Sonntag, 4. September 2011

Kapitel 22.2

Reginald trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Draußen ging über dem See, der Burg Edrin ihren Namen gegeben hatte, blutrot die Sonne unter. ´Was zum Teufel treibt Arnim nur?´ polterte er. „Er weiß doch, daß wir hier warten und daß wir Wichtiges zu besprechen haben. Na los, Elgin, verrate es uns. Du warst doch die ganze Zeit mit ihm zusammen. Was hat er denn gerade jetzt so Wichtiges zu erledigen?´
´Nun ja´, sagte Elgin etwas zögernd. ´Du wirst es, vermute ich, überraschend finden, aber er macht kein Geheimnis daraus. Er betet. Seit er aus Escail zurück ist, hat er sich dafür viel Zeit genommen.´
´Er - was?´ Reginald war von seinem Sitz aufgesprungen. ´Noch einmal ganz klar, Elgin. Wir reden hier von meinem alten Freund und Waffenbruder Arnim von Lassalle, der weder Himmel noch Hölle fürchtet und der demnächst diesem Angeber von Gearaid Saures geben wird. Der Arnim, den ich seit meiner Kindheit kenne und der noch nie solche Anwandlungen hatte. Auch vor vier Tagen noch nicht, als er mich mit einem Auftrag losschickte. Du kannst mir nicht weismachen ...´
´Er nimmt dich hoch´, wiegelte Otho ab. ´Elgin hat einen Scherz gemacht. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß Arnim auf solche Ideen kommt. Elgin will es uns eben nichts im voraus verraten. Nicht wahr?´
´Glaubt es mir oder eben nicht. Das ist absolut eure Sache´, entgegnete Elgin. ´Ich habe nichts weiter dazu zu sagen.´

Reginald setzte sich wieder. Er war immer noch aufgebracht. Zwei Diener kamen herein und entzündeten die Fackeln an den Wänden, während das Tageslicht mehr und mehr verblasste. Ingvar stand in einer der Ecken des Raumes und hatte sein leises Gespräch mit Niko und Rieken wieder aufgenommen. Er schien immer noch bleicher als sonst, aber zumindest war er wieder ruhiger. Eamain, Finnain, Obhain und Reasan saßen ebenfalls in einer Gruppe zusammen und flüsterten nur untereinander. Auch wenn sie sich gegenseitig immer wieder genauso misstrauische Blicke zuwarfen wie den anderen.
Sie waren alles andere als eine Einheit hier. Rina, Rensdal, Serinim, Lesick, Berais und Raleigh waren am weitesten in ihren Vorbereitungen für den Aufstand, doch selbst zwischen ihnen bestand allenfalls ein loses Bündnis. Elgin wusste nur zu gut, dass es in ganz Eannas nur einen Mann gab, der sie zum Erfolg führen konnte. Vermutlich wussten das alle anderen auch. Er fragte sich, was die Motive der Verbündeten sein mochten. Besonders die der Neuen. Er war sich sicher, Arnim kannte sie. Es gab erstaunlich wenig, was ihm nicht bekannt war.

Als Lassalle endlich eintrat, verstummten alle Gespräche sofort. Reginald stand auf. „Na endlich!“, rief er und ging ihm entgegen. „Was hat dich so lange aufgehalten?“
Arnim lächelte sein übliches kaum deutbares, kaum sichtbares Lächeln, nur die Lippen verzogen sich ein wenig. „Eine wichtige Besprechung“, sagte er.  „Es sieht nicht aus, als hättet ihr ohne mich angefangen, Pläne zu machen.“
„Pläne?“ Otho nahm einen Schluck Wein. „Realistisch gesehen sind wir hier, um deine Befehle entgegenzunehmen.“
Eamain und Reasan blickten daraufhin finster, widersprachen aber nicht.
Lassalle sagte trocken: „Bevor ich Befehle gebe oder wir Pläne machen, müssen wir ein paar Grundlagen klären.“
„Was ist noch zu klären?“ fragte Rieken. „Wir erklären Gearaid den Krieg! Umso besser, dass er jetzt in Asterne ist. So erobern wir Escaile vielleicht etwas schneller.“
„Es gibt nur einen legitimen Grund, Gearaid den Krieg zu erklären“, setzte Lassalle auseinander, „nämlich dass er Hochverrat an Abhaileon beging, indem er sich an der Person des Regenten vergriff. Vier von uns haben den fraglichen Ritter offiziell als Regenten anerkannt. Was ist mit den anderen?“
„Was willst du noch, Arnim, Brief und Siegel?“ fragte Reginald. „Du weißt, wo ich stehe.“
„Genau das“, sagte Lassalle. „Wir schicken eine Urkunde an den Rat in Croinathír, in der wir Ciaran von Fírin als Regenten anerkennen und Gearaid wegen Hochverrates als abgesetzt erklären. „Lies es vor, Elgin.“
Der Lord von Berais nahm die vor ihm liegende Rolle auf und las vor. „Lord Lassalle und ich haben es unterzeichnet“, schloss er.

