Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 2.3


Béarisean war froh zurückzukommen. Seine ardanische Kleidung war feucht bis auf die Haut. Es war nicht der geeignetste Tag für einen ausgedehnten Spaziergang gewesen. Er fühlte sich jetzt wieder Herr seiner Gefühle.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, als Isabell in Regenkleidung und mit einem Schirm in der Hand vor ihm stand. “Kurt hat angerufen”, sagte sie aufgeregt. “Ihr sollt sofort zur Quelle kommen. Robin ist schon fort.”
Einen  Augenblick lang starrte er sie nur erschrocken an. “Wie lange ist es her? “ fragte er dann.
“Etwa eine Viertelstunde.”
“Ich brauche eine Minute”, sagte Béarisean. Er stürzte in sein Zimmer und zwang sich zu mehr Ruhe. Die Satteltaschen waren immer gepackt mit dem Notwendigsten. Er musste nur schnell die Kleidung wechseln und seinen Umhang überwerfen.
Isabell musste nicht lange warten, bis er wiederkam. “Ich begleite dich bis zur Quelle”, sagte sie, bevor er den Mund aufmachen konnte.
Béarisean nickte. Es war keine Zeit für einen Streit. “Wir nehmen einen Weg, auf dem wir erst gesehen werden, kurz bevor wir dort sind”, sagte er.

*****

Kurt sah auf, nachdem er sich unter den Zweigen der Weide hervorgeduckt hatte. Es war noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Der Autofahrer war inzwischen auch ausgestiegen. Es war ein breitschultriger Mann, der jetzt schnell auf sie zukam. Aber dort, keine zwanzig Meter entfernt, stand ein üblerer Gegner.
Akans Lächeln war Unheil verkündend. “Du warst gerade eben noch nicht allein, Roean”, sagte er. “Wo sind sie?” Mit einem Wink bedeutete er Sirok, auf die Suche zu gehen.
“Wen meint Ihr?” fragte Kurt, so ruhig er konnte. “Ich bin überrascht, Euch hier zu begegnen. Es hieß ...”
Akan unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. “Du weißt, dass ich ungern Zeit vergeude. Nun, ich nehme an ...”
Inzwischen war auch der dritte Mann herangekommen. Er rief: “Halt dich da raus, Sirok. Ramanok sagte dir ausdrücklich ...” Akan wandte ihm den Kopf zu und der Breitschultrige verstummte mitten im Satz. “Ihr hier, Lord? Dies hier ist eilig!”
“In der Tat”, sagte Akan trocken. “Ich frage mich, was der Fürst dazu meint, dass Ramanok diese Information schon seit gestern hatte.”
Sirok kletterte aus dem Graben heraus. “Sie sind weg”, sagte er. “Es scheint eines dieser halb vergessenen Weltentore zu sein.”
„Da kommen wir nicht durch“, bemerkte der Dritte missmutig.
Akan beachtete ihn nicht. “Dann ist ihr Vorsprung wahrscheinlich schon zu groß.”
Roean bemerkte: “Ich habe noch anderes zu tun. Ich hoffe, Ihr entschuldigt mich.”
Akan blickte ihn spöttisch an. “Geh nur. Ramanoks Mann dürfte deine Spur so schnell nicht wieder verlieren. Er hat gerade schon genug Fehler gemacht.”
Als Roean und der andere gegangen waren, fragte Sirok: “Ihr wollt ihnen nicht folgen, Herr?”
Akan schüttelte den Kopf. Er ging in Richtung des Dorfes und Sirok schloss sich ihm an.  “Aber wir werden diesen Übergang ab jetzt bewachen. Ich nehme an, du kannst in ein paar Minuten jemanden hier haben?”
Sirok nickte. „Ramanok wird es nie wissen“, sagte er.

