad legte seine Klinge an den Hals des Ritters, gerade scharf genug, dass sie die Haut verletzte. „Den Ring!“ wiederholte er, jetzt heftiger. „Sonst siehst du, dass du nur einer von uns Sterblichen bist!“
„Ihr könnt mich nicht töten“, sagte der Ritter. „Ihr könnt nicht ändern, was der König bestimmt hat. Ich werde hier nicht sterben.“ Diese blauen Augen blickten mit einem unergründlichen Ernst. Hass brandete in Renad auf. Hass, wie er ihn noch nie verspürt hatte. Jede Muskelfaser seines Armes schrie danach, mit einer raschen Bewegung das Gegenteil dieser Worte zu beweisen. Ein Rest von Vernunft hinderte ihn. Sie brauchten Auskünfte über dieses Alandas. Auch würde es mehr Genugtuung bringen, diesen ..., diesen arroganten, anmaßenden, dahergelaufenen Fremden – die Worte schienen zu schwach zu sein – zu zerbrechen, bevor er starb.
Renads Atem ging in schweren Stößen. Dann löste er die Klinge mit einer schnellen Bewegung von der Kehle des Ritters und hieb das Heft der Waffe mit Gewalt gegen dessen Schläfe. Der Fremde brach zusammen. Renad lächelte grimmig. „Nur ein gewöhnlicher Sterblicher“, sagte er verächtlich in Richtung seiner Männer, schob die Klinge in ihre Scheide und bückte sich, um das Siegel von der Hand des Bewusstlosen zu streifen. Der Ring ließ sich nicht bewegen. Renad fluchte und griff nach dem Messer in seinem Gürtel, aber ein Geräusch im Bereich des Eingangs ließ ihn innehalten. Gearaid wollte die anderen soweit wie möglich im Ungewissen über das hier lassen. Der Ring konnte warten. Und es würde amüsanter sein, ihn von seinem Finger zu schneiden, wenn der andere bei Bewusstsein war. „Bringt ihn ins tiefste Verlies!“ fauchte er seinen Männern zu, „Und stellt sicher, dass er auf keine dummen Ideen kommt.“ Er stieß das Messer zurück und ging in Richtung der Tür. Es war Rensdal, der eintrat. Der Lord verzog keine Miene, aber sein Blick folgte dem letzten von Renads Männern um eine Ecke.
„Nichts, das dich anginge“, sagte Renad hart.

Der Blick Ingvars glitt den Boden entlang von jener Ecke bis zu der Stelle, wo sie standen. Kein Blut. Die Erleichterung, die ihn durchschauerte, überraschte ihn selbst. Er maß den Lord von Glas Fhaile schweigend mit den Augen, bis dieser unruhig wurde.  „Wie du meinst“, sagte er dann kühl und wandte sich ab, um die große Eingangshalle zu durchqueren. Als er seine Zimmer erreichte, schickte er alle hinaus und begann ruhelos auf und ab zu wandern. Arnim würde zu ihm kommen. Sie mussten die Details noch besprechen. Ein seltsames Sirren war in seinen Ohren, ein Geräusch fast jenseits der Hörschwelle. Er schüttelte den Kopf, um es loszuwerden, und tatsächlich ließ es bald darauf nach. Der Gedanke an den Vulkan streifte ihn. Doch dort jenseits des Fensters lag der Escail ruhig im Sonnenlicht unter einem wolkenlosen Himmel. Er nahm seine ziellose Wanderung wieder auf.
Ingvar war besorgt. Er wusste nicht viel über Alandas und diese ganze Sache mit dem König und seinen Gesetzen. Er hatte es nie für erheblich gehalten. Dennoch wäre wohl sicher alles einfacher gewesen, wäre schlichtweg nur der Regent nach Eannas gekommen. Diese Gesetze. Er war sich ziemlich sicher, dass sie mit den Regeln, die in Eannas galten, kaum in Einklang zu bringen waren.
Andererseis, der Regent. Allein in dem Wort lagen ein Versprechen und eine Hoffnung, die er nicht in Worte fassen konnte. Oder war es dieser ruhige und doch so durchdringende Blick gewesen, der ihn getroffen hatte? Etwas war anders seitdem.

