IX In den Bergen
Als er hinter Béarisean in den Torbogen trat, schien es Robin, dass er plötzlich in strahlendem Licht stand. Er konnte weder das Tal vor sich sehen, noch, als er sich erstaunt umwandte, die Schlucht hinter sich. Selbst Béarisean war verschwunden. Trotz der großen Helligkeit konnte er über sich nicht den Himmel erkennen. Dort wölbte sich stattdessen ein hoher Torgang, auf dessen mit schweren Steinplatten belegten Boden er stand. Vor sich sah er einen großen, strahlenden Krieger, der ein blitzendes Schwert gezogen hatte.
Noch bevor Robin sich richtig von der Überraschung darüber erholen konnte, dass sich seine Umgebung so plötzlich verändert hatte, sagte der Wächter streng: „Mit welchem Recht begehrst du hier Einlass?“
Robin antwortete trotz seiner Verblüffung ruhig: „Ich bin ein Ritter des Königs. Ich wurde hierher gerufen.“
Der Wächter blickte ihn hart an: „Du beanspruchst einen hohen Titel“, sagte er dann. „Bist du seiner auch würdig?“
Robin musste lachen. „Nein“, sagte er, „mir scheint eher, mir fehlt so ziemlich alles, was dazu gehört. Aber irgendwie ist mir diese Aufgabe zugefallen und nun versuche ich mein Bestes. Ist dies hier jetzt Alandas?“
Der Wächter schüttelte den Kopf. „Alandas liegt hinter den Bergen. Du durchschreitest gerade erst das Tor zu seiner Grenze. Aber du sollst passieren, Ritter des Königs.“
„Wo ist mein Begleiter Béarisean? Wir traten fast gleichzeitig durch den Torbogen.“
„Was du hier siehst, hat nur mit dir zu tun. Dies ist Gleann Fhírinne, du begegnest der Wahrheit über dich. Er begegnet der Wahrheit über sich.“
„Meine Wahrheit ist also, dass ich ein Ritter des Königs bin“, sagte Robin. „Das tut gut zu wissen.“
„Deine Wahrheit ist auch, dass du voller Zweifel bist und dich auf das Urteil anderer verlässt. Aber du hast das meine gehört. Geh und vergiss deine Waffen nicht.“ Er drehte sich um und ging davon.
„Welche Waffen kann er meinen?“, dachte Robin und wollte schon so weitergehen. Aber dann erinnerte er sich, dass hier nur die Wahrheit gesprochen werde. Also musste es Waffen geben. Er sah sich um und entdeckte einen leichten Rundschild mit einem Löwenemblem, einen Schwertgürtel mit einem Schwert, dessen Knauf ein Rubin zierte und einen silberglänzenden Brustpanzer, auf dem derselbe Löwe, der auf dem Schild war, in Gold eingelegt war. Er lächelte: „Ein Rubinschwert, jetzt fehlt mir nur noch mein schwarzes Pferd. Er sah sich um, aber es war kein Pferd zu sehen. Das enttäuschte ihn, doch als er wieder auf das Schwert blickte, verflog die Enttäuschung. Er zog es vorsichtig ein Stück aus der Scheide, und Licht blitzte auf dem Stahl. Er zog es ganz heraus und bewegte es hin und her. „Möge ich es stets zu deiner Ehre ziehen, mein König“, sagte er. Dann legte er die Ausrüstung an und schritt durch den Torbogen. Wieder war es als durchquere er einen Vorhang aus Licht. Aber vor sich sah er jetzt wieder den Drachen, der ihm aufmerksam entgegenblickte.
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Béarisean blieb verwirrt stehen. Plötzlich hatte sich die Welt um ihn verändert. Auch er selbst war verändert. Er trug jetzt einen silbernen Brustpanzer mit einem stilisierten goldenen Adler darauf. Ein Schild hing ihm auf dem Rücken und ein prächtiges Schwert an seiner linken Seite. Ein Saphir blitzte auf seinem Knauf. Er betrachtete den Schild näher, der gleiche Adler, weiß auf blau. Er musste lachen. „Das heißt, ich werde für Alandas stehen, wie ich es mir wünschte.“
Er sah sich wieder um. Robin war noch immer nicht zu sehen. Um ihn herum lag nur eine weite Ebene. Der Himmel war ein gleichmäßiges Grau ohne die Andeutung einer Sonne. Der Horizont war überall gleich leer. Jede Richtung schien gleich. War das Alandas? Er ging ziellos ein paar Schritte.
