Samstag, 3. September 2011

Kapitel 18.3


Asrain gefiel die ihm zugewiesene Aufgabe nicht. Natürlich wagte er nicht, das offen zum Ausdruck zu bringen. Es war dennoch immer wieder erstaunlich, wie er gegen besseres Wissen versuchte, Einwände gegen einmal erteilte Befehle vorzubringen. Barraid verzichtete darauf, ihn bei jeder Kleinigkeit dafür zu maßregeln. Der Lord litt und heulte, begriff nicht und machte weiter wie vorher. Es war kein Mangel an Intelligenz. Er war nur so blindwütig wie ein Rhinozeros, manchmal genauso kurzsichtig. Und genauso effektiv, wenn es um Zerstörung und Vernichtung ging. Einmal losgelassen, blieb nichts stehen, was in seinen Weg geriet. Die brutale Elementargewalt, mit der er vorgehen konnte, hatte gelegentlich selbst Barraid schon beeindruckt und sein Geschick, verwundbare Stellen zu entdecken, war nicht zu überbieten. Hier in Abhaileon hatte er als Erscheinungsbild das eines blonden Recken mit blaugrünen Augen gewählt.
´Warum solch einen Aufwand treiben, mein Fürst?´ wollte er wissen. ´Mit Eurer unermeßlichen Macht und Klugheit könnt ihr diesen Krieg mit Leichtigkeit gewinnen. Wozu braucht Ihr diesen Ritter? Warum wollt Ihr so große Mühen auf Euch nehmen, ihn auf Eure Seite zu ziehen? Wir könnten Abhaileon einfach überrennen. Es braucht nicht mehr viel, bis es soweit ist.“
„Vielleicht könnten wir Abhaileon überrennen“, sagte Barraid beherrscht. „Aber dem Feind versetzen wir einen heftigeren Schlag, wenn es kampflos fällt. Ein Ziel, das ich aufgrund der Umstände gerade mit diesem Ritter erreichen kann. – Ich will, dass er mir sein Schwert zu Füßen legt und mich als Herrscher anerkennt. Alandas soll in seinen Grundfesten erbeben und Abhaileon mir verfallen sein für immer.“ In Gedanken setzte er hinzu. „Und Ríochan soll das Herz bluten.“

Asrain ging auf und ab wie ein gefangener Tiger. „Sicherlich. Eine ideale Lösung. Aber in diesen wenigen Wochen? Ein Ritter des Königs! Niemand trägt gerade dieses Schwert ohne Grund. Was könnte ihn zu einem solchen Verrat veranlassen? Natürlich könnte man ihn zwingen. Nicht mit Urkhas Urwaldmethoden. Da gibt es Subtileres. Aber das nützte ja nichts.“ Es war wieder einmal bewiesen: Asrain konnte klar und folgerichtig denken, wenn er sich darum bemühte.
Barraid erklärte es zum zweiten Mal. „Er muß es in der Überzeugung tun, damit dem treu zu bleiben, wofür er steht. Seine Augen müssen blind sein für die Wahrheit.“
„Aber warum dann ich?“ protestierte der Lord. „Das wäre ein ausgezeichneter Auftrag für Lillian oder für Lùg. Sie waren damit oft genug erfolgreich. Meinetwegen auch Fíanael, für ihn ist es ein Kinderspiel, jemanden nicht mehr sehen zu lassen, was ihm vor Augen liegt.“ Das war wieder ein extrem plumper Versuch, der Pflicht zu entgehen. Fíanael, mit dem Asrain stets in erbittertem Konkurrenzkampf lag, würde einen Teil von Asrains Aufgaben übernehmen, während er anderweitig beschäftigt war.
„Nicht in diesem Fall“, sagte Barraid. „Er muß es sehen und es dennoch tun, weil er seinen Augen nicht glaubt.“
„Ich weiß nicht, wie mir das in dieser kurz bemessenen Zeit gelingen sollte“, erklärte Asrain halsstarrig.

