XIV Verwehte Spuren
Der Schnee, der über Nacht gefallen war, war nur eine dünne Schicht fein wie Staub, die der nächtliche Sturm sofort wieder zerrissen hatte und doch ein sicherer Vorbote des nun anbrechenden tiefen Winters. Immer noch hing die schwarzgraue Wolkendecke tief auf die Erde herab, schwanger mit einer neuen größeren Schneelast . Es würde wohl nicht Nachmittag werden, bevor sie herabfiel. Die Luft war jetzt bitter kalt geworden. Ein eisiger Wind fegte über das fast baumlose, sanft gewellte Land. Einige wenige Sträucher und Felsen stellten sich ihm entgegen und ein paar blattlose Birken duckten sich unter den heftigen Böen. Moose und Flechten hatten ihre leuchtenden Herbstfarben verloren. Heulend pfiff der Wind um die vereinzelten Findlinge, Boten einer lang vergangenen Eiszeit, und stürzte sich dann wie mit grausamer Freude auf die drei einsamen Reisenden, die sich durch die verlassene Landschaft bewegten.
Sie hatten ihre Mäntel fest um sich geschlagen und die Köpfe zum Schutz vor der Kälte mit Tüchern vermummt. Es war alles andere als ein perfekter Schutz. Der kalte Wind schnitt wie mit Messern durch den Stoff hindurch. Béarisean biß die Zähne zusammen; vom starken Luftzug schmerzten ihm die Ohren. Er sehnte sich nach einer Fellmütze. Und nach Handschuhen. Da er gerade schon einmal dabei war, ein wärmerer Mantel wäre auch nicht schlecht gewesen. Nicht zu vergessen Fellstiefel. Die würden sie bald noch viel bitterer nötig haben, wenn der Schnee erst einmal liegen blieb. Wenn sie nur noch eine Frist bekamen, bevor der eigentliche Winter kam! Sie waren viel zu weit im Norden.
Auch Robin atmete erleichtert auf, als Dorban, der voranritt, jetzt im Windschatten eines großen Findlinges sein Pferd zügelte. Es war eine wahre Wohltat, auch nur für einen Augenblick diesem furchtbaren Wind entronnen zu sein. Seine Finger waren steif und weiß gefroren, er konnte kaum noch die Zügel halten. Während des Rittes hatte er die Hände abwechselnd unter den Mantel gesteckt, um sie wieder etwas aufzuwärmen, aber es hatte nicht viel genutzt. Selbst der Reiz der leicht verschneiten Landschaft verlor sehr durch diese Widrigkeiten.
Dorban war ebenfalls durchfroren. Obwohl er Kleidung trug, die der Jahreszeit etwas besser angepaßt war als die der beiden Ritter, waren auch seine wärmsten Ausrüstungsgegenstände bei der Flucht zurückgeblieben. In der Hast des Aufbruchs hatte er nicht bedacht, wie nahe der Winter schon herangerückt war. Jetzt schaute er zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Weit und breit zeigte sich keine Spur von Leben. ´Es scheint, als hätten sie uns endlich verloren´, sagte er. ´Seit zwei Tagen haben wir nun nichts mehr von unseren Verfolgern bemerkt, und ich glaube nicht, daß sie unsere Spur auf diesem steinigen Boden verfolgen können. Noch dazu bei diesen Witterungsbedingungen.´
´Das ist gut so´, sagte Béarisean. ´Unsere Vorräte gehen endgültig zu Ende. Wir haben keine Zeit mehr für Umwege.´
´So angenehm es ist, den Wind eine Weile nicht zu spüren´, sagte Robin , ´denke ich, wir sollten eilends weiter. Das Wetter ist uns für den Augenblick schon Bedrohung genug. Die Temperatur ist in den letzten paar Minuten um mehrere Grad gefallen. Ich fürchte, ein Sturm kommt auf.´