Plötzlich erhaschte sein Auge eine Bewegung. Er drehte sich in die entsprechende Richtung. Aber da war nichts. Wieder ging er ein paar Schritte und das gleiche wiederholte sich. Das Licht wurde allmählich dämmeriger. Er glaubte Stimmen zu hören. Jemand rief seinen Namen. Er lauschte. Die Stimme war ihm bekannt. Rilan? Es hörte sich an wie Rilan damals vor langer Zeit. Er lief in die Richtung, aus der die Stimme zu kommen schien, aber es wurde jetzt schneller dunkler. Schließlich wurde das Licht so schlecht, dass er nicht mehr sah, wohin er ging, und er stolperte. Er hörte ein Lachen. Das war nicht mehr Rilans Stimme. Das war etwas Feindseliges. Etwas näherte sich dort im Dunkeln. Seine Hand glitt auf den Schwertknauf. Sofort fühlte er sich ruhiger. Langsam ließ er das Schwert herausgleiten und vergaß dabei das Dunkel. Der Stahl blitzte wie im hellen Sonnenlicht und Freude erfüllte sein Herz. „Ehre dir, mein König“, sagte er. Und als er einen Schritt weiterging, sah er wieder den Talkessel von Gleann Fhírinne vor sich.
Er ließ das Schwert zurück in die Scheide gleiten und blickte nach rechts. Robin war an seiner Seite, und auch er trug eine silberne Rüstung, Schild und Schwert. Er blickte lächelnd zu ihm herüber. Dann gingen sie weiter auf den Drachen zu.
Das Ungeheuer sah ihnen abwartend entgegen. Nur den Kopf wandte es ihnen zu. Es machte jedoch keinen Versuch, sie anzugreifen oder vor ihnen zu flüchten. Sie konnten sein leise schnaubendes Atmen hören und das Geräusch ihrer eigenen Schritte auf dem Kiesgeröll des Talbodens. Wenn Durlong sie noch beobachtete, war nichts von ihm zu hören. Vielleicht war er schon lange gegangen, denn sie hatten ja einige Zeit gebraucht, um durch den Torbogen zu kommen.
Die Nachmittagshitze brütete erbarmungslos auf dem Tal. Kein Lufthauch wehte. „Vielleicht sollte ich mich fürchten“ dachte Robin, „aber das ist alles so unwirklich wie ein Traum. Ich fühle mich so sicher, als hätte ich diese Schritte hier zwischen den Felsen schon oft geprobt. Der Drache sieht immer noch wunderhübsch aus. Selbst aus dieser geringen Entfernung. Sollten Ungeheuer nicht eigentlich hässlich sein?“
Ein leise klirrendes Geräusch ließ ihn zur Seite blicken. Béarisean hatte wieder sein Schwert gezogen, die Klinge blitzte in der Sonne. Bei dem Anblick der strahlenden Waffe fühlte Robin Freude in sich aufklingen. Das Leuchten des blanken Schwertblattes war wie ein Lied. Er tat es dem Freund gleich und zog sein Schwert. „Ehre dem König“, sagte er wieder leise, es kam ganz unwillkürlich auf seine und Béariseans Lippen. Sie hielten die Waffen jedoch noch nicht kampfbereit, sondern gesenkt. Wenige Schritte vor dem Drachen blieben sie stehen. Ritter und Drache betrachteten sich abschätzend. Robin bemerkte, dass die Augen des Drachen bernsteinfarben mit leuchtenden gelben Funken waren. Selbst verspürte er jedenfalls keine Lust, den Drachen anzugreifen. Dieses "Ungeheuer" war so wunderschön. Es erschien ihm wie ein Verbrechen, es töten und verletzen zu wollen. Auch Béarisean schien sich entschlossen zu haben, mit einem Angriff zu warten.
Dem Drachen wurde das Abwarten zuerst langweilig. Doch gebärdete er sich nicht etwa wild, wie Robin es von einem solchen Tier erwartet hätte. Er fauchte nicht. Er schlug nicht mit seinen großen krallenbewehrten Tatzen oder dem starken Schwanz. Er beugte lediglich den Kopf auf dem langen Hals zurück, atmete schnaubend ein und blies seine Feuerstrahlen auf die beiden Krieger vor ihm. „Ich sollte jetzt eigentlich Angst haben“, dachte Robin wieder, aber er konnte keine Furcht in sich fühlen. Es schien alles wie ein Spiel. Sie hoben ihre Schilde dem Strahl entgegen. Das Feuer teilte sich daran wie Wasser. Robin sah die Luft um sich flimmern, doch er selbst wurde nicht berührt von der Hitze. Der Drache schien verblüfft. Es war, als werde sein Blick noch aufmerksamer. Unsicher machte er einen Schritt zurück. Béarisean hob sein Schwert und trat weiter vor. Ärgerlich fauchte der Drache und blies wieder Feuer, doch ohne Erfolg. Nun erhob auch Robin sein Schwert und trat vor.