Der Fürst entschloß sich zu einem schärferen Ton. „Du wirst deinen Dienst tun! Meinetwegen soll Akan übernehmen, wenn er wieder zurück ist. Mag sein, ich übertrage ihm auch den Rest deiner bisherigen Aufgaben.“ Jeder andere außer Asrain hätte gewußt, daß das eine leere Drohung war. Akan wäre an Asrains Posten verschwendet gewesen. Aber da spielte dem Lord wieder seine blinde Wut einen Streich. Er hasste Akan mit einer beeindruckenden Intensität. Vermutlich hätte er selbst keinen Grund dafür nennen können.
So wirkte die letzte Aussage besser als jede Drohung. Asrain bebte vor Entrüstung. Seine Augen sprühten Funken. „Ich kann jede Aufgabe besser erledigen als ... Akan.“ Er spuckte den Namen aus.
„Dann sind wir uns ja einig“, sagte Barraid. „Befolge einfach deine Befehle. Um alles andere kümmere ich mich. Sei sein bester Freund! Sage ihm nie eine direkte Lüge! Und zügle dein Temperament! Du wirst ihn letztendlich zerstören, besser als jeder andere. Aber denke daran, ich bin es, der dich dazu gebraucht!“
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„Es sind uns wenige Aufzeichnungen von den Großen Kriegen erhalten. Sagen ranken sich um jene ferne Zeit der abhaileonischen Geschichte. Die Namen mancher Helden sind halb vergessen. So ist Etlan von Fuacht trotz seiner elementaren Rolle kaum über die Grenzen von Dalinie hinaus bekannt. Andere wie Colin der Große und Lady Elianna sind dagegen in die Volksüberlieferungen eingegangen. Oft sind selbst ihre richtigen Namen nicht mehr allen bekannt. Wir können es jedoch als gesichert betrachten, dass es sich bei jenem Colin tatsächlich um Colin von Donnacht-Tireolas handelte, einer Familie, die ihre Herkunft auf den sagenhaften Drachentöter Colin zurückführte, die jedoch an Macht und Einfluß verloren hatte, nachdem ...“
An dieser Stelle kam die erste ärgerliche Unterbrechung. Das Ende der Seite war erreicht und die nächste Seite brachte nicht die Fortsetzung, sondern setzte an einer anderen Stelle wieder ein. Nach dem ersten flüchtigen Überlesen, ging es auf jeder der vorhandenen Seiten irgendwie um jene Elianna von Saldyr. Der unbekannte Absender dieser Seiten schien zu meinen, sie solle sich besonders für diese Frau interessieren. Isabell buchstabierte sich also weiter.
„Als eine der interessantesten Gestalten zeichnet sich jedoch Elianna von Saldyr ab. In nachträglichen Aufzeichnungen scheint die Hauptrolle im Geschehen Colin von Donnacht zuzufallen. Einige Quellen gehen sogar soweit, dass sie behaupten, dies seien die drei Ritter des Königs gewesen: Colin von Donnacht, Mharig von Ruandor und Efraim von Roscrea. Ein Studium der ältesten Texte zeigt jedoch, dass Efraim von Roscrea trotz seiner Rolle in den Auseinandersetzungen kein Ritter des Königs war. Diese Auszeichnung fiel fraglos Elianna von Saldyr zu.
Was wissen wir über jene Frau aus fernen Zeiten? Von ihrem Äußeren ist nur bekannt, dass sie Haare von der Farbe geronnenen Blutes hatte. Weiterhin wird erwähnt, dass sie ein weißes Pferd ritt und mit dem Schwert kämpfte wie ein Mann. Ihre bevorzugte Waffe jedoch war ein Bogen. Ob sie in ihrer Vergangenheit Jägerin war, wie ein Text wissen will, wird für immer verborgen bleiben. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie lange vor Colin und Mharig zu Berühmtheit in Abhaileon gelangte. Zuerst wird sie erwähnt als Heerführerin von Dalinie. In den dort tobenden Bürgerkriegen ....“

Das war sehr interessant. Diese Seite studierte sie gleich zweimal hintereinander durch. Robin hatte etwas von Rittern des Königs erzählt. Er sollte einer davon sein und Béarisean der zweite. Der dritte sei noch unbekannt, hatte er gesagt. Und damals war der dritte eine Frau gewesen. Eine rothaarige Frau, genau wie sie. Man hatte versucht, Elianna ihre wichtige Rolle abzusprechen. Genau wie verhindert worden war, dass sie nach Abhaileon kam! Nun gut, die dritte Seite jetzt.
„... dieser Situation wäre die Stellung Colins und seiner Anhänger recht hoffnungslos gewesen. Die Führer des abhaileonischen Heeres waren in ihrer Gesamtheit nicht geneigt, ihn als Regenten anzuerkennen – und so waren die Reste des abhaileonischen Heeres in drei Splittergruppen zerfallen: die Anhänger Davims, die Anhänger Colins und Teile des dalinianischen Heerbannes unter der Führung von Etlan von Fuacht.
Währenddessen sammelten sich die Heere des Fürsten Gantanim für die alles entscheidende Schlacht, nach der ihm unangefochten die Herrschaft zugefallen wäre. Keiner der Texte kann zufriedenstellend erklären, weshalb Elianna zu diesem Zeitpunkt nicht im Lager war. Aber alle sind sich einig, dass sie kurz vor der Schlacht dorthin kam und einen Bogen mit sich brachte. Es heißt, der Bogen sei der Bogen des grössten Helden der abhaileonischen Vorzeit gewesen, der Bogen des Colin Drachentöter. Mit dem Bogen übergab sie Colin von Donnacht die Führung der Dalinianer. Es wird behauptet, dass dieser Bogen auch das dritte der getrennten Lager ...“