„Und er ist wirklich der Regent?“ erkundigte Eamain sich zögernd.
Ingvar nickte. „Er trägt das Siegel des Regenten. Ich sah es mit eigenen Augen. Er ist der Regent. Er hat sogar die Legitimation des Fürsten aus Alandas.“ Diesen letzten Satz sprach er leise, fast widerstrebend, bevor er wieder fester schloss: „Es kann keinen Zweifel geben, wer er ist und zu was das Gearaid macht.“ Er griff nach der Feder. „Gib mir das Dokument, Elgin!“
„Es ist das Siegel“, bestätigte Otho. „Ich habe es gesehen. Aber mehr noch, ich habe den Regenten gesehen und war durchaus beeindruckt.“
„Es lag nicht an mir, dass ich nicht den Treueid sprechen konnte“, erklärte Rieken mit einem vorwurfsvollen Blick auf Lassalle. „Ich unterzeichne!“
„Arnim hat mich überzeugt“, meinte Reginald lässig. „Mein Siegel darauf.“
„Warum sonst wären wir hier?“ fragte Niko einfach mit einem Blick auf die noch Zögernden. „Wir alle haben ihn gesehen, wenn auch nur kurz.“ Eamain nickte schließlich und das entschied es, sie alle gaben ihre Unterschrift und ihr Siegel.

„Gewissermaßen ist das eine Erleichterung“, sagte Finnain, als er als letzter die Feder weglegte.
Elgin rollte das Papier zweier Ausfertigungen sorgfältig zusammen und steckte es in die jeweiligen Hüllen. Er ging damit hinaus, um die Dokumente sofort auf den Weg zu schicken. Das eine würde nach Croinathír gehen, das andere nach Asterne. Ein Duplikat blieb zurück. Lassalle nahm es an sich. „In vier Tagen ist es bei Gearaid“, sagte er ruhig. „Spätestens ab dann stehen wir im Krieg.“
„Kommen wir zur Strategie“, sagte Obhain.
„Noch nicht.“ Lassalle schüttelte den Kopf. „Zuerst müssen wir uns auf einen Führer einigen.“
„Gibt es darüber Zweifel?“ fragte Otho erstaunt. Alle anderen blickten ihn nur ungläubig an.
„Es könnte sein, dass ihr Lord Rensdal vorzieht“, sagte Lassalle ruhig. „Ich würde ihn unterstützen. Mein Wissen und meine Fähigkeiten stehen ihm in diesem Fall vollständig zur Verfügung. Ich habe kein anderes Anliegen, als dem Regenten ganz Eannas zu geben.“
„Was soll das jetzt, Arnim?“ fragte Ingvar gereizt. „O ja, ich kann es schon vor mir sehen, wie ich alle fünf Minuten dringend deinen Rat einhole. Wir haben keine Chance ohne dich!“
Reginald war schockiert. „Du bist verrückt, Arnim!“ rief er.
„Ich möchte das nur zu allererst ganz unmissverständlich zum Ausdruck bringen“, sagte Lassalle ruhig. „Ich diene dem König.“
Ingvars Gesicht verzog sich wie im Schmerz, bevor er den Kopf in die Hände stützte. „Ich ahnte es“, murmelte er. Nur Elgin, der neben ihm saß, hörte es.