Als Lassalle endlich in das Zimmer trat, sagte Ingvar finster: „Wir werden Garantien brauchen, dass Alandas die abhaileonischen Entscheidungen respektiert.“
Lassalles Mundwinkel zuckten mit dem Schatten eines Lächelns. Ob er amüsiert war, ob es Ironie war oder gar Verachtung, Ingvar war sich nicht sicher.  „Wir können reden“, sagte Arnim und setzte sich. „Es wird uns niemand belauschen.“
„Davon ging ich aus“, entgegnete Ingvar trocken.
Lassalle entgegnete ihm kühl: „Es ist nicht ganz so einfach zu garantieren. Ich musste abwarten, bis Gearaid und Renad in die Verliese gegangen sind.“ Er legte ein längliches Bündel undefinierbaren Inhalts auf den Arbeitstisch am Fenster.
Ingvar konnte sich nicht beherrschen, er begann wieder auf und ab zu gehen. „Was wenn sie ihn jetzt schon massakrieren?“ Er versuchte grob und gleichgültig zu klingen. Es misslang.
„Das Risiko besteht“, bemerkte Lassalle. „Aber sie haben jetzt nicht viel Zeit, und der Regent sollte nicht gleich unter dem ersten Druck zusammenbrechen.“
„Wann?“ Ingvars Stimme war heiser. „Wann handlen wir?“
Arnim verzog die Lippen etwas. „Heute Nacht.“ Er schlug die Tücher des Bündels auseinander.
Ingvar  trat heran und starrte auf die goldenen Einlegearbeiten der Schwertscheide wie auf eine angriffsbereite Schlange. „Kein Falke“, murmelte er schließlich.

Lassalles Faust schlug auf den Tisch, dass der andere zusammenzuckte. „Verdammt! Die nächsten Stunden verlangen alle Geistesgegenwart von mir, von dir und den anderen. Seit zwei Stunden kommt keine Maus mehr durch die Wachen am Verlies, ohne dass Gearaid davon hört! Wir und andere stehen unter Beobachtung“, er schnaubte verächtlich, „soweit Wilgos’ Stümper dazu fähig sind. Wir haben heute Nacht Erfolg oder die Sache ist verloren.“  Seine Brauen zogen sich zusammen. „Alandas! Die nächsten Stunden entscheiden, ob wir uns darüber je wirklich Sorgen machen müssen! Stirbt der Regent ...“ Er unterbrach sich selbst. Er flüsterte es fast: „Stirbt der Ritter des Königs ... Ich weiß nicht ...“ Er strich sich über die Stirn und schloss flach. „Etwas macht mir Angst, Rensdal.“
Ingvar wurde bleich. Seine Lippen pressten sich zusammen. Es war nicht gut, Lassalle von Angst sprechen zu hören.  Er streckte die rechte Hand zögernd in Richtung des smaragdbesetzten Schwerthefts. „Ich frage mich, wie es aussieht“, sagte er düster.  „Aber ich frage mich auch, ob ich es wirklich anfassen will.“
„Rühr es nicht an.“ Lassalles Stimme war hart, sehr hart. „Das ist nichts für solche wie dich und mich.“ Er faltete die Tücher wieder über die Waffe, bevor sie an ihre Besprechung gingen.