Elianna war also irgendwie in letzter Sekunde dort aufgetaucht, um alles zu retten. Das war befriedigend zu lesen. Es ließ Raum dafür, sich vorzustellen, dass auch sie so etwas bewerkstelligen könnte. Sicherlich waren diese Textseiten deswegen zu ihr gelangt. Nur noch eine Seite war übrig, und diese war nicht vollständig beschrieben.
„... so kann abschließend nur gesagt werden, dass jene junge Frau die entscheidende Rolle bei dem Ausgang der Kriege spielte. So rätselhaft wie ihr Erscheinen zu verschiedenen kritischen Ereignissen bei den Großen Kriegen Abhaileons ist, so rätselhaft bleibt auch, was die Zukunft für sie bereithielt. Nach einigen anfänglichen Erwähnungen verschwindet sie ganz aus den Chroniken Abhaileons, und es scheint, dass das Haus der Lords von Saldyr mit ihr erlosch, bis nach mehreren Generationen eine andere Familie diesen Herrschersitz und den dazugehörigen Titel übernahm.“

In den nächsten Tagen dachte Isabell viel über jene Elianna nach. Sie lernte die Texte mehr oder weniger auswendig. Die fremden Namen wurden ihr fast zu Vertrauten. Sie war voller Unruhe, konnte sich auf keine Arbeit mehr konzentrieren. Hätte sie nur eine Möglichkeit gehabt herauszufinden, wer ihr diese Blätter zugespielt hatte! Als dann zehn Tage später endlich ein Brief auftauchte – wieder nicht mit der Post, wieder ohne Briefmarke – erkannte sie die Handschrift, die sie auf dem Zettel gesehen hatte, sofort wieder. Diesmal hielt sie sich nicht damit auf, den Brief sorgfältig zu öffnen. Das Kuvert ließ sich auch mit dem Finger aufreißen. Die Mitteilung darin war nicht lang. Sie stand auf einem unlinierten DINA5 Papier, aber die flüssige Schrift war so ordentlich gerade, als habe jemand ein Lineal angelegt. „Morgen 16 Uhr“ stand dort. In der folgenden Zeile kam die Ortsbeschreibung, eine Wegkreuzung in den Wiesen vor der Stadt.
Der Gedanke, dass dies auch irgendeine Falle sein könnte, streifte sie. Wenn auch nur flüchtig. In ihrem Herzen war die Entscheidung schon lange getroffen gewesen. Sie würde von diesem Spaziergang wohl nicht so schnell zurückkommen. Daher entschied sie sich für reisegeeignete Kleidung.
*******

Der Alptraum strebte seinem Höhepunkt zu. Dunkelheit und ein unsichtbarer Feind, der erbarmungslos aus dem Schutz der Finsternis zuschlug. Und er konnte sich nicht wehren, denn seine Hände steckten immer noch in den eisernen Ringen, die ihn an die Wand fesselten. Jetzt kam der Gegner wieder heran. Gelbe Fänge bleckten im Dunkel.
Mit einem Aufschrei fuhr Robin aus dem nervösen Schlaf und schaute verwundert um sich. Die Umgebung war ihm vollkommen unbekannt. Es war ein angenehm und elegant gestaltetes Zimmer mit einem großen Fenster, das auf einen Balkon hinausging. Strahlendes Sonnenlicht fiel durch die durchsichtigen Scheiben herein und malte Muster auf den Boden. Der Himmel war wolkenlos. Vielleicht würde ihm ein Blick hinaus mehr zeigen. Entschlossen wollte er die Decke zurückschlagen und aufstehen, aber schon der bloße Versuch brachte ihm einen Schwindelanfall ein. Verwirrt strich er sich mit der Hand über Augen und schweißnasse Stirn und erstarrte in der Bewegung. Seine Hand. Diese kaum verheilten Verletzungen um das Gelenk. Dann war es gar kein Alptraum gewesen sondern Wirklichkeit?
Langsam kehrten Bruchstücke der Erinnerung zurück. Béarisean. Abhaileon. Der Ritt mit Dorban. Das Treffen mit dem Schwarzen Fürsten. Der Drache in Gleann Fhírinne. Die Begegnung mit dem Fürsten von Alandas. Die Rettungsaktion für Dorban. Die Flucht und der Kampf mit den schwarzen Reitern. Und dann Gefangenschaft. Ein Versinken in Dunkelheit. Ein gut Teil davon mochte ins Reich der Träume gehören. Wo war er jetzt? Nichts gab ihm einen Hinweis. Jemand mußte ihn aus dem Verlies befreit haben. War der Krieg vorüber? Zwecklos zu grübeln. Wohlige Müdigkeit überkam ihn und er schlief wieder ein.