Der Drache zögerte erneut. Die beiden Männer griffen nicht an. Dann geschah etwas Überraschendes. Eine tiefe bronzene Stimme sagte: „Ihr steht unter sehr mächtigem Schutz. Ich muss euch passieren lassen.
Robin und Béarisean tauschten erstaunte Blicke. Es war der Drache, der gesprochen hatte. Da war kein Zweifel möglich. Béarisean war misstrauisch. „Bei uns heißt es, alle Drachen sind böse. Wie sollten wir deinen Worten trauen?“
„Ich töte die, die sich in meine Macht begeben“, sagte der Drache ruhig. „So ist das Gesetz.“
„Komm“, sagte Robin bestimmt. „Ich glaube, er spricht die Wahrheit. Wir sollten ihm trauen. Er ist nicht böse, nur sehr gefährlich. Vergiss nicht, Béarisean, dies ist Gleann Fhírinne.“
Béarisean schwieg und schaute seinen Freund nachdenklich an. Er musterte noch einmal gründlich die steilen Wände des Talkessels - dort führte kein Weg hinaus. Dann nickte er. Es blieb ihnen sowieso keine andere Wahl. Zurück konnten sie nicht. Entweder glaubten sie dem Drachen oder sie mussten ihn töten. So wandten sie dem Ungeheuer den Rücken zu und schritten auf den dunklen Höhleneingang zu.
Die Öffnung in der Felswand war groß und ließ viel Licht in die große Halle hinter dem Eingang fallen. Dennoch dauerte es eine gewisse Zeit, bis sich ihre Augen vom grellen Licht an das Halbdunkel gewöhnen konnten. Robin fiel es zuerst auf: weiter hinten, wo es noch dunkler hätte sein sollen, flackerte Licht wie von Flammen. Sie gingen dem Schein nach, und dort, wo sich die weite Halle zu einem schmalen Gang verengte, brannte ein Lagerfeuer. Wer konnte es angezündet haben? Der Drache würde es doch gar nicht benötigen. Es war niemand zu sehen. Neben dem Gang lagen Bündel von Fackeln. Für wen? Niemand war da, der die Frage hätte beantworten können. Sie beschlossen, ein Bündel davon mitzunehmen, denn sie wussten nicht, wohin diese Höhlenwanderung noch führen und wie lange sie dauern würde.
Der Gang verlief mehrere Minuten lang gerade und ohne Abzweigungen ins Dunkel des Berges hinein. Dann traten sie in eine weite Halle und hielten verblüfft inne. Hier am Ende des Ganges fanden sie den Drachenhort. Robin nahm zumindest an, dass es sich darum handelte. Der Boden der Felshöhle fiel zu einer Wasserfläche hin ab, die den ganzen hinteren Teil der Höhle einzunehmen schien. Die Edelsteine, die Schmuckstücke und das Gold waren achtlos über den ganzen Uferstreifen verstreut worden. Sie bedeckten den Strand des Höhlensees, wie anderswo Kies am Meer lag. Béarisean bückte sich, hob eine Handvoll bunter Steine auf und betrachtete sie. Sie glitzerten und funkelten im Licht der Fackeln. Genau konnte er sie in dem Zwielicht nicht identifizieren, doch es waren wohl Diamanten, Smaragde, Saphire, Topase, Rubine - alles, was es nur geben mochte an edlen Steinen. In allen Farben und Formen funkelten sie. Lose gebrochene Steine, geschliffene, gefasste, zu Schmuckstücken verarbeitete.