******

Zuerst fühlte Ciaran die Kälte. Er öffnete die Augen und wollte nach der Decke suchen, aber etwas stimmte nicht. Das Licht war seltsam flackernd. Die linke Seite seines Kopfes schmerzte heftig. Als er die Hand bewegte, klirrte etwas. Die Konzentration fiel zunächst nicht einfach, die Augen wollten nicht fokussieren. Doch allmählich wurde alles klarer. Handschellen. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Der Ring! Er hob die gefesselten Hände zum Gesicht und spürte den Druck des Siegels an seiner Wange. Die Erleichterung war ungeheuer. Ein zweiter Gedanke: das Schwert! Natürlich war es nicht mehr da. Er stützte sich hoch, kam schwankend auf die Beine, versuchte näher an das Licht zu kommen. Nach wenigen Schritten hielt ihn ein Gitter auf. Die Fackel flackerte nicht weit von ihm. Er vermutete, dass er in den Verliesen unter Escail war. Dem Hörensagen nach waren diese Verliese sehr ausgedehnt.
Allmählich kehrten die Sinne ganz zurück. Er sah sich um. Seine Zelle war leer. Wände und Fußboden aus grobem unbehauenem Stein. Kein Stroh, kein Wasser, nur nackter Fels. Sobald er sich seiner Stimme sicher war, rief er nach einer Wache, aber erhielt keine Reaktion darauf. Er hob die Hände etwas, um den Siegelring zu studieren. Der Smaragd schimmerte schwach an den Kanten des Schliffs. Er begriff nicht, warum ihm der Ring nicht genommen worden war.
Für das erste konnte er nur abwarten, was Gearaid tun würde. Er ließ sich mit dem Rücken zu Wand an einer Seite des Gitters nieder, lehnte die schmerzende Seite des Kopfes an das kalte Eisen und lauschte auf die Stille. Vorsichtig überprüfte er, soweit es ihm möglich war, sein Aussehen und überdachte sein weiteres Verhalten. Weit kam er damit nicht. Ein Blick auf die brennende Fackel zeigte, dass nur etwa eine halbe Stunde vergangen war, als er von ferne das Schlagen einer schweren Tür hörte. Als sich dann kurz darauf Schritte näherten, stand er abwartend am Gitter.

Es waren der Fürst, Renad und drei andere Männer. „Nun, Euer Hochwohlgeboren“, höhnte Gearaid. „Wie seid Ihr mit Euren Gemächern zufrieden?“
´Ich vermute, Ihr tut Euer Bestes´, erwiderte Ciaran ruhig. ´Leider muß ich Eure weitere Gastfreundschaft ausschlagen, da mein Auftrag noch nicht zu Ende geführt ist. Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr Befehl gäbet, mir mein Pferd zu bringen, damit ich wieder aufbrechen kann.´
Gearaid lächelte kalt. „Ich möchte Euch wirklich nicht unnötig aufhalten´, sagte er. „Wenn Ihr mir Euren Ring und die nötigen Informationen über die Kriegsvorbereitungen in Alandas gebt, könnt Ihr sogleich weiterreiten. Ich möchte keinen Streit mit Eurem Herrn, dem Fürsten von Alandas. Aber Ihr versteht sicherlich, daß ich den Regentenring von Abhaileon nicht guten Gewissens in den Händen des Gesandten einer fremden Macht belassen kann. Meine Verantwortung als Fürst dieses Landes verbietet das.´
Ciaran begriff. Darum lebte er noch: Gearaid wollte mehr über Alandas erfahren. Er schüttelte den Kopf. „Wozu die Verstellung?“ fragte er. „Ihr wollt das Siegel Abhaileons für Euch selbst. Das ist unmöglich. Ihr könnt es nicht tragen, ohne Euch dem Fürsten von Alandas zu unterstellen. Ich habe Euch nichts mitzuteilen, das für Euch von Belang wäre, außer dem, was Euch schon bekannt ist.“
Wieder lächelte Gearaid kalt. „Wie Ihr wollt, Herr Ciaran. Heute habe ich einen Sieg zu feiern und werde keine Zeit an Euch verschwenden. Morgen werden wir weiter sehen. Ich bin nicht ungnädig: Sobald ich morgen komme, gebt Ihr mir den Ring und beantwortet meine Fragen freiwillig. Oder ich werde mir zu nehmen wissen, was ich will.“ Er nickte Renad kurz zu und verließ sie.