Dorban blickte prüfend in die Wolken. Dann drehte er sich um, zurück nach Südosten. Dort stand am Horizont eine gewaltige schwarze Wolkenwand. ´Ihr habt recht. Es wird einen Schneesturm geben. Sehen wir zu, daß wir weiterkommen. Mit etwas Glück bringen wir noch ein paar gute Meilen zwischen uns und Cardolan und finden dort weiter südlich eine passable Deckung, bevor das Unwetter richtig losbricht.´
An diesem Tag hatten sie offenbar nicht viel Glück. Kaum daß sie wieder aufbrachen, trat zwar eine kurze Flaute ein. Dann kamen die Windböen plötzlich aus Südwest herangejagt, statt wie vorher aus dem Osten. Sie waren kaum eine halbe Stunde geritten, als eine heftige Windbö ihnen die ersten Flocken ins Gesicht trieb. Fast zusehends wurde das Schneetreiben dichter und die Böen heftiger. Es dauerte nicht lange, bevor der Schnee so dicht fiel, daß sie einander kaum noch in dem dichten Flockenwirbel ausmachen konnten, obwohl sie sich dicht zusammen hielten. Der feine Schnee war hart, wenn er ihnen ins Gesicht peitschte. Am liebsten hätte Robin die Augen geschlossen, um sie vor diesen Nadelstichen von gefrorenem Wasser zu schützen, aber wagte es nicht, aus Angst seinen Vordermann zu verlieren. Béarisean, der die Nachhut bildete, ging es keinen Deut besser, und Dorban, der voranritt, war sich binnen kurzem klar, daß nicht die Rede davon sein konnte, eine vorgegebene Richtung einzuhalten. Er gab seinem Pferd die Zügel frei und hoffte, daß der Instinkt des Tieres sie zu einem geschützteren Platz führen würde.
Sein Grauschimmel änderte sofort die Bewegungsrichtung, als ihm der Kopf freigegeben wurde. Die anderen Tiere folgten willig. Sie schienen irgendeinen Schutz zu wittern. Eine Weile lang erwarteten die drei Reiter hoffnungsfroh, binnen kurzem eine Felsrinne oder schützende Wand zu erreichen, so zielstrebig waren die Tiere losgegangen. Doch nichts zeigte sich in der weißen Hölle um sie herum. Nach einer Weile nahm Dorban enttäuscht die Zügel wieder auf. Er glaubte schon seit geraumer Zeit, weiter links etwas Schwarzes schimmern zu sehen. Warum nahm der Schimmel nicht darauf Kurs? Vielleicht eine der langgestreckten Hügelketten. Sie mußten eine Zuflucht finden. Der Schnee reichte schon hoch über die Pferdeknöchel. Am liebsten hätte Dorban halt gemacht, um nicht noch weiter von der Richtung abzukommen und orientierungslos herumzuirren. Aber sie durften jetzt nicht im Freien stehenbleiben. Immer wieder versuchte Dorban, sich nach Stellen zu orientieren, wo Felsen aufzuragen schienen und konnte sie doch nie erreichen.
Robin merkte, daß sie schon längst Weg und Ziel verloren hatten. Aber eine Verständigung war in dem tobenden Chaos einfach unmöglich. So beugte er sich nur noch tief auf den Hals seines Pferdes, darauf vertrauend, dass das Tier den andern folgen werde. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie endlich ein paar hohe Felsen erreichten, wo sie Windschutz hatten. Der Schnee reichte den Pferden bis dahin schon ein paar Fingerbreit über die Knie. Mühsam, da steif gefroren und schneeverkrustet, stiegen sie von ihren Reittieren. Dann drängten sich Menschen und Tiere zwischen den Steinen dicht zusammen, um ein wenig Wärme zu finden. Der Schneefall hörte bald darauf zu ihrer Erleichterung auf, aber der Sturm zeigte keine Anstalten, sich abzuschwächen. Bis weit in die Nacht hinein, heulte und pfiff er und wirbelte den frisch gefallenen Schnee in windhosenartigen Böen wieder hoch auf, sammelte hier Schneewehen an und entblößte dort die Felsen wieder von ihrer weißen Last.