Als er von neuem erwachte, war es dem Licht nach zu urteilen früher Morgen. Seine Gedankengänge von vorher fielen ihm wieder ein. ´Gleich wo ich bin, ich danke dir für meine Rettung, mein König´, sagte er leise. Er versuchte, sich vorsichtig aufzusetzen und es gelang, auch wenn es mit einer ungewohnten Kraftanstrengung verbunden war. Sein Blick fiel auf die Wand neben seinem Bett, dort lehnte sein Schwert. Er lächelte froh, denn eine Erinnerung hatte ihn glauben machen wollen, dass es für immer verloren sei. Das alles wies darauf hin, daß er wieder unter Freunden war. Vielleicht sogar von neuem in Alandas. Der Gedanke an ein Wiedersehen mit Ríochan ließ sein Herz schneller schlagen. Seine Harfe. Wenn das Schwert da war, war sicher auch die Harfe da. Aber nein, nirgends war sie zu sehen. Auch wenn er noch schwach war, es ging ihm unbestreitbar besser, denn in seinem Kopf klang schon wieder ein Lied auf. Etwas, für das er in den letzten Tagen und Wochen in jenem Verlies auf Cardolan, soweit er sich erinnerte, keinen Sinn mehr gehabt hatte. Es mußte Alandas sein. Es war Frühsommer. Wer sonst hätte ihn aus jener Festung befreien können?
Doch als sich dann die Tür öffnete, war er überzeugt doch nur zu träumen. Denn ein trat - Fürst Barraid. Sollte er sein Schwert ergreifen und sich auf den Kampf gefaßt machen? Nein. Einmal abgesehen davon, daß er dazu rein körperlich nicht imstande war, die Situation war einfach zu absurd. Es mußte ein Traum sein! Da konnte er genauso gut ruhig abwarten, was als nächstes geschehen würde.

´Ich sehe, du bist endlich wieder wach´, sagte der Schwarze Fürst freundlich und setzte sich auf einen Stuhl bei seinem Bett. ´Ich hoffe sehr, du hast dich erholt?´
´Danke der Nachfrage´, sagte Robin ungerührt. ´Ich habe in der Tat ausgezeichnet geschlafen. Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches? Ich muß gestehen, daß ich darauf nicht ganz gefaßt war. Soweit ich mich entsinne, wart Ihr bei unserer letzten Begegnung auf Schloß Carraig der Ansicht, daß ich und mein Begleiter Betrüger seien, die aus dem Weg zu räumen seien.´
´Selbst ich kann einmal irren´, gab der Fürst mit einer großzügigen Handbewegung zu. Im Stillen zollte er der Kaltblütigkeit dieses Ritters Respekt. ´Ich habe meinen Irrtum inzwischen eingesehen und bemühe mich nach Kräften, ihn wieder gutzumachen. Aber du irrst, wenn du meinst, unsere letzte Begegnung habe auf Carraig stattgefunden. Zwar habe ich inzwischen wieder die Ehre, dich hier meinen Gast zu nennen, aber zuletzt sahen wir uns in Cardolan in der Ostheide. Obwohl dein damaliger bedauernswürdiger Zustand erklärt, daß du dich daran nicht erinnern kannst.´
Das nimmt eine interessante Wendung, überlegte Robin. Vielleicht erzählte ihm sein Unterbewußtsein auf diese Weise, was dort in Cardolan weiter mit ihm geschehen war. Solche Unsinnigkeiten wie das Erscheinen Barraids mußte er natürlich davon abziehen. Laut (eigentlich interessant, daß man auch beim Träumen zwischen denken und laut reden unterscheiden konnte) sagte er: ´Ich muß gestehen, daß ich mich daran tatsächlich nicht erinnern kann. Würdet Ihr mir erzählen, wie ich von Cardolan hierher gelangt bin?´