„Das ist ein Witz!“ sagte Reginald unsicher in die Stille hinein.
„Wann habe ich je Scherze gemacht, Regi“, sagte Lassalle still.
Reginald schüttelte wild den Kopf. „Du kannst das einfach nicht meinen! Das ist, das ist vollkommener Irrsinn!“
„Was heißt das genau?“ erkundigte Otho sich verwirrt. „Du dienst dem König?
„Ich bin erst dabei, es zu lernen“, antwortete Lassalle. „Aber das werde ich.“
„Hör auf damit, Arnim!“ schrie Reginald. „Das ist jetzt mehr als genug. Du warst es, der beschloss gegen jede dieser überholten und schwächlichen Regeln zu gehen. Du hast die Führung darin übernommen. Du hast damals öffentlich erklärt, auf diesen Namen zu spucken. Du hast ...“
„All das habe ich getan“, unterbrach Lassalle fest. „Und ich habe es im vollen Bewusstsein dessen getan, was ich tat. Nicht wie du. Du hast nie an all das geglaubt. Für dich waren es nur Märchen und Hirngespinste. Ich wusste es besser.“
„Du zerbrichst alles, was zwischen uns ist“, fuhr Reginald ihn an.
„Nicht alles“, widersprach Arnim immer noch ruhig. „Unsere Freundschaft reicht länger zurück als ... nun, als jene Dinge, die du nanntest. Ich erwarte auch nicht, dass du mir in dem jetzt folgst. Das ist eine private Sache zwischen mir und  ... dem König. Da sind nur ein paar Dinge, die ich nie mehr tun werde. Fast nichts davon betrifft dich.“
„Du warst mein Leitstern!“ stieß Reginald heiser hervor. „Du beugtest dich nie und vor niemandem. Du warst der einzige, der je das Sagen hatte. Kein Fürst, kein nichts konnte dir je befehlen. Und jetzt ...“ Er schluchzte fast.
„Jetzt habe ich einen Herrn“, beendete Lassalle. „Nur dass die vorherige Freiheit eine Illusion war. Ich hatte das schon lange erkannt. Freiheit?“ Er lachte bitter. „Fíanael und durch ihn Carraig haben über Dutzende von Jahren mein Leben regiert, ohne dass ich es merkte. Aber jetzt habe ich entschieden, wem ich diene. Und ich bin freier als jemals zuvor!“
„Du hast mich verraten!“ schrie Reginald.
„Du bist nach wie vor mein engster Freund. Und wir werden gemeinsam kämpfen: die größte Schlacht unseres Lebens“, entgegnete Lassalle.
„Ich will dich nicht mehr sehen!“ tobte Reginald.  Er zog seinen Siegelring vom Finger und warf ihn in Richtung des Lords. „Hier! Nimm Rina! Ich lege keinen Wert darauf, und an Wilgos’ Gesellschaft liegt mir nichts. Mir nur recht, dass jemand den fertig macht. Aber für das hier wirst du noch bezahlen´!“ Er stürzte zur Tür und knallte sie hinter sich zu.

„Reginald!“ rief Lassalle, der aufgesprungen war, ihm laut hinterher, aber der Lord von Rina wollte nicht hören. Arnim bückte sich, hob den Siegelring von Rina auf und legte ihn behutsam auf den Tisch vor sich. Wenn er betroffen war, war es ihm nicht anzusehen.
„Was wenn er doch zu Gearaid geht?“ fragte Obhain besorgt.
Arnim schüttelte den Kopf. „Nicht solange Renad und Wilgos dort sind. Vielleicht beruhigt er sich und kommt zurück.“ Oder vielleicht geht er auf die Suche nach Erendar, dachte er. „Nun, Ingvar?“
Ingvar nahm langsam die Hände vom Gesicht. „Ich habe einem Regenten Treue geschworen, der dem König dient“, sagte er. „Ich denke, er ist jemand, dem ich gerne folge. Und ich weiß, dass es weise ist, sich auf dich zu verlassen, wenn es um die kommenden Auseinandersetzungen geht, Arnim. Es macht keinen Unterschied für mich, wie du zu dem König stehst.“
„Trotzdem verstehe ich es nicht“, beharrte Otho. „Warum? Es ergibt sich nicht notwendig aus dem Eid an den Regenten. Oder doch?“ Die Aussicht schien ihn zu beunruhigen.
Lassalle schüttelte den Kopf. „Der Eid an gerade diesen Regenten birgt die stillschweigende Akzeptanz, dass Alandas einen Herrschaftsanspruch in Abhaileon hat, da der Regent sich dem Fürsten von Alandas verantwortlich sieht. Das ist alles. Meine Entscheidung ist eine andere Sache. Sie betrifft nur mich. Sie würde euch jedoch nicht verborgen bleiben, und ich vermute, dass sie einige von euch befremdet.“