„Wie lange es wohl gedauert hat, solch einen Reichtum anzusammeln?“ sagte er staunend. “Die Steine sind fast alle sehr groß und rein. Die, die ich hier in der Hand halte, würden ausreichen, eine kleine Lordschaft zu kaufen. Was dort vor uns liegt, würde viele, viele Truhen füllen. Schade, dass wir sowieso nichts damit anfangen können.“ Er ließ die Steine wieder auf den Boden fallen. „Komm, lass uns nachsehen, ob es einen Weg gibt, der uns weiterführt. Ich versuche es rechts herum.“
Sie trennten sich und gingen in entgegengesetzten Richtungen an den Wänden der großen Höhle entlang. Die Schwerter hatten sie schon lange wieder in die Scheiden gesteckt. Die Schilde trugen sie auf den Rücken geworfen. Robin entdeckte mehrere Durchgänge und Öffnungen in der Wand der Höhle, doch alle endeten schon nach wenigen Metern vor festem Fels. Manchmal bückte er sich, um ein paar der Juwelen aufzuheben und durch die Finger gleiten zu lassen. Es war ein aufregendes Gefühl, solche Schätze in der Hand zu halten. Schließlich erreichte er das Seeufer. Nein, es gab keinen Weg dort entlang. Aus dem Wasser stieg eine steile Wand auf. Er betrachtete das Wasser. Es war sehr klar. Trotz des schwachen Lichts seiner Fackel konnte er bis auf den Grund sehen. Der Boden des Höhlensees war von weißem Sand bedeckt. An manchen Stellen schien das Wasser goldene oder bunte Funken zu sprühen. Das waren die Stellen, wo unter der Wasseroberfläche Stücke aus dem Schatz lagen. Auch Perlen schimmerten aus dem Wasser heraus. Davon hatte er auf dem Strand bisher keine liegen sehen. Jemand war so klug gewesen, sie im Wasser zu lagern, wo sie nichts an ihrer Schönheit verloren.
Robin kletterte auf einen Felsen, der ein wenig in die Wasserfläche hineinragte. Er nahm einen Saphir, beugte sich über den Rand des Felsens und ließ den Edelstein ins Wasser fallen. Obwohl er nur knappe drei Meter vom Ufer entfernt war und auch hier der Grund des Sees gut zu erkennen war, brauchte der Stein relativ lange, bis er den Boden erreicht hatte. Das Wasser musste sehr tief sein.
„Robin“, das war Béarisean. Seine Stimme klang fern und hallte. „Komm, ich habe den Weg gefunden!“
„Ich komme“, rief Robin. Er sprang etwas zu eilig vom Felsen herunter auf den Strand und stolperte. Um den Sturz abzufangen, stützte er sich mit einer Hand auf, während er mit der anderen weiterhin die Fackel hielt. Unter dem Sand spürte er einen länglichen harten Gegenstand. Neugierig zog er ihn heraus. Es war ein Dolch, dessen Griff dicht an dicht mit Rubinen besetzt war. Die Klinge war makellos, der Griff lag sicher in der Hand. Als wäre er für ihn gefertigt. Er passte gut zu dem Schwert, und er beschloss, ihn mitzunehmen.
„Sieh, was ich gefunden habe!“ rief er, sobald er Béarisean erreichte.
Sein Freund betrachtete die Waffe. „Hübsche Arbeit. Du willst ihn doch nicht etwa mitnehmen?“
„Warum nicht? Er ist mir richtig in die Hand geglitten, als ich gestolpert bin. So, als sollte ich ihn finden. Er passt zu dem Schwert.“
Béarisean schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es wäre nicht richtig, irgendetwas von hier mitzunehmen. Es heißt, Drachen belegen ihre Schätze mit einem Fluch. Ich traue unserem Exemplar da draußen nicht. - Wir sollten zusehen, dass wir weiterkommen und den Ausgang finden, bevor unsere Fackeln zu Ende gehen.“ Er drehte sich um und ging auf das Ende des Sees zu. Robin seufzte, aber Béarisean hatte Recht. Er legte mit bedauerndem Blick die Waffe zurück zu den anderen Schätzen und sagte sich zum Trost, dass der Dolch wohl bei den Waffen unter dem Torbogen gewesen wäre, wenn er ihn wirklich hätte haben sollen. Und vielleicht würde es sein, wie vorher: Die Waffen Barraids hatten sie abgelehnt und bessere erhalten.
Béariseans Bedenken bezüglich der Fackeln waren etwas übertrieben. Ihre ersten waren noch ein gutes Stück davon entfernt auszugehen. Robin sagte sich, dass der Weg durch den Berg unmöglich sehr lange dauern könne, wenn das ein früher oft genutzter Weg nach Alandas war.
Am rechten Seeufer begann ein schmaler aber gut begehbarer Pfad. Er schlängelte sich entlang eines Felssimses. Manchmal mussten sie vorsichtig über einen Felsvorsprung klettern oder an schmaleren Stellen vorbeibalancieren. Doch im Großen und Ganzen machte es keine Mühe voranzukommen. Der See war ausgedehnter, als sie zunächst erwartet hatten. Er wand sich um immer wieder neue Biegungen der Höhle. Sie folgten dem Fußweg fast zwei Stunden lang, bevor sie endlich das andere Ende des unterirdischen Gewässers erreichten. Die Höhle war dort sehr viel schmaler als am Ausgangspunkt ihrer Wanderung.