´Gerne´, sagte der Fürst. „Ich bin vielbeschäftigt. Doch ich bin dir auch eine Wiedergutmachung schuldig. Die Männer des Kommandanten Urkha nahmen dich gefangen, als sie den Verräter Dorban suchten. Es scheint, daß du und dein Freund Béarisean aus irgendeinem Grund mit ihm zusammen unterwegs wart. Urkha sandte mir Nachricht über den Vorfall. Jedoch machte der Winter die Straßen nach Cardolan bis weit ins Frühjahr hinein unpassierbar. Später hielten mich zunächst dringende Geschäfte auf, so daß ich erst vor kurzem die Zeit fand, mich selbst nach Cardolan zu begeben. Auch wähnte ich dich in guten Händen. Leider zeigte sich bei meiner Ankunft, daß Urkha meines Vertrauens unwürdig gewesen war und eigenmächtige Handlungen unternommen hatte, die ganz und gar nicht in meinem Sinne waren. Nun, er hat dafür seine Strafe erhalten. Ich selbst habe dafür Sorge getragen, daß du hierher gebracht wurdest. Ich hoffe, du nimmst meine Entschuldigung an.´
„Cardolan.“ Sich an diesen Winter zu erinnern, war das schwerste von allem. Da war nur Dunkelheit über Dunkelheit. „Urkha sagte, Ihr wolltet mich lebend. Aber er vergaß sich schnell. Das war noch vor Cardolan. Ein Ingro versuchte ihn aufzuhalten, aber vergeblich.“
„Begegnetest du je Asrik?“ erkundigte sich der Fürst. Der Name schien keine Erinnerungen zu wecken. „Irgendjemand, der Urkha ebenfalls Schwierigkeiten machte?“
„Es ist nur ein verwaschener Eindruck“, sagte Robin langsam. „Es ging mir wohl sehr schlecht. Da war ein gewaltiges Geschrei, eine Auseinandersetzung. Das war, kurz bevor alles versank.“ Er schloss die Augen. „Wie Blätter in kaltem Herbstwind“, flüsterte er mehr zu sich selbst. „Vorher war soviel Licht.“

Aber dann erinnerte er sich, mit wem er sprach. „Was habt Ihr nun mit mir vor? Ich sah mein Schwert hier. Aber selbst wenn ich es erreichen könnte ...
„Es heißt nur, dass du die Waffe führen sollst, die die dunklen Mächte bezwingt“, bemerkte der Fürst. „Wer oder was die dunklen Mächte sind, ist noch nicht ganz geklärt.“
„Urkha sagte, dieses Schwert sei mir für immer verloren.“
„Dagegen sage ich, dass es nichts Wichtigeres gibt, als dass du es behältst und richtig einsetzt. Vor uns liegt noch viel Arbeit.“
„Da ist kein Bündnis zwischen Euch und mir“, sagte Robin fest.
„Noch nicht“, entgegnete Barraid ruhig.
„Meine Treue gehört dem König.“
Barraid lächelte. „Genau darum trägst du dieses Schwert. Aber du solltest rasten, um die Fieberträume hinter dir lassen und neu sehen zu können. Wir werden uns wieder sprechen.“ Damit erhob er sich und ging.

Robin lag noch eine ganze Weile still da. So langes Stilliegen konnte zu keinem Traum gehören. War er jetzt wieder aufgewacht? Er mußte herausfinden, wo er war. Ein Blick aus dem Fenster mochte helfen. Mit einer Kraftanstrengung setzte er sich auf den Bettrand. Der erste Versuch aufzustehen scheiterte an einem weiteren Schwindelanfall. Die Übelkeit, die darauf folgte, war auch ganz und gar nicht traumartig. Aber er wollte jetzt herausfinden, wo er war. Dieser letzte Traum war so unglaublich real gewesen. Er brauchte etwas, das er solchen unsinnigen Einbildungen als Tatsache entgegenhalten konnte. Die Beine wollten ihn nicht tragen, doch sein eiserner Wille brachte ihn dennoch bis an die Balkontür. Er spähte hinaus und klammerte sich am Türrahmen fest. Unter ihm türmten sich Bastion auf Bastion die Zinnen der Festung Carraig. Der Blick auf die Türme und die weite Ebene am Fuße des Bergrückens war ihm von seinem kurzen Aufenthalt her im Gedächtnis geblieben. Sogar auf einen der Innenhöfe konnte er sehen, wo eine Gruppe der schwarzen Reiter sich gerade zum Aufbruch bereit machte.
´Es kann einfach nicht wahr sein´, flüsterte Robin. ´Es kann nicht wahr sein. Mein König, laß diesen Irrsinn nicht wahr sein.´ Dann verlor er das Bewußtsein. Die Anstrengung war zu groß gewesen.

Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich wieder in dem nun schon vertrauten Bett. Ihm zur Seite saß – zu seiner Erleichterung nicht der Schwarze Fürst, sondern ein fröhlich aussehender junger Mann in abhaileonischer Kleidung, der ihm freundlich zuzwinkerte. ´Hallo´, sagte er. ´Geht es dir wieder besser? Wir haben uns alle ziemliche Sorgen gemacht, als wir dich dort am Fenster fanden. Jetzt bin ich beauftragt worden, dich nicht aus den Augen zu lassen, damit du nicht noch mehr solchen Unsinn machst.´
´Jetzt wird es wenigstens etwas realistischer´, sagte Robin geradezu erleichtert. ´Ich habe einen Gefangenenwärter.´
´Na, also jetzt übertreib mal nicht´, sagte der Fremde belustigt und strich sich mit einer unwillkürlichen, etwas verlegen wirkenden Bewegung eine blonde Locke aus der Stirn. ´Gefangenenwärter! Ich bin eher so eine Art Krankenschwester. Na ja, ehrlich gesagt. Ich bin erst seit kurzem hier. Die ganze Zeit saß jemand von der Dienerschaft bei dir. Mich hat man erst gerufen, als es aussah, als würdest du wieder aufwachen.´