„Was mich angeht“, sagte Niko entschlossen, „bin ich fast schon zu demselben Schluss gekommen. Um die Wahrheit zu sagen, ich würde das gerne nachher mit Euch besprechen, Lord Lassalle.“
„Ich denke auch darüber nach“, murmelte Elgin in Richtung des Tisches vor ihm. Er hörte Ingvar neben sich seufzen, sah ihn aber nicht an.
„Du bist immer noch derselbe, Arnim“, meinte Otho schulterzuckend. „Und wir brauchen deinen Kopf und dein Wissen jetzt dringlichst.“
Eamain nickte. „Ich werde nicht so dumm sein, Euch jetzt plötzlich für unbrauchbar zu halten, Lord Lassalle. Und Ihr seid der einzige, der Gearaid gefährlich werden kann und wird.“
„Anbetrachts dessen, was der Regent vertritt, ist Eure Entscheidung kaum zu kritisieren“, stimmte Obhain zu. „Wir hatten ja eine gewisse Ahnung, auf was wir uns einlassen.“
„Wir sollten sogar erwägen noch einen Schritt weiter zu gehen“, warf Finnain ein. „Eannas wird einen neuen Fürsten brauchen. Ihr solltet dem Regenten gut gefallen, Lord Lassalle.“
Otho lachte laut auf, zog sein Schwert und rief: „Heil, Fürst Arnim von Eannas!“
Rieken nickte entschlossen. Er zog ebenfalls sein Schwert: „Tod Gearaid!“ rief er ingrimmig. „Es lebe Fürst Arnim!“ Niko tat es ihm mit flammenden Augen nach.

Lassalle sah andere mit grimmiger und entschiedener Miene nach ihren Schwertern greifen. Die Proklamation, zu der sie entschlossen schienen, war Balsam für seine alten Wunden, aber es war viel zu früh für so etwas. Er stand auf und hieb mit beiden flachen Händen auf den Tisch. „Die Schwerter weg!“ befahl er hart. „Leichtsinn und Euphorie von dieser Sorte könnten uns schnell jeden Vorteil kosten, den wir zurzeit noch haben.“
Ingvar zuckte mit den Schultern und lehnte sich wie erleichtert nach hinten. Otho grinste breit, stieß sein Schwert zurück und schenkte sich neuen Wein ein. „Du hast nicht generell abgelehnt“, bemerkte er. Lassalle warf ihm einen solchen Blick zu, dass er sich ab da intensiv der Betrachtung seines Weinbechers widmete.
Rieken und Niko blickten unzufrieden, setzten sich aber wieder.
Finnain wollte noch nicht aufgeben. „Euer Name in Verbindung mit dem Titel könnten uns weitere Verbündete bringen!“ beharrte er. „Manche der anderen stehen nicht fest hinter Gearaid. Ihr habt das Vertrauen des Regenten, heißt es. Das könnte sogar Teile der Bevölkerung auf unsere Seite bringen.“
Lassalle blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Es ist wahr, ich habe das Vertrauen des Regenten“, sagte er rau. „Warum auch immer. Und er hat meine Treue – und wäre es nur dafür. Aber die Bevölkerung hasst meinen Namen mehr als alle anderen. Nicht zu Unrecht.“
„Sie sind ohnehin belanglos“, meint Obhain. Einige andere murmelten zustimmend. Otho nur sehr verhalten, ohne von seinem Becher aufzublicken.
„Pack!“ warf Ingvar verächtlich ein.