Robin genoss den Weg durch die unterirdische Welt. Er hatte schon immer gerne Höhlen besucht und oft gewünscht, er hätte selbst einmal Gelegenheit, eine zu erforschen oder doch wenigstens, sie allein zu besuchen. Die Fackeln spiegelten sich im Wasser und an den feuchten Wänden. Manchmal war es, als sprühten viele Funken um sie herum. Alles war ganz still. Nur ihre Schritte waren zu hören und das Tropfen von Wasser.
Der See endete an einem kleinen Kiesstrand. Ein Bach mündete hier in das stille Wasser. Sein leises Murmeln hatten sie schon von weitem hören können. Der jetzt noch besser erkennbare und breitere Pfad folgte dem Wasserlauf bergan. Dieser Teil des Höhlensystems war verzweigter. Es spalteten sich öfters seitliche Gänge ab, aber der Hauptgang blieb unverkennbar. Hier gab es auch Tropfsteine. Stalagtiten und Stalagmiten wuchsen von Boden und Decke. Die Ritter ließen sich nicht vom Hauptpfad entlang des Wasserlaufes abbringen. Nur manchmal bewunderten sie besonders schöne Tropfsteinbildungen in Seitenhöhlen und -gängen. Schließlich führte sie der Weg durch einen Felsspalt ins Freie.
Als ihre Augen sich wieder an das helle Licht gewöhnt hatten, sahen sie, dass sie sich auf dem Boden einer schmalen Schlucht befanden. Im Frühjahr, wenn der Bach durch die Schneeschmelze angeschwollen war, füllte er wohl den ganzen Talboden aus, aber jetzt im Spätjahr trat zwischen den Geröllen der Talsohle nur ein schmales Rinnsal zutage, das ein Stück weiter bergauf noch ganz im Kies versickert war.
„Wo sind wir jetzt?“ fragte Robin.
„Wenn ich das wüsste“, sagte Béarisean. „Irgendwo in den Bergen. Es scheint, wir haben auch keine große Auswahl in Bezug auf unseren Weg. Die einzige gangbare Möglichkeit führt das Bachbett hinauf. Aber bevor wir das in Angriff nehmen, sollten wir die Gelegenheit nutzen, etwas zu trinken und unsere Wasserflaschen zu füllen. Es ist heute ungewöhnlich heiß für einen Tag spät im Oktober. Dann sollten wir zusehen, dass wir so weit wie möglich kommen, bevor es dunkel wird. Wir dürften noch etwa drei Stunden Zeit haben, dem Stand der Sonne nach zu schließen. Seltsam, ich glaubte, der Weg durch die Höhlen habe länger gedauert.
Das Klettern erwies sich als sehr mühselig. Das Geröll gab unter jedem ihrer Schritte nach und rutschte nach unten. An anderen Stellen mussten sie kleine Steilstufen überwinden. Die Steigung schien fast kein Ende mehr zu nehmen. Höher und immer höher klommen sie in dem trockenen Bachbett. Schließlich endete die Schlucht an einer kleinen grasbewachsenen Hochfläche. Robin kämpfte sich den letzten Steilanstieg des trockenen Bachbettes hinauf und ließ sich auf Gras und Blumen fallen.
„Warum hat mir nur nie jemand erzählt, was für eine elendigliche Plackerei es ist, einen Schild mit sich herumzuschleppen?“ stöhnte er. „Das Schwert ist mir auch dauernd im Weg und rate mal, wo ich den Panzer hinwünsche. Irgendwie habe ich mir das Rittersein etwas anders vorgestellt.“
„Ich hatte diese kleinen Probleme in den letzten Jahren auch schon vergessen.“ Béarisean wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Was hältst du davon, für heute Schluss zu machen und ein nettes Plätzchen zum Übernachten zu suchen?“
„Hm“, Robin richtete sich etwas auf. „Was hältst du von der Felsgruppe da drüben bei den Zwergkiefern? Dort scheint sogar eine kleine Quelle zu entspringen.“
„Ich denke, ich würde fast jeden Vorschlag annehmen“, sagte Béarisean und ließ sich neben Robin fallen. „Heute kämen wir ohnehin nicht mehr weit.“
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