******
“Aber wo ist Robin”, flüsterte Isabell, als auch die letzten beiden gegangen waren. Sie lag mit Béarisean im nassen Gras hinter einem Gebüsch auf dem Hügel neben dem Graben.
“Ich sehe für alle Fälle einmal in diesem Graben nach”, sagte Béarisean. “Warte hier. Ich steige gleich hier hinab und gehe bis zur Brücke. Gib mir eine Warnung, falls doch jemand zurück kommt auf dem Weg.”
Isabell nickte. Es war nass. Aber es war ein sehr interessantes Abenteuer. Béarisean kletterte in die Büsche am Graben. Isabell wartete, aber er kam nicht zurück. Er hätte jetzt schon längst die Brücke erreichen müssen. Doch nichts regte sich. Sie warf einen Blick auf die Straße. Niemand war zu sehen. Sie wagte es nicht, selbst in das Dickicht zu klettern, sondern ging am Rand des Grabens entlang. So aus der Nähe war das Dickicht eigentlich gar nicht so undurchdringlich. Sie konnte bis zum Wasser hinab sehen. Doch dort unten war nichts. An der Brücke blickte sie sich nochmals um. Alles schien verlassen. Vorsichtig kletterte sie hinab, spähte in den röhrenförmigen Durchlauf unter der Brücke, ging in beiden Richtungen ein Stück den Graben entlang, aber sie fand nur die Stelle, an der Béarisean den Hang hinunter gekommen war, sonst waren da keine für sie wahrnehmbaren Spuren. Es schien, dass Robin und Béarisean das Tor gefunden hatten, und dass es sich für sie nicht öffnen würde.
Mittlerweile war sie sehr nass und fror im kalten Wind. Vielleicht war es klüger im Trockenen mit dem Schicksal zu hadern, das sie von dem Abenteuer ausschloss? Sie kletterte wieder auf die Brücke und ging nach Hause. Sie bemerkte nicht, dass jemand ihr folgte wie ein Schatten.
******
Inzwischen mussten wohl wenigstens zwanzig Minuten vergangen sein. Robin beschloss, sich vorsichtig umzuschauen und duckte sich zwischen den Bäumen die Böschung hinauf. Direkt zurück zur Brücke zu gehen, wollte er nicht riskieren. Vielleicht waren die Fremden noch dort und warteten. Vorsichtig blickte er über den oberen Rand der Böschung und ihm wurde schlagartig klar, dass etwas Seltsames passiert sein musste. Denn dort vor ihm hätte nun der mit Bäumen bestandene Kapellenhügel liegen müssen. Aber dort war nichts, d.h. da war nicht das, was er erwartet hatte.
Vor ihm, verschwommen im Dunst, lag ein Weg. In die eine Richtung schien er zunächst entlang des Baches zu verlaufen, bog dann aber nach rechts um und entfernte sich von dem Wasserlauf. Wohin er führen mochte, war nicht zu erkennen, denn in einer Entfernung von in etwa hundert Metern verlor er sich in einem gleichmäßigen, weißgrauen  Vorhang aus Nebelschleiern. Wie eine bloße Ahnung wirklicher Pflanzen ragten ein paar blattlose Zweige und kahle Äste kleiner Bäume oder Sträucher aus der Halbdämmerung hervor, gerade dort, wo der Weg weiter ins Unbekannte führte. Die Wiesen zu beiden Seiten des Weges waren von kleinen Seen und Weihern aus Nebel bedeckt. Wie Inseln ragten einzelne Büschel von Grashalmen daraus hervor. Allein der Weg erschien wirklicher: zwei Spuren heller Erde umgaben einen Mittelstreifen aus Gräsern. Auf der linken Seite wurde er von einem niedrigen Zaun aus alten Holzpfählen begrenzt, die fast in den hohen Grasbüscheln verschwanden.
Ein Geräusch ließ Robin aufblicken. Über ihm schlugen schwere Flügel. Eine kleine Schar von Krähen, wohl sechs oder sieben Stück wurde aus dem Nichts hinter ihm sichtbar und eilte weiter in das Unbestimmt vor ihm. Ihr heiseres Krah, das sie bei seinem Anblick riefen, verklang schnell in den Watteschichten des Nebels, der dieser Landschaft soviel Unwirklichkeit verlieh. Er blickte bachauf zurück in die Richtung, wo die Brücke hätte sein sollen. Dort verschwand der Weg zwischen den Bäumen eines Wäldchens.
Keine Spur mehr von Kurt, den Fremden, der Ortschaft oder der kleinen Brücke. Offenbar war er durch das "Tor" nach Abhaileon geraten. Er erinnerte sich an eines der Gespräche mit Béarisean. Der Nebel, der aufgekommen war, sobald er sich in dem Graben versteckte. Ob man wohl genauso leicht wieder zurückkehren konnte? Er blickte in den Graben - hier war es noch ein richtiger Bach - hinab. Nein. Jetzt zurückzukehren, war nicht sehr sinnvoll. Er konnte froh sein, dass er so ohne Aufsehen entkommen war. Es war wohl das Klügste, auf Béarisean zu warten. Er wusste gar nicht wohin er sich wenden sollte. Der Stand der Sonne ließ sich durch die dichten Nebelschwaden hindurch nicht erkennen, es war ihm also nicht möglich herauszufinden, wo Nordwesten war. Falls Kurt überhaupt dieses Tor im Sinn gehabt hatte, als er ihm den Weg beschrieb. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Es schien hier auch etwas wärmer zu sein als in Arda.