Die Augen des Lords schimmerten tückisch im unsteten Licht. „Ich werde die „Befragung“ leiten“, sagte er. „Es wird mir eine Freude sein, diesen Ring von deinem Finger zu schneiden. Ich werde mit keiner Wimper zucken, wenn dir jeder Knochen einzeln gebrochen oder dir die Haut in Fetzen abgezogen wird. Dir wird deine Anmaßung noch vergehen, du Abschaum. Morgen wirst du auf den Knien vor mir um Gnade winseln.“
„Ich bin ein Ritter des Königs“, Ciarans Stimme war ruhig und fest. „Eher werden diese Mauern einstürzen, als dass ich das tue. Ihr, Renad, seid ein Landesverräter und Verbrecher.“
„Du wirst mich nicht provozieren“, sagte Renad ingrimmig. „Nicht jetzt. Gearaid will, dass wir es dir hier so tüchtig besorgen, dass du morgen freiwillig nachgibst. Er hat ein gewisses, wenn auch nur flüchtiges und geringes,  Interesse, diplomatische Schwierigkeiten mit diesem Alandas zu vermeiden. Aber er will eine schnelle Antwort.
Ich habe genug von deiner Unverschämtheit gesehen, um zu wissen, dass du sie ihm nicht geben wirst, wenn du dich noch halbwegs auf den Beinen halten kannst. Und ich will kein Risiko eingehen. Vielleicht bist du in Wirklichkeit nur ein Feigling und Waschlappen und brächest wider Erwarten zu früh zusammen, wenn ich dir jetzt die gehörige Abreibung für deine Frechheit heute morgen verpassen ließe. Nichtsdestotrotz, ein paar blaue Flecken solltest du morgen vorzuweisen haben. Und dann werde ich freie Hand haben.“ Er winkte seinen Begleitern zu.

„Es hätte schlimmer sein können“, dachte Ciaran, als sie eine halbe Stunde später gingen. Um ihn herrschte jetzt tiefe Dunkelheit; sie hatten die Fackel nicht zurückgelassen. Es hatte in der Vergangenheit Waffenübungen gegeben, nach denen er sich auch nicht besser gefühlt hatte. Er hatte den metallischen Geschmack von Blut im Mund, doch es war nichts Ernsthaftes. Das Unangenehmste waren die Narben aus Gleann Fhírinne, die wieder begonnen hatten, wie Feuer zu brennen. Doch er war besorgt wegen des kommenden Tags. Er wusste, es gab da Dinge, die seine Kraft übersteigen würden. Er war durchaus bereit zu sterben, ohne den Gegnern etwas von dem zu geben, was sie wollten. Was er nicht wusste, war, ob er darauf hoffen konnte zu sterben, bevor sein Wille gebrochen wurde. Das allein wäre schon übel genug gewesen, aber er stand hier nicht nur für sich selbst. Der Gedanke, Renad könne einmal prahlen, ein Ritter des Königs habe ihn um Gnade gebeten, brannte heftiger als alle Wunden und Prellungen. Das durfte nicht geschehen!
Es wäre angenehmer gewesen, liegenzubleiben, aber er kämpfte sich auf die Knie. „Mein König“, begann er tastend zu formulieren. „Ich kann nicht sehen, wie ich jetzt noch den Weg nach Ruandor fortsetzen soll. Es steht zu erwarten, dass ich Escail nicht mehr verlasse. Ich will mein Äußerstes tun, um deinem Namen keine Unehre zu machen. Doch ich fürchte, das wird nicht ausreichend sein. Ich brauche die Kraft auszuhalten oder einen Tod, bevor ich gebrochen werde.“ Doch dann erfasste ihn Zorn. „Soll dieser unbedeutende Fürst sich rühmen können, daß er deine Pläne vereitelt? Soll er sagen, daß dein Wort nichts wert ist? Hilf mir! Er und seine Handlanger sollen erkennen, daß du mächtiger bist als alle Mächtigen. Führe mich heraus aus dem Kerker, damit dir die Ehre gegeben wird. Alle, deren Herz noch nicht vollständig verdorben ist, werden mir zur Seite stehen, weil sie sehen, daß du mit mir bist.´
Er schüttelte den Kopf über die Vehemenz dieser seiner letzten Worte. Jetzt hätte er sein Schwert brauchen können, um es zu berühren, den Kopf daran zu stützen. Doch da waren nur die Gitterstäbe. Er fragte sich, was mit dem Schwert geschehen werde. Es war undenkbar, dass einer der Verräter aus Eannas es führen könnte. Dann wurde er sich des Drucks des Ringes an seiner linken Hand bewusst. Das erinnerte ihn an den Ritter mit dem roten Bart. Vielleicht versuchte jemand ihm zu helfen. Doch würden sie stark genug sein?