Sie wagten es nicht, sich schlafen zu legen aus Angst zu erfrieren. Es wurde eine gräßliche Nacht. Der Kampf gegen den Schlaf wurde immer schwerer. Ab und zu nickte einer ein und wurde von den beiden anderen wieder wachgerüttelt. Bis dann, gerade als jeder von ihnen überzeugt war, es wirklich keinen Augenblick länger mehr aushalten zu können, endlich der nächste Tag einbrach. Der Wind legte sich allmählich. Der Himmel war klar und rein. Sobald die Helligkeit ausreichend war, trat Dorban, der sich in dieser Gegend am besten auskannte, aus der Felsgruppe heraus, um sich zu orientieren. Was er sah, stimmte ihn nicht gerade froh.
´Wir sind weit vom Weg abgekommen´, knurrte er, als er wieder zu den beiden anderen trat, ´und fast exakt in die falsche Richtung. Cardolan ist uns näher denn je. Nur wenige Meilen nördlich von hier liegt die Schlucht des Wildflußes mit der Carrus. Hier möchte ich keine Minute länger bleiben als unbedingt nötig.´
Auch Robin und Béarisean traten zwischen den Felsen hervor und sahen sich um. Die Berge waren seit dem Vortag um einiges näher gerückt. Das Vorgebirge mit der schroffen Carrus und der Wildflußschlucht lag nur noch wenige Kilometer entfernt. Nach Süden hin erstreckte sich die weite schneebedeckte Ebene. Auch die fernen Ausläufer des Waldes im Westen waren in der klaren Luft erkennbar. Dorban stapfte nach außen, heftig mit den Händen um sich schlagend in dem Bemühen, sich so etwas aufzuwärmen.
´Eigentlich war ich ja immer begeistert von Winter, Schnee und Kälte´, sagte Robin und blies auf seine erstarrten Finger. ´So selten, wie es in meiner Heimat schneit.’
“Das war noch gar nichts”, sagte Béarisean grimmig. “Hier gibt es manchmal ganze Wochen nichts als Schneestürme. Hoffentlich schaffen wir es wenigstens bis Cruagh.”
“Trotz allem ist es schön”, sagte Robin. “Und es gibt Möglichkeiten, sich aufzuwärmen.” Er raffte etwas Schnee zu einem groben Ball zusammen und warf ihn auf Béarisean.
“He!” begann Béarisean, aber dann bückte er sich lachend, um den Angriff erwidern zu können.
Dorban betrachtete sie stirnrunzelnd, als sie herausstürmten, sagte aber nichts. Der Kampf wurde relativ schnell unentschieden beendet, aber er hatte sie etwas aufgewärmt und die Steifigkeit aus ihnen vertrieben. Es gab nichts aufzuräumen an ihrem unbehaglichen Lagerplatz. So zogen sie nur die Gurte der Pferde wieder fest an und brachen auf. Das Vorwärtskommen erwies sich als nicht übermäßig schwierig. Zwar gab es in den Senken und Niederungen Schneeverwehungen, die vorsichtig umgangen werden mußten, doch auf den Höhen hatte der Wind den Weg wieder freigemacht. Die Temperatur lag nur noch ein, zwei Grad unter dem Gefrierpunkt, so daß es ihnen im Vergleich zum Vortag geradezu warm erschien.
´Welches Datum haben wir heute?´ fragte Robin auf einmal in die Stille hinein.
Béarisean rechnete kurz nach. ´Anfang bis Mitte Dezember´, antwortete er dann.
´Gut´, sagte Robin noch immer gut gelaunt. ´Ich will Weihnachten nicht gleich zweimal hintereinander verpassen.´ Eine kurze Weile ritt er nachdenklich weiter. Das Gelände war nicht schwierig. So holte er seine Harfe hervor, überprüfte schnell die Stimmung und fing an Winter- und Adventslieder zu singen.