Die Zeit schien dahin zu schleichen. Nichts änderte sich, nichts rührte sich. Nur manchmal schwankten die Grashalme leicht in einem Windzug. Er begann sich allmählich Sorgen zu machen, ob Béarisean in Schwierigkeiten geraten war. Es musste inzwischen schon mehr als eine Stunde vergangen sein. Aber gerade als er mit sich kämpfte, ob er nicht doch einfach aufbrechen sollte, kam Béarisean aus dem Graben geklettert. Überrascht stellte er fest, dass der Freund seine Kleidung trug, die er aus Abhaileon mitgebracht und damals am Tag ihrer ersten Begegnung getragen hatte. Sogar die Satteltaschen trug er über die Schulter gehängt.
„ Du hast dir wirklich Zeit gelassen“, bemerkte Robin.
Béarisean stieg Röte ins Gesicht. “Ich weiß, ich hätte viel früher zurückkommen sollen. Es war genau der falsche Tag für einen langen Spaziergang. Wie bist du entkommen?”
Sie berichteten einander, was sich zugetragen hatte.  “Ich hoffe, deine Kusine macht sich nicht zuviel Sorgen, dass wir beide so plötzlich verschwunden sind”, endete er. “Aber ich befürchtete, wenn ich zurückgehe, finde ich vielleicht nicht mehr hierher.” Plötzlich erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. “Ich bin in Abhaileon! Nie mehr Arda!!”
Robin lachte. Er protestierte nicht, dazu hatte er selbst sich zu oft von Arda weg gesehnt. “Ich wundere mich eher, dass Isabell noch nicht selbst hier ist”, meinte er. “Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie freiwillig darauf verzichtet, uns zu folgen. Vielleicht sollten wir noch etwas warten?”
“Wenn sie hierher finden soll, wird sie zur für sie rechten Zeit kommen”, bestimmte Béarisean, der ganz selbstverständlich das Kommando übernahm. “Wir sollten jetzt besser los, damit wir bis zum Abend in besiedelte Gegenden gelangen. Die Stadt können wir frühestens morgen Nachmittag erreichen.” Zielbewusst schlug er eine Richtung ein.
„Kennst du diesen Thomas, zu dem wir sollen?“
„Das nicht. Aber Estohar hat ein Haus dort in der Kupfergasse, das wird es sein. Notfalls fragen wir dort nach.“
„Wir sollten aber nicht zu ihm!“ betonte Robin.
„Warum auch immer“, sagte Béarisean mit einem Seufzen. „Auf das Wiedersehen freue ich mich nämlich!“

Der Weg schlängelte sich durch ein Hügelland. Wie an einem Herbstmorgen, an dem die Sonne nach langem Kampf mit dem Nebel schließlich doch noch Sieger bleibt, hoben sich allmählich die Nebelschwaden, bis sie schließlich ganz vergingen. Ein Blick auf den Horizont zeigte, dass die Sonne bereits den größten Teil ihres Weges hinter sich gebracht hatte. Bis zum Einbruch der Dämmerung verblieben ihnen noch etwa drei Stunden. Robin blickte zurück, doch die Hügel, die sie bereits überquert hatten, verdeckten ihm die Sicht auf den Ausgangspunkt ihrer Wanderung. Das Wetter war angenehm. Wie im späten Sommer. Die ersten Moose und Gräser in den Wiesen begannen sich bereits bunt zu färben. Einzelne Blätter welkten und fielen bereits von den Bäumen. Durch die Luft zogen Altweiberfäden. Es musste etwa September sein.
 „Ich werde andere Kleidung brauchen“, bemerkte Robin nach einer Weile. „Ich wirke sonst wohl auffällig hier.“
Béarisean musterte ihn kritisch und stimmte zu. „Ich habe noch etwas Geld. Vielleicht kann ich jemandem etwas abkaufen. Die Gegend ist abgelegen. Wer dich hier sieht und hört, wird denken, du seist aus irgendeinem anderen Teil Abhaileons. Lass dich nur nicht festlegen woher!“