In Robin flammte die Hoffnung auf, daß all das mit Barraid und Carraig doch nur ein wilder Alptraum gewesen war. Dieser blonde junge Mann sah eher wie ein Märchenprinz aus, nicht wie einer von Barraids finsteren schwarzen Reitern. ´Wer bist du?´ fragte er ihn.
´Oh´, sagte der Fremde. ´Stimmt, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Entschuldige. Weil ich deinen Namen kenne, hatte ich schon vollkommen vergessen, dass du mich nicht kennen kannst. Ich heiße Asrain und bin - jetzt erschrick nicht  - einer der Lords, die mit Fürst Barraid aus Winian nach Abhaileon gekommen sind. Ich hörte, dass du uns immer noch großes Misstrauen entgegen ringst. Nun ja, kein Wunder nach dem, was auf Cardolan vor sich ging!´
„Ihr spielt ein Spiel mit mir!“ erklärte Robin.
Asrain lachte nur. „Wie du meinst. Der Fürst hat mich von den meisten meiner sonstigen Pflichten entbunden, um dir zur Verfügung zu stehen. Er sagt, da du durch einen seiner Diener so gelitten habest, sei nichts passender als dass ein anderer es an dir wieder ausgleiche.“ Er verzog ein wenig das Gesicht und fügte trockener hinzu. „Nun, da ich ein Lord von Winian bin, und Urkha nur ein relativ bedeutungsloser Hauptmann war, sollte es wirklich ein akzeptabler Ausgleich sein. Jedenfalls, ob du nun meine Unterstützung in Anspruch nehmen willst oder nicht, ich werde dir des öfteren Gesellschaft leisten in der nächsten Zeit.“

„Ich will aufstehen“, erklärte Robin. „Ich fürchte, ich brauche Hilfe dabei.“
Mit Asrains Unterstützung war es kein großes Problem mehr. Dankenswerterweise hatte jemand dafür gesorgt, dass Robin wieder ordentlich rasiert war. Der Bart, der ihm in Cardolan gewachsen war, war sehr lästig gewesen. Jetzt wollte er zuerst wieder vernünftige Kleidung. Zum Glück war etwas bereit gelegt. Bessere Stoffe, als er vorher getragen hatte, aber alles wäre jetzt recht gewesen. Asrain wollte von den Stiefeln abraten, aber er bestand darauf. Er wußte, er würde sich sofort besser fühlen, wenn er ordentliche Stiefel anhätte. Es war dennoch nicht ohne Tücke, auf die Beine zu kommen. Der Lord musste ihn stützen. Er war so stark wie er aussah. Andererseits hatte Robin auch viel Gewicht verloren in den letzten Monaten. Er brauchte etwas Vernünftiges zu essen. Eine Erwähnung hatte zur Folge, dass Asrain ihn dort am Balkon für eine Weile verließ, um sich darum zu kümmern.
Robin lehnte sich an die Brüstung und blickte auf die Festung und die Ebene weit unten hinab. Er musste so schnell wie möglich fort von hier. Leider würde er es fürs erste wahrscheinlich nicht einmal allein zurück in das Zimmer schaffen. Schon jetzt klebte ihm das Hemd von der Anstrengung am Rücken. Vielleicht war er in ein paar Tagen soweit, er musste hart an sich arbeiten. All das schonungslose Training in Alandas schien zunichte gemacht durch die lange Bewegungslosigkeit. Vielleicht blieb er besser zwei, drei Wochen, bis wenigstens wieder einige seiner Muskeln trainiert waren. Bis dahin würde er vielleicht durchschauen, was Barraid vorhatte. Ein Lord von Winian zu seiner Bedienung? Es war lächerlich! Selbst als Bewachung vollkommen übertrieben. Und warum um alles in der Welt gab man ihm sein Schwert zurück?