Arnim brauchte seine ganze in langen Jahren und unter härtesten Bedingungen erlernte enorme Beherrschung, um nicht wie Ingvar unruhig auf und ab zu gehen.  Natürlich, er hatte immer noch die Wahl, ganz offen vorzugehen, den Regenten zu befreien und dann auf seine Besitztümer zu flüchten. Den Aufstand erklären lassen, seine Anhänger versammeln ... – Sie waren nicht wirklich dazu bereit. Zu lange hatte er gezögert. Er brauchte zum mindesten noch ein paar Wochen, um wirklich vorbereitet zu sein.
Hätte er nur mehr Zeit gehabt. Doch er kannte Renad zu gut. Es war kein Tag zu verlieren, wenn das Verhör morgen begann. Vielleicht wäre der Regent bis zum Abend noch am Leben, aber Renad verstand sich nicht auf die Feinheiten der Folter; alles, was er und Wilgos kannten, war Brachialgewalt. Lassalle selbst hatte da subtilere Methoden. Grausamer vielleicht, doch unendlich viel effektiver. Man nehme zum Beispiel den einen von Renads Leuten, der mit in den Verliesen gewesen war bis vor einer knappen Stunde. Der Mann war jetzt tot - in diesem Stadium der Pläne konnte kein Risiko eingegangen werden -  aber er hatte geredet.
Warum fühlte er solchen Widerwillen beim Gedanken an das Ende dieses Gefolgsmannes aus Glas Fhaile? Niemand um den es schade gewesen war. Wurde er alt und weich oder war es die Besorgnis durch irgendeinen Umstand die lockende Amnestie nicht erlangen zu können? Den Freibrief für ein Weiterleben in Ehren. In der Ehre, die ihm fast seit seiner Geburt vorenthalten worden war. Macht und Einfluss hatte er erobert. Doch was war aus der Ehre geworden? Zuerst war sie ihm verweigert worden, doch dann hatte er sie aufgegeben, hatte sich hineingestürzt in den Strudel von Dunkelheit, Vergeltung und Gewalt.

Alandas. Im Gegenteil zu Ingvar wusste er nur zu gut, wofür das stand. Einmal, in einer Jugend, die kaum noch Erinnerung war, hatte er Träume gehabt. Als die Hoffnungen starben, hatte er sich mit aller Vehemenz von diesen Dingen abgewandt, jede ihm bekannte Regel mit Willen und Absicht gebrochen. Lassalle hatte nicht vor, um Amnestie zu bitten! Doch er würde das Angebot annehmen, und war sich sehr sicher, dass er erhalten würde, was er verlangte.  Sein Lächeln war freudlos: Der Ritter des Königs hatte wenig Wahl in der Angelegenheit. Es hätte sich anfühlen sollen wie ein gewaltiger Erfolg. Jemand von jener Seite mehr oder weniger gezwungen, dem erklärten Feind all dessen, wofür er stand, eine solche Amnestie geben zu müssen. Warum hatte der Gedanke einen so bitteren Beigeschmack?
Am liebsten hätte er das Fest gemieden. Doch das wäre unklug gewesen. Lord Lassalle verpasste keine Feste. Es würde den Erwartungen aller entsprechen, ein wenig um Gearaids Wohlwollen zu rivalisieren und gegen Renad und Wilgos zu intrigieren. Und er sollte im Zentrum sein, um sicherzustellen, dass alles nach Plan ging. Er wählte seine Kleidung mit Sorgfalt: Nicht für einen Gang durch die Verliese und eventuelle Scharmützel, sondern für einen Empfang, eines Fürsten würdig, oder eines Regenten.