„Genau das, was ich hier höre, ist der einzige Grund, dass ich hier die Führung übernehmen werde“, sagte Lassalle eisig. „Ihr seid Schwachköpfe, wenn ihr so denkt!“, brüllte er dann. Einige duckten sich unter diesem plötzlichen Ausbruch. Nur Ingvar schien sich noch mehr zu entspannen. „Der Bevölkerung ist es ziemlich egal, ob Gearaid oder Wilgos oder Ingvar oder ich sterben. Sie wollen uns allesamt tot sehen. Kaum einer wagt es aufzumucken, solange er uns stark sieht. Aber Krieg bedeutet, dass  wir verwundbar werden. Und da ihnen gleich ist, ob das Monster Lassalle oder das Ungeheuer Gearaid gewinnt, werden sie die umbringen, die ihnen in die Hände fallen. Wir werden alle Kräfte an der Front konzentrieren müssen. Dazu benötigen wir Frieden in unserem Rücken und an unseren Flanken.“
„Und wie würdet Ihr das bewerkstelligen?“ erkundigte Reasan sich vorsichtig.
„Der erste Schritt besteht in drei Nichtangriffspakten“, sagte Lassalle. „Mit Ruandor, mit Roscrea und mit Rudin von Orthai.“

Ingvar war auf einmal alarmiert. „Ich gebe das Bruagatal nicht wieder auf!“ erklärte er heftig.
Lassalle blickte ihn voll an. „Wenn ich hier der Führer bin und sage, dass Bruaga zu opfern ist, wird es geschehen! Entscheide dich!“
Sie maßen sich längere Zeit mit Blicken. Ingvar senkte den seinen schließlich. „Nur unter Protest“, fauchte er dann. „Ja, du bist der Führer hier.“
Arnim nickte langsam. „Bruaga ist für das erste nicht auf dem Verhandlungstisch. Ich habe ein besseres Angebot für Ludovik. Du wirst noch heute Abend nach Elifa schicken und um freies Geleit für Verhandlungen mit Ludovik selbst nachfragen. Alles Weitere klären wir nachher.“
„Das wird ein wirklich gutes Angebot sein müssen, damit sie das schlucken“, knurrte Ingvar immer noch zornig.

„Es ist gut genug. – Rieken, wie schnell kannst du Verhandlungen mit Rudin aufnehmen?“
Riekens Gesicht war ausdruckslos. Er zuckte die Schultern. „Wenn Ihr mir verratet, wie ich ihn finden soll, jederzeit.“
„Ich schlage vor in etwa so wie im vergangenen Oktober“, sagte Arnim.
Der junge Lord starrte ihn an. „Ihr wusstet es!“ stieß er dann hervor.
„Ich war stets bemüht, meinen Ruf noch zu übertreffen“, bemerkte Lassalle lakonisch. „Ich weiß seit zwei Jahren, wo Rudins Hauptlager ist. Ich habe auch dort Informanten, und du tust seit drei Jahren keinen Schritt, von dem ich nichts weiß.“ Er warf Rieken ein halbes Lächeln zu. „Der Anschlag auf mich im vorigen Frühjahr war sehr schlecht geplant. Du hast noch viel zu lernen.“
„Aber wieso habt Ihr dann nicht ...?“ stammelte der jüngere Lord.
Lassalle zögerte kurz, doch er hatte beschlossen mit offeneren Karten zu spielen. „Jeder Monat des Abwartens und Beobachtens brachte neue Informationen zu Tage, die sonst schwieriger zu erhalten gewesen wären. Du warst nie eine ernsthafte Gefahr. Auch zog ich in Erwägung, du könntest unter gewissen Umständen nützlich werden. – Nun ja, solange es nicht akuter wurde, war es letzthin sowieso Wilgos’ Sache, hinter deine Schliche zu kommen.“
Rieken hieb wütend mit der Faust auf den Tisch. „Ihr habt mich benutzt und manipuliert!“
„Du wolltest mich beseitigen“, bemerkte Lassalle kühl. „Fair genug, wie mir scheint.“
„Wieviel von dem, was Ihr mich glauben ließet, war dann wahr? Wer sagt mir, dass nicht jedes Wort, dass Ihr heute Abend sprecht, eine Lüge ist?“ rief Rieken empört.
„Du musst selbst lernen zu unterscheiden“, sagte Lassalle ruhig. „Lerne, jetzt da du die Gelegenheit hast.“
 Rieken starrte wütend vor sich hin.