Asrain kam wieder in das Zimmer und begann gut gelaunt zu erzählen, dass es demnächst lebendiger hier werden würde. Es wurden Truppen aus dem Osten erwartet. Robin erkundigte sich, ob noch etwas anderes aus seinem Besitz die Zeit in Cardolan überlebt hatte. Der Lord half ihm wieder ins Zimmer, und es fanden sich ein paar Kleinigkeiten, die man ihm wohl schon bei seiner Gefangennahme abgenommen hatte. Auch der Brustpanzer war da. Aber ausgerechnet die Harfe fehlte. Er fragte danach. Doch Asrain erklärte, er wisse nichts von einer Harfe. Er erzählte unbekümmert, dass er sich selbst nie für die Kunst des Musizierens interessiert habe. „All diese komplizierten Griffe, nur um Töne in der richtigen Reihenfolge zu produzieren.“ Er schüttelte befremdet den Kopf. „Aber wenn Ihr wollt, kann ich versuchen, eine für Euch aufzutreiben.“ Robin hatte hartnäckig auf der förmlichen Anrede bestanden, so hatte er das Du vorläufig aufgegeben.
Robin schüttelte den Kopf. Er würde sich in den nächsten Tagen auf anderes konzentrieren müssen. „Diese Harfe war etwas Besonderes“, sagte er. „Ich fand sie in Croinathír, und sie erinnerte mich an etwas Wichtiges.“
Er betrachtete Asrain nachdenklich. Wie weit würden sie die Scharade treiben? „Da Ihr schon darauf besteht, mir Gesellschaft zu leisten, Lord Asrain, könntet Ihr mir ein paar Fragen beantworten?“
Der Lord schien erfreut. „Gerne. Vorausgesetzt sie haben nicht zu viel mit Musik zu tun“, versuchte er zu scherzen.

„Was denkt ein Lord von Winian über den König?“ erkundigte Robin sich.
Asrains Redefluß kam deutlich zum Erliegen. „Nicht viel“, sagte er schließlich. „Hört, ich möchte nichts sagen, was Euch beleidigt. Aber wir sehen die Dinge etwas anders in Winian. Nicht, was Ihr jetzt vielleicht denkt. Winian ist ganz anders als die Gerüchte, die Ihr in Abhaileon darüber gehört habt. Und der König ... Vielleicht sollten wir über diese Dinge diskutieren, wenn es Euch besser geht.“
„Reicht mir mein Schwert!“ verlangte Robin. Ihn befiel plötzlich ein Verdacht, man habe die Waffe vielleicht gegen eine andere ausgetauscht. Asrain zögerte kaum merklich, kam aber der Aufforderung nach.
Die Waffe war unerwartet schwer in Robins Händen. Es war gut, dass er schon wieder auf der Bettkante saß, sonst hätte er ihr Gewicht kaum tragen können. Aber das Heft sah nicht nur richtig aus, es fühlte sich auch vertraut an, als er die Hand darauf legte. Es war, als glitte ein Schatten von seinem Herzen. Instinktiv wandte er sich dem Fenster und dem Sonnenlicht zu, als er die Klinge langsam aus der Scheide gleiten ließ. Das Metall glomm mit stählernem bläulichem Schimmer im Schatten des Zimmers. Es war als brächte die Waffe etwas Kraft in seinen Arm zurück. Er richtete sie auf, umfasste das Heft mit beiden Händen und hob das Schwert grüßend in das Licht. „Heil dir, mein König!“ sagte er leise.
Das Licht flammte nicht in der Klinge wie damals in Alandas, dennoch gleisste es so auf, dass seine Augen schmerzten. Die Bindehautentzündung war noch immer nicht ganz abgeheilt, wie es schien. Er hatte schon vorher bemerkt, dass seine Sehschärfe noch nicht wieder die alte war und dass seine Augen schnell trocken wurden und brannten. Jetzt musste er sie zusammenkneifen vor Schmerz.

So entging ihm Asrains Reaktion. Der Lord stand ohnehin hinter ihm, aber als das Schwert aufblitzte, riß er unwillkürlich einen Arm vor die Augen, in denen ein anderes Feuer aufloderte. Doch bis Robin die Waffe behutsam in ihre Scheide geschoben hatte, hatte er sich wieder in der Gewalt.
„In ein paar Tagen muß ich anfangen zu trainieren“, erklärte der Ritter. „Besser eher als später.“
„Aber sicher nicht mit dieser edlen Waffe“, meinte Asrain. „Es wäre schade, entstünde ein Schade an ihr.“
Robin lachte. Das heißt, er versuchte zu lachen, es wurde mehr ein Husten daraus. Offenbar hatten auch die Lungen in Cardolan gelitten. „Und was sollte dieser Klinge aus Alandas schaden?“ fragte er, als er wieder zu Atem kam. „Aber ich fürchte, für den Anfang brauche ich wirklich eine leichtere Waffe.“
„Ich werde mich darum kümmern“, versicherte Asrain. Er griff nach dem Schwert, um es wieder an die Wand zu stellen. Aber Robin legte seine Hand darauf und schüttelte den Kopf.
„Es bleibt bei mir“, sagte er entschieden. „Selbst wenn ich es jetzt nicht gebrauchen kann. Es ist alles, was ich noch habe.“