Dorban war beunruhigt. Immer wieder blickte er nervös zurück Richtung Carrus. Aber Robin sang leise und der Blick reichte weit. Wer ihn hören würde, hätte sie schon lange vorher gesehen gehabt.
Béarisean ließ sich mitreißen. Er kannte einige der Lieder und sang gern. Dorban verstand nicht einmal die Sprache. Sie ritten jetzt einen langgestreckten Höhenrücken entlang. In seinem Herzen hämmerte und raste die Angst. Der Anblick des Carrusfelsens hatte diese Bedrückung in ihm ausgelöst. Er war sich mit einemmal ganz sicher, daß die Verfolger noch lange nicht abgeschüttelt waren. Ausgerechnet zur Carrus, wo Barraid ihn damals erwartet hatte ... Ruhelos suchte er mit den Augen den Horizont ab.
´Da´, rief er schließlich und wies mit dem rechten Arm nach Westsüdwest. In seiner Stimme schwang Furcht. Der Gesang verstummte jäh, die beiden Ritter stellten keine Fragen. Ihnen war sofort klar, was dieser Ruf zu bedeuten hatte. In Windeseile glitten alle drei von ihren Reittieren herab und führten sie weiter den Hügel hinab. Angespannt starrten sie alle in die Richtung, die Dorban gewiesen hatte.
´Reiter´, sagte Béarisean schließlich als erster. ´Etwa fünfzehn. Sie sind noch sehr weit entfernt. Es scheint, sie haben uns noch nicht bemerkt. Gibt es hier irgendeine Deckung?´
´Außer dem großen Stein da drüben nichts´, sagte Robin leise. Der Stimmungswechsel war abrupt. Vorbei die Heiterkeit. Jetzt spürte auch er die Beklemmung, die schon den ganzen Morgen auf Dorban lastete.
´Vielleicht sind es nur harmlose Reisende oder ein Jagdtrupp´, meinte Béarisean, während sie sich vorsichtig und langsam dem großen Felsen näherten. Seiner Stimme war anzuhören, daß er selbst nicht an das glaubte, was er da sagte.
Dorbans Kehle war trocken. ´Ich wünschte, Ihr hättet recht´, sagte er. Er sah das Ende unabwendbar näherkommen. So nahe waren ihnen die Verfolger schon tagelang nicht mehr gewesen. Die einzige Hoffnung war, daß sie tatsächlich noch nicht bemerkt worden waren und einen tüchtigen Vorsprung gewinnen konnten, ehe die Verfolger auf ihre Spuren stießen.
Sie erreichten den großen Felsen und warteten angespannt. Die Gruppe der fremden Reiter näherte sich - mit ihren schwarzen Mänteln und Rüstungen waren sie unschwer als Barraids Leute identifizierbar - und schwenkte unterhalb des Höhenzuges nach Norden ab. Alle atmeten auf.
´Das ist unsere Chance´, sagte Béarisean. ´Wenn wir uns an diese Rinne hier halten und es bis zu der Biegung dort dreihundert Meter weiter schaffen, dann sind wir außer Sichtweite. Zumindest, bis sie in einer halben Stunde die Felsen erreichen und vollen Einblick nach Süden haben. Wir können solange auf der Ostseite des Hanges reiten. Sobald wir in Deckung sind, auf nach Süden.´
“Laßt uns besser noch abwarten´, warnte Dorban.
´Sie sind jetzt schon ein gutes Stück weg´, entgegnete Béarisean, ´und wir dürfen keine Zeit verlieren. Sie bleiben noch eine ganze Weile in Sichtweite von hier aus. Fast bis sie den Hügelkamm erreichen. Es muß uns genügen, daß sie uns den Rücken zukehren. Wenn sie auf unsere Spur stoßen, solange wir noch in Sicht sind, sieht es schlecht aus. Die Senke schützt uns. Ansonsten kann ich dir nur empfehlen zu beten.´
´Großartige Empfehlung´, sagte Dorban sarkastisch.
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