„Dann“, Nikos Stimme war abgerissen und flach. Er atmete heftig. „dann könnt Ihr mir vielleicht endlich Gewissheit geben! Wer war es? Wer war verantwortlich: Wilgos? Renad? Gearaid selbst?“
„Du sprichst vom Tod Alifs und Cianas, nehme ich an?“ fragte Lassalle.
Niko nickte. „Sie sind der Grund, dass ich hier bin.“
„Nur sie?“ fragte Lassalle nach. „Was ist mit dem Regenten? Mit Abhaileon? Mit den Andeutungen, mehr über den König und Alandas herausfinden zu wollen?“
„Es spielt alles eine Rolle!“ rief Niko gequält. „Aber diese Rache ist mir das Wichtigste von allem. Es war Wilgos, nicht wahr?“
„Sie waren mehr oder weniger zufällige Opfer in einem Spiel um die Macht“, sagte Lassalle langsam. „Ihr einziger Fehler war, etwas zu erfahren, was niemandem bekannt werden durfte.“ Er machte eine kurze Pause. „Sie waren nicht die ersten und nicht die einzigen, deren Todesurteil ich aus solchen Gründen sprach.“

Die Stille die daraufhin folgte, war fast ohrenbetäubend. Keiner der Lords sah einen der anderen direkt an. Nur ihre Mimik verriet, dass sie nicht überrascht waren. Lassalle blickte Niko unbewegt an. Der junge Lord stieß schließlich seinen Stuhl zurück und stand schwankend auf. „Mörder!“ stieß er endlich hervor. „Du Monster!“ Er griff nach seinem Schwert. Er erreichte es nicht. Otho und Obhain, die neben ihm gesessen hatten, waren blitzschnell auf den Beinen und hebelten ihm die Arme auf den Rücken. Er versuchte sich loszureißen, aber die beiden anderen waren stärker.
Rieken starrte weiter finster vor sich hin. Aber einige andere hatten die Hand auf ihren Schwertern. „Wir bedauern, was geschehen ist“, sagte Finnain zu Niko. „Es war eine der übleren Angelegenheiten, aber nicht die einzige dieser Art. Fast jeder von uns war schon in so etwas verwickelt. Doch hier und jetzt brauchen wir Arnim. Und wir brauchen ihn gerade weil er der Meister in diesem oft schmutzigen Spiel ist. Er weiß alles über unsere Gegner. Auf dich können wir dahingegen, wenn es denn sein muss, verzichten.“
Nikos Atem ging abgerissen. Noch immer kämpfte er gegen Otho und Obhain an. „Ich hasse dich, Lassalle“, schrie er. „Ich hasse dich. Und wenn du mich nicht hier umbringen lässt, werde ich dich töten!“

Arnim stand auf. Er ging langsam um den Tisch herum, bis er vor Niko stand. „Ich erwarte nicht, dass du verstehst. Nicht jetzt. Aber höre auf meine Worte. Mit Hass fängt es an. Mein eigener Onkel ließ meinen Vater und meinen Großvater ermorden und hat mir mein Erbe geraubt. Er hat meinen Namen gestohlen. Ich weiß, was Hass ist. Und ich habe mich gerächt. Es traf außer den Schuldigen, von denen einige überlebten, viel mehr Unschuldige, die nicht überlebten. Bevor ich die schlimmste Rache nahm, stand ich vor einer Entscheidung. Damals war ich nur ein verletzter und zorniger junger Mann, der seine gerechte Rache wollte. Vielleicht recht ungestüm, aber im Kern war es das. Jemand appellierte an meinen Hass, und ich entschied falsch. Das hat mich letztendlich zu dem gemacht, den du kennst. Und du hast recht, das, was du da siehst, zu hassen.
Du hast ebenfalls das Recht auf eine Entscheidung. Ich könnte mich auf die Amnestie des Regenten berufen, dem du Treue geschworen hast. Eine Treue, die du verraten würdest, würdest du mich jetzt töten. Geh diesen Weg, Niko, und du wirst eines Tages nicht viel besser sein als ich. Aber die Situation, wie sie ist, raubt dir die Freiheit dieser Entscheidung. Du sollst deine Gelegenheit bekommen; ich weise die Amnestie für die uns betreffende Angelegenheit hiermit offiziell zurück.“

