Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 11.2


Endlich rückte der große Tag der Versammlung heran. In der Stadt wimmelte es von Menschen wie sonst nur an großen Festtagen. Gerüchte waren durchgesickert, dass über eine Heerschau beraten werden sollte und dass endlich ein großer Schlag gegen die Banditen vorbereitet werde. Diese Aussicht traf nicht auf ungeteilte Begeisterung. Die Städter selbst waren nicht so sehr mit den Gefahren auf den Landstraßen konfrontiert. Viele von ihnen hatten keinen Anlass, sich weit über die Stadtgrenzen hinaus von ihrem Wohnsitz zu entfernen. Eine Heerschau oder gar die eigene etwaige Einberufung würde ihnen nur Scherereien bereiten, ihre eigene Sicherheit augenscheinlich mehr in Frage stellen als vergrößern. Einzelne versuchten zu Demonstrationen aufzurufen, trafen aber ebenfalls auf Ablehnung. Die Garden hatten die Situation ganz unter Kontrolle.
Estohar, dessen Selbstbewusstsein seit der Begegnung mit den beiden Rittern um einiges gewachsen war, hatte bekannt geben lassen, dass gegen etwaige Störversuche während der Beratungen energisch vorgegangen werden würde. Und der Ratsvorsitzende sorgte dafür, dass seine Ankündigungen ernst genommen wurden. Er hatte die Patrouillen verstärken lassen und die Aufsicht darüber Ranalf und Neill übertragen. Colin und Ciaran waren mit den Sicherheitsvorkehrungen für die Burg selbst betraut worden. Das war eine Aufgabenverteilung, die Ciaran sehr recht war. So hatte er die Möglichkeit, die Beratungen zum Teil selbst mitzuverfolgen und, was er aufgrund seiner Pflichten nicht mithören konnte, schnell zu erfahren.

Im Laufe des Vormittages diskutierten die Versammelten heftig über die Frage der Notwendigkeit einer Heerschau. Die finanziellen Belastungen und der Unmut der Stadt- und Landbevölkerung, die ein solches Unternehmen nach sich ziehen würden, konkurrierte mit dem vielseitig geäußerten Wunsch, dem Banditenunwesen endlich einen heftigen Schlag zu versetzen und der Tatsache, dass eine solche Musterung, die früher regelmäßig alle zwölf Jahre stattgefunden hatte, schon seit einigen Jahren überfällig war. Es zeichnete sich ab, dass die Befürworter des militärischen Unternehmens (die Mehrheit der Fürsten, Estohars Fraktion und etliche andere) die Oberhand gewinnen würden. Besonders den Fürsten brannte das Räuberproblem unter den Nägeln. Einige hatten bedrohliche Gerüchte gehört, dass in Roscrea, dem Herrschaftsgebiet des Fürsten Ros, schon fast ein Belagerungszustand eingetreten war und kaum noch von einer Regierung des Landes die Rede sein konnte. Die Gerüchte mochten übertrieben sein, aber es war eine Tatsache, dass sie alle kaum dazu imstande waren, auch nur die Hauptstraßen sicher zu halten. Zudem schien, dass es sich bei den Räubern nicht mehr um vereinzelte, selbständig agierende Banden handelte. Ein weiteres Gerücht wollte wissen, dass das Hauptquartier des Oberbandenführers im Süden lag, nicht weit von der Grenze der Provinz Roscrea.

In der Mittagspause beraumte Estohar für seine Freunde und Vertrauten eine Privatberatung an. Ciaran hatte das Glück, dabei zu sein. „Es sieht ganz so aus, als ob wir die Abstimmung am Nachmittag gewinnen würden“, eröffnete Estohar die Sitzung. „Und zwar eindeutiger, als ich anfangs zu hoffen wagte. Nun gibt es jedoch ein Problem, das ich noch nicht vor der ganzen Versammlung diskutieren möchte. Auch wenn sich abzuzeichnen scheint, dass wir als Truppenübung einen Angriff gegen das Hauptquartier dieses Restacs durchführen sollten - falls es sich herausstellt, dass dieses wirklich existiert - , so sind wir dennoch weit davon entfernt, über einen Kriegszug zu reden. Für den Fall des Krieges stellt sich jedoch auch die Frage nach geeigneten Heerführern.“
„Das Oberkommando wirst natürlich du übernehmen“, rief Padraig. „Kann daran denn überhaupt ein Zweifel bestehen? Du bist doch auch deshalb zum Vorsitzenden des Rates gewählt worden, weil du der beste und erfolgreichste Kämpfer dieses ganzen Landes warst.“
„Warst „, wiederholte Estohar mit Nachdruck. „Genau das ist der springende Punkt. Ich mag noch immer ein guter Stratege sein, aber ich bin zu alt, um wirklich der beste Kandidat für diese Aufgabe sein zu können. Wir brauchen jüngere fähige Leute im Kommando. Ich dachte unter anderem an Halis von Cerath. Man sagt, unter ihrem Kommando hätten die Reiter von Imreach eine noch nie da gewesene Schlagkraft erreicht. Und sie waren von jeher berühmt.“ Alle nickten und stimmten zu. Estohar fuhr fort: „Auch zwei, drei der anderen Fürsten kommen für so ein Amt in Frage. Alle von ihnen werden wohl selbst zur Heerschau kommen und sind vermutlich bereit, wenn nicht gar bestrebt, solch ein Angebot anzunehmen. Jedoch gibt es einen weiteren mutigen Kämpfer, in dessen Hände ich eventuell sogar das Oberkommando legen würde. Es ist Lord Dorban von Tairg. Es heißt, ihm sei das schwierige Kunststück so gut wie gelungen, die Lords von Dalinie mit friedlichen Mitteln zu einen. Man sagt ihm auch großes Geschick im Kampf gegen die Banditen nach. Einige der Ratsmitglieder denken schon darüber nach, ob wir wohl bald wieder einen Fürsten von Dalinie einsetzen können. Wir wissen jedoch sehr wenig über seine Person selbst. Daher wäre es notwendig, dass einer von uns ihn auf Tairg - oder wo er sich gerade aufhalten mag - aufsucht und mit ihm spricht.”

