Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 10.1


X Bailodia

Als sie den Palasthof selbst erreichten, stiegen sie von den Pferden. Während sie noch zögerten, kam schon ein Diener, der ihnen die Pferde abnahm. Sie wandten sich der Palasttreppe zu. Dort standen wieder Wachen in den schon vertrauten Rüstungen. Sie gaben ihnen sofort den Weg frei und verbeugten sich höflich. Doch sie wussten nicht, wohin sie sich weiter wenden sollten. Béarisean wollte gerade dazu ansetzen zu sagen, dass Ríochan sie geschickt habe, als schon jemand auf sie zueilte. Es war ein jung aussehender Mann in eleganter Kleidung. Auch er verbeugte sich.
Sie hatten kaum Zeit, die Höflichkeit zu erwidern, als er schon eilig zu sprechen begann: „Ich grüße Euch, werte Ritter. Mein Name ist Alif. Mein Herr bittet, ihn zu entschuldigen. Er hat noch viele wichtige Pflichten an diesem Abend. Er lässt Euch bitten, nicht auf ihn zu warten und in Ruhe das Abendessen zu genießen, das er hat auftragen lassen. Er hat mir den Befehl gegeben, Euch Eure Räume zu zeigen.“ Während er redete, führte sie Alif zuerst über den Hof des Palastes und durch einen Nebeneingang in das Hauptgebäude. „O, hier zur Rechten ist der Eingang in die große Bibliothek und dort links ist der Thronsaal des Fürsten. Heute Abend findet dort noch eine wichtige Beratung statt.“ Er führte sie weiter in einen Seitenflügel des Palastes und fuhr pausenlos fort, sämtliche Einzelheiten, die sie sahen, zu kommentieren.
Robin fühlte sich inzwischen so müde, dass er kaum noch zuhörte. Er wurde erst wieder aufmerksamer, als er die Worte „und hier sind wir schon“ vernahm. Er sah auf und erblickte als erstes einen geräumigen Aufenthaltsraum mit einer Terrasse, in dessen Mitte ein reichlich gedeckter Tisch stand. Gegenüber der Terrasse führten zwei Türen, vor denen Vorhänge hingen, in zwei Schlafzimmer. Seitlich der Terrasse war ein Waschraum. Kurz darauf bat sie der redefreudige Alif tausendmal um Entschuldigung, dass er sich nun eilends verabschieden müsse, da auch er zur Beratung geladen sei, wünschte ihnen einen gesegneten Appetit und eine gute Ruhe, verbeugte sich nochmals sehr höflich und überließ sie sich selbst.

Béarisean und Robin machten sich frisch und setzten sich zu Tisch. Dank dem kalten Wasser fühlte Robin sich wieder viel wacher. „Uff“, sagte er, während er nach einem Glas Saft griff, „Wie viel Worte konntest du in diese interessante Unterhaltung einflechten?“
Béarisean lachte laut. „Nicht viel. Dabei wartete ich eigentlich auf eine Gelegenheit zu fragen, welche Stellung unser geheimnisvoller Gastgeber hier eigentlich begleitet. „
“Wie auch immer. Dank sei ihm für seine Großzügigkeit, die Bewirtung ist reichlich und fast möchte ich sagen, sie ist die zweitägige Fastenkur wert.“
Die folgende Zeit beschäftigten sich beide intensiv mit dem Inhalt und Belag der Schüsseln und Platten vor ihnen. Nach Beendigung der ausgedehnten Mahlzeit, gingen sie hinaus auf die Terrasse. Sie führte in den Park, der das Schloss umgab und vom Palast ausgehend in sanfter Neigung zu den Häusern der Stadt hin abfiel. Wie am Vortag malte die untergehende Sonne den westlichen Abendhimmel rot. Eine natürlich aussehende Waldlichtung gab den Blick nach Nordwesten frei. Dort zeichnete sich die Silhouette der hohen Berge, von denen sie heute herabgekommen waren, blaugrau gegen den klaren Himmel ab. Die beiden Ritter, die ihre Rüstung inzwischen abgelegt hatten, machten es sich auf Diwanen bequem, die auf der Terrasse standen.
“Erzähle mir etwas über den Fürsten von Alandas”, forderte Robin auf. “Irgendetwas muss doch noch überliefert sein in den Legenden.”
“Leider ist es wirklich nicht viel”, sagte Béarisean. “Nichts, wie er aussieht. Nur, dass er ungeheuer mächtig ist. Und natürlich weise. Ein gewaltiger Feldherr und Kämpfer. Und der Falke ist sein Wappentier, das sahst du ja schon. Es heißt das Siegel der Regenten war ein zweigeteilter Smaragd: auf der einen Seite Colins Bogen, auf der anderen der Falke von Alandas.”
“Ich habe noch keine Falken hier gesehen”, bemerkte Robin. “Aber dort in den Bergen könnten sie gut leben. Sie lieben steile Klippen. Darum also die Farbe blau.”
Béarisean blickte ihn verständnislos an. Robin lachte. “Die Federn von Wanderfalken sind schiefergrau bis blau.” Er blickte angestrengt in Richtung der Berge. “Ich mochte schon immer Falken. – Gibt es in Abhaileon eigentlich keine Beizjagd?”
“Nein, es gibt überhaupt wenige Raubvögel dort. Hauptsächlich Habichte und Milane, glaube ich.”
“Wie benimmt man sich gegenüber einem Fürsten? Du als Lord solltest das wissen.”
Béarisean dachte nach. “Das hängt ziemlich von den Fürsten ab. Generell einfach mit etwas mehr Respekt als gegenüber Lords und Rittern. Aber der Fürst von Alandas ist mehr als irgendein abhaileonischer Fürst. Er stand immer auch über dem Regenten. Es ist in etwa so, als würde jemand aus Arda dem Erzengel Michael begegnen.”