Dann brachte ein Diener das bestellte Essen und der Lord verabschiedete sich. Mit zornigen Schritten ging er zurück in seine Gemächer. Dort angekommen, galt sein erster Griff Robins Harfe. Barraid hatte sie ihm überreicht, als er ihm diese vermaledeite Aufgabe aufgezwungen hatte. Natürlich kannte Asrain die Grundbegriffe der Musik. Er konnte ein Instrument spielen, wenn es nötig war. Aber er betrachtete es als reine Zeitverschwendung. Das war etwas für, für – er suchte das geeignete Schimpfwort – für Stiefellecker wie Akan. Selbst in Gedanken spuckte er diesen Namen. Lùg hatte einmal etwas erwähnt, dass der Fürst diesem gelegentlich befehle, für ihn zu spielen. Es sei beeindruckend, hatte er gesagt, was immer das heißen sollte. Und jetzt saß ausgerechnet Asrain mit dieser verfluchten Harfe da und sollte sie als Hauptwaffe gegen diesen elendiglichen Menschen benutzen.
Finster starrte er das Instrument an, bevor er behutsam über die Saiten strich. Die Töne perlten klar und harmonisch durch den Raum. Er widerstand der Versuchung, das Instrument an die Wand zu werfen. Der Fürst würde es fraglos übel aufnehmen, wenn es dabei irgendwie beschädigt würde.
Und es war eindeutig keine gute Idee gewesen, dieses Schwert aus Alandas in der Nähe des Gefangenen zu lassen. Natürlich nicht seine Idee! Er hatte dagegen ausdrücklich protestiert. Aber der Fürst hatte darauf bestanden. Jetzt sah es aus, als wolle dieser „Ritter“ damit schlafen! Das würde alles nur noch schwerer machen. Er hatte gespürt, welche Kraft aus der Waffe in den immer noch Geschwächten geflossen war. Aber Barraids Ton war endgültig gewesen am Ende ihrer Diskussion. Asrain barst fast vor Zorn. Er beschloss, sich auf die Suche nach einem geeigneten Opfer dafür zu machen. Zu schade, dass dieser Asrik noch nicht wieder hier war. Er stellte die Harfe vorsichtig auf ihren Ständer zurück.

„Schwierigkeiten?“
Der Lord fuhr herum. Der Fürst war unbemerkt bei ihm eingetreten. „Keine unlösbaren, Herr“, sagte Asrain so beherrscht er nur konnte.
´Das will ich hoffen´, sagte Barraid. „Denn solltest du dich dieser simplen Aufgabe nicht gewachsen zeigen, die du so gerne Lùg oder einem anderen überlassen wolltest, werde ich ernsthaft darüber nachdenken müssen, ob du weiterhin irgendwelche Aktionen leiten solltest. Ganz besonders die Unternehmungen hier in Abhaileon.“
„Er hat das Schwert gezogen“, sagte Asrain. „Und die Worte gesprochen.“
„Ich hoffe, du konntest dich gut beherrschen“, sagte der Fürst.
„Er hat nichts bemerkt“, versicherte der Lord finster. „Dennoch, es würde alles erleichtern, wenn es ihm noch eine Weile vorenthalten würde. Er schien entschlossen, es nicht mehr aus der Hand zu lassen.“

„Das dürfte sich in absehbarer Zeit ändern“, entgegnete Barraid ruhig. „Was sonst? Du hast die Harfe überprüft?“
„Das habe ich.“ Der Lord versuchte seinen Ingrimm zu dämpfen, aber er war unüberhörbar. „Da ist auch nicht die Andeutung eines Mißklangs.“
Barraids Blick verfinsterte sich. „Falls dem so ist, hast du an diesem Nachmittag ruiniert, wofür ich den Grund gelegt hatte.“ Er streckte die Hand aus, und Asrain reichte ihm das Instrument.
„Du hast Glück“, sagte Barraid kurz darauf. „Es ist alles, wie es sein sollte. Aber deine Fähigkeiten lassen offensichtlich zu wünschen übrig. Höre richtig hin! Hier ist eine kleine Dissonanz. Er hat begonnen zu zweifeln, ob wir die Gegner sind, für die er uns hält. Daran wirst du weiter arbeiten. Und sobald Akan da ist, werde ich ihm sagen, dass du Nachhilfe in Sachen Musik dringend nötig hast. Es sei denn, ich sehe bis dahin eine deutliche Steigerung deiner Fertigkeiten.“
Asrain hätte am liebsten geschrien. Statt dessen versicherte er: „Ich war nur ein wenig abgelenkt vorhin. Es wird nicht wieder vorkommen.“

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