„Ich vermisse unseren Ehrengast“, bemerkte Ingvar leichthin. „Wo versteckt Ihr ihn Gearaid? Oder hat er uns bereits wieder verlassen?“
„Er ist unpässlich.“ Gearaid war abweisend.
„Der Ring“, sagte Ingvar. „Wann werden wir ihn sehen?“
„Das werde ich morgen klären“, winkte der Fürst ab. „Es bestehen wohl kaum Zweifel, dass die Ansprüche dieses Fremden reine Anmaßung sind. Selbst wenn das Siegel gefunden sein sollte, würde es ausgerechnet jemand tragen, der von sich behauptet, ein Ritter des Königs zu sein?“ Er lachte auf.
Ingvar lachte auch, doch nur kurz. In dieser Angelegenheit war ihm so ganz und gar nicht nach Lachen. Er versuchte davon abzulenken „Das könnte allerdings ein Versuch der Alander sein, ihre Ansprüche auf Abhaileon zu untermauern. Was ist von jener Seite zu erwarten?“
„Das konnte ich noch nicht ergründen“, antwortete Gearaid mürrisch. „Hölle auch, dass wir davon noch nicht früher erfuhren. Dieser Fíanael hat offensichtlich ein paar Dinge verschwiegen.“

„Er hatte noch nie Skrupel zu lügen.“ Lassalle war zu ihnen getreten.
Gearaid hob die Augenbrauen. „Du hast also beschlossen, dein Schweigen in dieser Angelegenheit zu brechen?“ Er ließ seinen Blick über die eisblaue Weste streifen, eine Farbe, die er noch nie an Lassalle gesehen hatte. Sie stand ihm jedoch gut. Silberne Stickerei malte Flammen aus Frost an den Umschlägen und Borten. Es dauerte etwas, bis Gearaid es ganz einordnen konnte: die Farben von Corrugh. Das Gesicht des Fürsten wurde noch fragender.
„Ich wurde um etwas betrogen“, sagte Arnim beiläufig. „Vor vielen Jahren. Ich will es jetzt zurück.“
Gearaids Gedanken rasten. Die Amnestie, die der Fremde verkündet hatte! Lassalle beanspruchte den Fürstenthron von Corrugh! Die Amnestie könnte ihm die Legitimation dazu geben. Jetzt lächelte der Lord grimmig: „Ein gewisser Ring könnte viel Bedeutung für mich haben.“
Gearaid zwang sich auch zu einem Lächeln, während er fieberhaft weiter überlegte. „Eine hohe Forderung, aber keine unmögliche“, sagte er. „Ist das der Preis, für den du Zugeständnisse machen würdest?“
„Ich habe beschlossen, dafür gewisse Risiken einzugehen. Doch bevor ich entscheide, will ich den Fremden sprechen.“

Gearaid schüttelte sofort den Kopf. Etwas sagte ihm, dass diese beiden niemals zusammentreffen durften. „Es wird nicht nötig sein“, sagte er, „Du wirst erhalten, was du willst. Du aber wirst so bald wie möglich im Norden gebraucht. Ich wollte schon heute mittag mit dir darüber sprechen, aber dann kam zu vieles dazwischen.  Wilgos hat mehr oder weniger zähneknirschend zugegeben, dass er mit der Situation dort nicht fertig wird und deine Hilfe tolerieren würde.“
„Hat er das.“ Lassalles Stimme war flach. Er vermutete eher, dass Wilgos wider Erwarten mehr über den Ursprung der Unruhen herausgefunden hatte, als er ihm zugetraut hätte. „Schreibt er, dass er einen bestimmten Verdacht hat?“
Gearaid griff in seine Brusttasche und holte das Papier heraus. „Lies selbst! Er drückt sich nicht allzu klar aus. Aber er weiß, dass es Konsequenzen geben wird, wenn er nicht für ein paar schnelle Klärungen dort und andernorts sorgt.“
Lassalle überflog das Schreiben und nickte. Gearaid wusste vermutlich wirklich nicht Bescheid. Aber dieser Zwist war nun auf die Spitze getrieben. „Ich werde morgen aufbrechen“, sagte er. „Vermutlich noch, bevor der Tag graut. Aber dazu muss ich entsprechende Vorbereitungen treffen.“ Gearaids Gesichtsausdruck war so zufrieden, wie Arnim sich fühlte. Ihm war gerade die ideale Tarnung verschafft worden. Reginald würde bald bei den Ställen sein. Er wollte sich um den Fuchs des Regenten kümmern. Regi hatte eine gute Hand mit Pferden. Er hatte gemeint, es werde kein Problem geben, wenn sich das Tier zuvor etwas an ihn gewöhnte.