Robin brauchte etwas Zeit, um sich das vorstellen zu können. “Und du sagst, dieser Schwarze Fürst war fast genauso mächtig?” erkundigte er sich dann.
Béarisean nickte. “Ohne Hilfe aus Alandas hatten wir keine Chance gegen ihn, obwohl seine Macht innerhalb Abhaileons wohl bestimmten Beschränkungen unterlag. Genau wie das für die Macht aus Alandas gilt.”
Robin stand plötzlich auf und ging ein paar Mal auf der Terrasse auf und ab, während er das gedanklich verarbeitete.
“Was ist los?” fragte Béarisean schließlich.
Robin blieb stehen. Langsam wandte er sich Béarisean zu und sagte: “Mir scheint, dir war noch nie klar, gegen wen ich nach dieser Prophezeiung kämpfen und gewinnen soll, wenn das, was du sagst, stimmt?”
Béarisean runzelte die Stirn. “So wie es aussieht gegen diesen Barraid. Du wirst sicher noch Gelegenheit haben, bis dahin besser zu werden.”
Robin seufzte. “Dir ist es wirklich nicht klar. Nun gut. Du sagtest, es gibt innerhalb Abhaileons gewisse Beschränkungen. Vermutlich weißt du nicht welche?” Béarisean schüttelte den Kopf. 

Robin nahm seine Wanderung wieder auf. “ Wahrscheinlich sollte ich mit Hibhgawl reden. Er müsste eigentlich Bescheid wissen.”, murmelte er schließlich.
„Du und Ríochan, ihr redet über dieses Pferd, als verstünde es jedes Wort“, wunderte sich Béarisean. Ihm erschienen die Bemerkungen über das Pferd genauso rätselhaft wie die Andeutungen über Barraid.  „Sicherlich ist es ein kluges Tier von edler Rasse, aber eben doch nur ein Pferd. Sprechen kann es wohl doch nicht.“
Robin schüttelte entschieden den Kopf: „Er versteht wirklich jedes Wort, und wenn er auch nicht in unserer Sprache sprechen kann, so kann er sich doch sehr gut verständlich machen. Du verstehst nur seine Sprache nicht. Er ist nicht einfach ein Pferd, eines der Pferde, die aus dem Land des Königs selbst kommen. Sie sind nicht so an die Erde gebunden wie die Pferde in Abhaileon oder in meiner Heimat. Als seien sie aus Wind und Feuer gemacht. Es könnte gut sein, dass der goldfarbene Hengst Ríochans auch dazu gehört. Hibhgawl ist der einzige Rappe unter diesen Pferden, ein wilder stolzer Fürst unter ihnen. Er sucht sich seine Reiter prinzipiell selbst aus.“
„Du weißt eine Menge über diese Pferde. Wie kommt das, wo du Alandas gar nicht kennst? Wer hat es dir erzählt?“ wollte Béarisean wissen.
„Ich erzählte dir doch heute Morgen, dass Hibhgawl mich oft in meinen Träumen besuchte.”
„Aber das sind lediglich Träume“, meinte Béarisean. „Hast du nichts Greifbareres?“
„Vielleicht ist Traum nicht ganz das richtige Wort“, erwiderte Robin. „Das mit Hibhgawl war ganz anders. Er kam jede Nacht Er war wirklicher als manches, was am Tag geschah. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. – Aber noch etwas anderes. Ich glaube, ich weiß jetzt ...“