“Aber wer von uns sollte das tun?“ fuhr er fort. „Derjenige, der diesen Auftrag übernimmt, müsste versuchen, sich allein und auf eigene Faust nach Tairg durchzuschlagen. Die meisten von uns sind durch ihre Aufgaben und Verpflichtungen gebunden. Ich habe bereits alle gefragt, die mir dafür in Frage zu kommen schienen, und keinem von ihnen war es möglich, sich dafür frei zu machen. Ich hoffe auf eure Vorschläge.” Alle schwiegen verlegen.
„Ich bin bereit zu gehen“, brach Ciaran mit fester Stimme das Schweigen und stand auf. Das jetzt war seine Chance, und er wollte sie nicht vorübergehen lassen. Alle schauten ihn überrascht an. Manche nickten zustimmend. Der Vorschlag war sinnvoll. Ein Hauptmann der Garde schien keine schlechte Wahl. Noch dazu war er Dalinianer.
Estohar runzelte flüchtig die Stirn und sagte dann mit wohlwollender Stimme: “Das ist ein lobenswertes Angebot, Hauptmann Ciaran. Wir werden es bedenken. Dennoch halte ich es für richtiger, Euch nicht von hier wegzuschicken.“

Alle wandten sich wieder der Diskussion zu, wer wohl noch für diesen Auftrag in Frage komme. In Ciaran zerbrach etwas, als er sich wieder setzte. Estohars Worte hatten freundlich geklungen, aber Ciaran verstand nur zu gut das Ungesagte. Die Botschaft würde ihm nicht anvertraut werden. Er wusste, dass Estohar ihn nicht gehen lassen würde. Da brauchte er nicht weiter zuzuhören. Mit Anstrengung kämpfte er die aufsteigenden Emotionen nieder und zwang sich, weiter zuzuhören, ohne zu verraten, welcher Sturm in seinem Inneren tobte. Tatsächlich, sein Name fiel gar nicht mehr.

Mitten hinein in diese Debatte kam einer der Wachsoldaten, der meldete, ein Bote aus Dalinie verlange den Vorsitzenden des Rates zu sprechen. Er behaupte, von Dorban von Tairg zu kommen.  „Lass ihn sogleich hierher bringen“, befahl Estohar. „Wir alle wollen hören, was er zu sagen hat.“
Der Bote war ein grauhaariger alter Krieger, der sich Durlong nannte und angab, Waffenmeister des Lords von Tairg zu sein. Er überreichte Estohar einen Brief, den dieser eilig überflog. Als er zu Ende gelesen hatte, sagte er: „Meine Damen und Herren, diesen Boten scheint uns der Himmel gerade zur rechten Stunde zu schicken. Der Lord von Tairg warnt uns hier vor einem selbsternannten Fürsten Barraid, der Schloss Carraig wiederaufgebaut hat und dort am Rande der Nordberge Truppen zusammenzieht. Ihr wisst alle, was das zu bedeuten hat. Carraig! Dieser Brief muss sofort dem Rat vorgelegt werden. Außerdem erwähnt Lord Dorban, dass jener Barraid vergeblich versuchte, zwei Männer gefangen zu nehmen, die sich Ritter des Königs nannten. Leider äußert er sich zu diesen Vorgängen nicht ausführlicher.“ Die letzte Mitteilung riss sogar Ciaran für kurze Zeit aus seinen Grübeleien.