„Das reicht!“ Ingvar schob sich zu Niko durch, zog seinen Dolch und setzte ihn von hinten an dessen Kehle. „Ein weiteres Wort von diesem Unsinn, Arnim, und ich schaffe dieses Problem aus der Welt. Dann kannst du dir überlegen, was du mit mir machst. Wir kommen klar ohne Niko. Wahrscheinlich auch ohne mich. Aber auf dich können wir hier nicht verzichten.“ Niemand machte Miene, ihn hindern zu wollen.
„Hör mir bis zum Ende zu“, sagte Lassalle ungerührt. „Unser Krieg jetzt hat Priorität. Ich habe dem Regenten Eannas versprochen und beabsichtige mein Wort zu halten. Aber sobald wir gesiegt haben, ist es Zeit, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Dann wird Niko die Möglichkeit haben zu entscheiden. Das ist mein Angebot. – Der Dolch, Ingvar?“
„Wir werden es dann sehen“, sagte der Lord von Rensdal und nahm seinen Dolch zurück.
„Niko?“
Der junge Lord von Raleigh schwieg lange. Aber schließlich nickte er. „Nach dem Krieg“, sagte er. „Bei meinem Eid an den Regenten. Ich werde Euch daran erinnern.“
„Lasst ihn los!“ befahl Arnim. Er musste sich wiederholen, damit Otho und Obhain dem Befehl nachkamen. Selbst dann taten sie es nur zögernd. Niko riss sich am Ende von ihnen los und ging zu seinem Stuhl zurück. Auch alle anderen setzten sich wieder.

„Noch mehr Überraschungen?“ erkundigte Elgin sich lakonisch, als alle wieder saßen. „Weitere Enthüllungen, Arnim?“
„Ich gehe davon aus, dass unsere Ausgangslage jetzt geklärt ist“, meinte Lassalle gelassen. „Es sei denn, es gibt noch jemand, der etwas vorbringen möchte.“
Reasan lachte verlegen. „Lieber nicht. Ich würde es vorziehen, dass meine Geheimnisse einmal mit Arnim begraben werden.“
„Solange du es damit nur nicht zu eilig hat“, murmelte Ingvar mit einem drohenden Blick in seine Richtung.
Lassalle zog fragend eine Braue hoch. „Wie komme ich zu dieser wild entschlossenen Protektion, Ingvar?“ fragte er mit einer Spur von Ironie in der Stimme.
Der Lord von Rensdal blickte ihn finster an. „Es ist einfach, dass ich das hier überleben möchte.  Du bist derzeit meine einzige Garantie dafür.“

Es wurde noch ein langer Abend. Keiner der Lords blieb danach auf Edrin, um zu übernachten. Sie alle hatten  zu dringliche und wichtige Aufgaben vor sich. Rensdal ging als letzter in den frühen Morgenstunden. Nur Elgin blieb mit Lassalle zurück.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagte Elgin, als Ingvar sie verlassen hatte. „Willst du noch mehr Wahrheiten bekannt geben, die dich und andere umbringen können?“
„Nur die, die unumgänglich notwendig sind“, sagte Arnim. „Ich denke, wir andern sind uns einig, dass ein paar Dinge begraben werden sollten. Aber Niko hatte ein Recht, das zu wissen, für seinen Anteil an diesem Bündnis.“
„Er wird sich rächen, sobald ihn sein Wort nicht mehr bindet. Vielleicht schon früher.“
„Vielleicht“, sagte Lassalle. „Vielleicht. Aber die Macht aus Alandas, die durch den Regenten bei uns Einlass gefunden hat, hat begonnen, jeden von uns zu ändern.“
„Ich weiß“, sagte Elgin leise. „Ich weiß.“ Auch er sah dieses Unbekannte unausweichlich auf sich zukommen.

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