Die beiden waren so in das Gesprächsthema vertieft, dass sie nicht bemerkt hatten, dass während ihrer Unterhaltung jemand ins Zimmer getreten war. Als plötzlich hinter ihnen eine Stimme sagte: „Du weißt viel, Ritter Anno“, fuhr er erschreckt herum. Béarisean, der ebenfalls nicht damit gerechnet hatte, dass ihnen jemand zuhörte, sprang auf. Zu ihrer Erleichterung war es Ríochan, der dort stand. Er trug noch dieselbe Reitkleidung wie bei ihrem mittäglichen Zusammentreffen. Wie es schien, hatte er noch nicht die Zeit gefunden, sie zu wechseln.
„Verzeiht, wenn ich euch erschreckt habe“, sagte er und kam näher. „Als ich eintrat, erzählte Robin gerade von unserem Freund, dem Rapphengst. Doch ich wollte nicht unterbrechen. - Ich hoffe, die Unterbringung ist zu eurer Zufriedenheit.”
„Sie ist ausgezeichnet“, erwiderte Béarisean, der sich wieder gefasst hatte. “Das Essen war fürstlich und was mich betrifft, ist es lange her, dass ich so gut untergebracht war. Doch verzeiht mir, Ríochan, wenn ich jetzt eine neugierige Frage stelle. Ehrlich gestanden, zerbreche ich mir schon seit unserer Begegnung darüber den Kopf. Wer seid Ihr? Ich meine, welches Amt habt Ihr hier in Alandas? Ich sehe, dass Ihr ein Ritter von hohem Rang seid. Seid Ihr einer der Ratgeber des Fürsten? Wenn ja, glaubt Ihr, er wird uns morgen empfangen?“

Ríochan wirkte belustigt. Ein Lächeln spielte in seinen Augen, als er fragte: „Kannst du es nicht erraten, wer ich bin?“
„Wie sollte ich“, sagte Béarisean. „Ich weiß doch so gut wie nichts über Alandas und alle, die hier leben.“
“Aber ich weiß es”, sagte Robin. “Vor einer halben Stunde ist es mir klar geworden.” Er kam von der Terrasse wieder ganz herein, bis er vor Ríochan stand und richtete den Blick seiner strahlenden grüngrauen Augen fest auf ihn: „Ich grüße Euch, Fürst von Alandas, Statthalter des Königs in Abhaileon, Diener unsres Herrn!“ Mit diesen Worten ließ er sich auf ein Knie nieder und küsste den Ring an der rechten Hand des Fürsten. Er blickte zu ihm auf. Ríochan lächelte ihm zu und forderte ihn mit einer kaum merklichen Handbewegung auf, sich wieder zu erheben. Mit einer leichten Verbeugung entsprach Robin der Aufforderung und trat zurück.

Ríochan wandte sich Béarisean zu. Der Lord hatte dagestanden wie erstarrt, den ungläubigen Blick auf ihn gerichtet. Doch jetzt gewann er wieder an Fassung und trat vor den Fürsten. „Verzeiht, Herr“, sagte er und kniete nieder. „Mein Gehorsam gehört Euch, Gebieter über Abhaileon und Alandas.“ Er berührte den Ring mit den Lippen und verharrte in einer Verbeugung.
Der Fürst hatte ihn gewähren lassen, doch dann sagte er ernst: „Der Ehre des Statthalters und Fürsten ist genug getan. Steh auf, Béarisean, Sohn des Eoghan und Nachkomme des Colin.“
Béarisean erhob sich in einer flüssigen Bewegung und sagte immer noch ehrerbietig: „Herr, wir erbitten Euren Rat. Es geht um unseren Auftrag.“
Der Herrscher von Alandas hob abwehrend die Hand. „Mein Name ist Ríochan, und ich bin nicht weniger Diener meines Herrn als ihr“, sagte er. „Was das andere angeht, so ist morgen noch Zeit genug darüber zu sprechen. Ich werde nach euch schicken lassen. Denn ihr seid müde, und es ist schon spät. Schlaft jetzt in Frieden und Sicherheit unter dem Segen des Königs.“ Er wandte sich zum Gehen.
„Entschuldigt die Frage“, warf Robin schnell noch ein. „Ich versprach Hibhgawl am Tor, später noch zu ihm zu kommen.“
Der Fürst lächelte wieder. „Ich denke, ihr werdet in den nächsten Tagen noch Gelegenheit haben, euer Wiedersehen zu feiern, Ritter Anno. Er weiß, dass du ihn nicht vergessen hast.“

Als sie wieder allein waren, fragte Béarisean: “Woran hast du ihn erkannt?”
“Mir ist nur vorhin etwas klar geworden. Etwas, das du anscheinend als Abhaileoner nicht verstehst. Und dann war es nicht schwer sich alles zusammen zu reimen. – Erinnere dich, Barraid trug denselben Stirnreif wie Ríochan. Ich wusste auf den ersten Blick, dass das kein gewöhnlicher Stirnreif ist. Und beide haben etwas in ihrer Art. Wie soll ich es erklären? Sie sind mehr als sie erscheinen. Bei Barraid, da ist etwas Beängstigendes und dennoch Faszinierendes, bei Ríochan da ist Licht und Freude. Aber beide sind ungeheuer mächtig hinter ihrem einfachen Aussehen.”
„Ich denke, ich verstehe, was du meinst“, sagte Béarisean. „Ich habe auch etwas davon gefühlt.“
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