„Habt auch Ihr diese beiden Ritter gesehen?“, fragte Estohar den Boten.
Durlong hatte diese Frage erwartet und sich bereits eine Antwort zurechtgelegt, die Dorban und ihn selbst nicht belasten würde. „Ich habe sie als Gefangene Fürst Barraids gesehen“, sagte er. „Sie sahen recht unauffällig aus. Sie sollen jedoch auf sehr mysteriöse Weise entkommen sein, obwohl sie scharf bewacht wurden. Genaueres weiß ich nicht.“
„Ihre Namen!“ rief Kennard eifrig. Er war immer noch nicht voll und ganz von Estohars Bericht über dessen Begegnung mit den beiden Rittern überzeugt. Auch wenn er es nicht gewagt hatte, das offen zu sagen.
Durlong tat, als denke er angestrengt nach: „Ich glaube, der eine nannte sich Béarisean und der andere, ja, das war Anno von Arda.“ Estohar lächelte. Kennard bemerkte es und blickte verlegen zur Seite.

Die Sitzungspause der Versammlung näherte sich nun ihrem Ende. Die Nachrichten, die Dorbans Bote brachte, erregten großes Aufsehen. Nur eine verschwindende Minderheit stellte sich jetzt noch gegen den Vorschlag, eine Heerschau einzuberufen. Estohar nutzte die günstige Gelegenheit, um vorzuschlagen, Dorban, an dessen Integrität er nun keine Zweifel mehr hatte, als einen der künftigen Heerführer zu berufen. Der Vorschlag fand bereits nach kurzer Beratung Zustimmung. Der Vorsitzende wurde beauftragt, den Boten mit einem entsprechenden Schreiben zurück zum Lord von Tairg zu schicken. Ein Ausschuss wurde gewählt, der bis zum nächsten Tag Entwürfe für das Vorgehen im Falle eines Krieges erarbeiten sollte, und die Sitzung dieses Tages wurde vorzeitig beendet.

Ciaran stand den ganzen Nachmittag mehr schlecht als recht durch. Er fühlte sich wie am Boden zerstört, riss sich aber zusammen, bis sein Dienst beendet war. Er wusste nur noch eines: jetzt wollte er allein sein. Er nahm sich gerade genug Zeit, um die Uniform gegen Alltagskleidung zu vertauschen, dann eilte er in den Stall und sattelte sein Pferd. Als er den Braunen in den Hof führte, begegnete ihm Neill.
„Nanu“, sagte der Kamerad, „wo willst du denn jetzt noch hin?  Hast du noch nicht genug von der Arbeit? Du bist doch schon den ganzen Tag durch die Burg gehetzt, nach allem was Colin erzählte.“
„Es ist nichts wirklich Wichtiges“, erwiderte Ciaran und erstaunt sah Neill den tiefen Schmerz in seinem Blick. „Lass mich einfach in Ruhe.“
„Was ist los, Ciaran?“ fragte Neill besorgt, doch der Kamerad schwang sich ohne zu antworten auf sein Pferd und galoppierte davon. Er benutzte ein Ausfalltor, das direkt in den Wald hineinführte. Sein Reittier verlangsamte automatisch seinen Schritt, als sie unter die ersten Bäume gelangten. Aber Ciaran trieb seinen Braunen an, so schnell zu galoppieren, wie es die Bäume erlaubten. Er duckte sich tief auf den Pferdehals hinab, um den tief stehenden Ästen der Buchen auszuweichen und achtete nicht darauf, wohin ihn der Ritt führte. Er wusste nur, dass er fort wollte, fort von allen, die ihn kannten.

Ein Gefühl der Trostlosigkeit drohte ihn zu überwältigen. Noch hielt er stand. Aber die nachtschwarze Verzweiflung erfüllte sein ganzes Denken; sie pochte und hämmerte in seinen Gedanken. Es sollte zumindest keine Zeugen für seinen Zusammenbruch geben. Sie würden ihn ohnehin nicht verstehen, all die anderen, und ihr ratloses Mitleid, ihre verständnislosen Blicke, die fürchtete er mehr als alles andere.
Wie lange er so dahinritt, wusste er nicht. Er richtete sich auf, als der keuchende Braune seinen Schritt verlangsamte. Sich umblickend, sah er, dass vor ihm eine kleine Lichtung mit einem Weiher lag. Er hielt das Pferd an, auf dessen Flanken sich als Folge des wilden Ritts schon Schaumflocken gebildet hatten. Es war ein idyllischer Platz. Die Nachmittagssonne schien hell herab. Ein Buchfink sang in den Bäumen am anderen Waldrand. Doch Ciaran hatte keinen Sinn dafür. Vorsichtig spähend umritt er die Lichtung, konnte aber keine menschlichen Spuren entdecken. Er stieg vom Pferd und ließ es achtlos laufen. Erst dann erlaubte er dem Schmerz, ganz in sein Bewusstsein vorzudringen.
Wo er stand, ließ er sich zu Boden fallen, vergrub das Gesicht im Gras und weinte. Nur ein paar Minuten wollte er den Tränen freien Lauf lassen, dann versuchte er, die Herrschaft über sich wiederzugewinnen. Jedes Mal wenn er dachte, es endlich geschafft zu haben, kam ein neues Schluchzen hoch, und er musste von vorne anfangen, sich zu überzeugen, dass es unsinnig war zu weinen.

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