Arnim wollte gerade Ausschau nach Elgin halten, als Rieken ihn erspähte und fast auf ihn zustürmte. „Draußen!“ schnitt Lassalle ihn ab, bevor der Jüngere ein Wort hervorbringen konnte. Er ahnte, um was es ging. Eine Nische im Korridor mit Blick nach beiden Seiten bot sich an, um das schnell zu klären. Die vorbeieilenden Dienstboten würden sich hüten, gerade ihn belauschen zu wollen. „Also?“ fragte er ruhig.
„Renad!“ stieß Rieken hervor. Trotz seiner Erregung dämpfte er seine Stimme. „Er war in den Verliesen. Sie haben den Regenten zusammengeschlagen. Renad erzählt überall davon! Und was er morgen tun wird! Dass der Fremde gesagt habe, dass eher die Festung zusammenbricht, als dass er redet, aber dass er schon bei der kleinen Tracht Prügel halb zusammengebrochen ist.“
„Es ist alles unter Kontrolle“, sagte Arnim nachdrücklich. „Meiner. Bis morgen ist er frei. Also geh an deine Aufgaben!“ Er lachte. „Oder hast du Angst, dass das mit dem Zusammensturz der Burg jetzt passiert?“
„Kann nicht ich ...?“
„Bestimmt nicht“, sagte Lassalle hart. „Diese Aufgabe ist bei Otho in den besten Händen. Aber ich brauche Elgin jetzt. Hast du ihn gesehen?“
„Er wollte Richtung Hofplätze, glaube ich. Er sagte nicht wozu.“
„Dann weiß ich Bescheid. Auf deinen Platz jetzt.“ Er schüttelte den Kopf, als der andere sich beruhigter zum Saal zurückbegab und fragte sich, was in Rieken vor sich ging. Als sei das Wohlbefinden des Regenten für ihn eine Sache von Leben oder Tod. Wenigstens war Elgin schon an seinem Platz.

Er machte einen Schritt in den Gang hinein, als der Boden unter ihm zu wanken begann. Er stützte sich an die Wand. Gift? Nein, auch die Musik im Saal brach ab. Ein seufzendes Grollen rollte durch die Gänge, wurde innerhalb von Sekunden ohrenbetäubend. Etwas riss ihn zu Boden. Das Fenster in der Nische zersplitterte. Schreie im Saal, als die Decke einbrach. Risse brachen in den Wänden auf. Er musste hier schnellstens heraus. Aber es war unmöglich, auf die Beine zu kommen. Und plötzlich sprang ihn eine Angst an, wie er sie nie gekannt hatte. Die Burg brach zusammen, weil der Bote des Königs beleidigt worden war. Sie würde ihn unter sich begraben, und er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit dem Ritter zu sprechen. Es war mehr als ungerecht. „Warum?“ schrie er in das tobende Chaos und konnte seine eigene Stimme nicht ausmachen. „Warum hasst du mich so? Warum gibst du mir nicht diese halbe Stunde, um etwas zu tun, das mit meinem bisherigen Leben bricht? Aber du stößt mich in die Finsternis anstatt mir einen Funken von Licht zu geben!“
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