Einige Zeit später erreichten sie die erste Wegkreuzung. Der Pfad, dem sie bisher durch die Hügel gefolgt waren, stieß auf einen breiteren grasbewachsenen aber wohl in Gebrauch stehenden  Fahrweg. Es waren keine Menschen auf dieser Straße unterwegs, soweit sie sehen konnten. Robin hatte sich seinen Anorak, der ihm schon lange zu warm geworden war, als Bündel unter den Arm geklemmt.
Zu beiden Seiten ihres Weges lagen nun bestellte Felder. Hecken trennten sie von einander. Auf den meisten war das Getreide bereits geerntet worden. Gegen Abend wanderten sie durch eine Pflanzung von Obstbäumen. Als sie an einem Baum mit besonders prachtvollen Äpfeln vorüber kamen, der seine Zweige bis auf den Weg hängen ließ, blieb Robin stehen: „ Wie stehen unsere Chancen auf ein Abendessen?“
Béarisean schüttelte den Kopf. “Also Äpfel?“
 „Fallobst!“ sagte Robin bestimmt. „Bauern lieben es nicht, wenn man sich an ihren Bäumen vergreift. Und es wäre mir unangenehm, wenn meine erste Begegnung als Ritter in Abhaileon ein Streit über Mundraub wäre.“

Sie bemühten sich, ein paar möglichst wurmfreie Äpfel herauszusuchen. Trotz allem war es peinlich, ein paar Schritte weiter mit den Äpfeln dem Besitzer des Baumes zu begegnen. Er lehnte am Torpfosten eines Seitenwegs, den sie erst jetzt bemerkten. Ein breitschultriger älterer Mann in einfacher Kleidung und mit rötlichem Gesicht. Er blickte zu Robins Erleichterung freundlich genug aus seinen blauen Augen.
Béarisean grüßte: „Wir haben ein paar Äpfel aufgelesen“, sagte er. „Ich hoffe, Ihr erlaubt es im Nachhinein?“
„Es sind genug da“, erklärte der Bauer ruhig. „Und ihr habt bescheiden genug gewählt. – Wohin wollt ihr?“
„Nach Croinathír“, sagte Robin.
 „Zum Herbstfest also?“
Béarisean nickte. Er warf einen Blick auf die Sonne, die schon tief stand. Der Mann sah wirklich freundlich aus. „Würdet Ihr uns erlauben, irgendwo im Stroh zu übernachten? Soweit ich mich erinnere, kommen wir bald wieder in Waldland. Wir bezahlen gerne.“
„Nicht nötig.“ Der Bauer nickte. „Die Wege sind unsicher heutzutage. Besonders nachts. Ihr sollt ein Nachtlager in der Scheune haben.“
Robin war erleichtert. Noch erfreulicher war ihm die Einladung, im Haus selbst ein Essen bekommen zu können. Béarisean nahm das Angebot etwas zurückhaltend an. Robin begriff warum, als der Hausherr begann, sich nach Neuigkeiten zu erkundigen. Béarisean versuchte möglichst allgemein zu antworten. Ja, die Banditen waren wirklich überall eine Plage. Das Wetter war heuer ausnehmend gut, und das Herbstfest war immer wieder ein Erlebnis. Er war jetzt etliche Jahre lang nicht dort gewesen. Sie hatten sich einander vorgestellt. Ihr Gastgeber hieß Dikar. Sie nannten sich Robin und Alan.

Und dann sagte Dikar: „Die Ritter des Königs sollten jetzt der Prophezeiung nach bald kommen. Man sagt, einer von ihnen sei ein Lord von Sliabh Eoghaí. Der Erbe Colins des Großen.“
„Ja, ich hörte das einmal“, sagte Béarisean und versuchte gleichgültig zu wirken. „Aber das hat sich wohl erübrigt. Eoghans Erbe ist schon lange tot. Sicherlich ist das auch hier bekannt. Ich erinnere mich gut, welche Erregung nach jenem Mord herrschte.“
„Tut Ihr das?“ sagte Dikar. Etwas in seinem Ton war anders als bisher. Aufmerksamer vielleicht oder misstrauisch, es war schwer zu deuten. „Ihr scheint mir höchstens dreißig Jahre alt zu sein.“
„Ich bin siebenundzwanzig“, sagte Béarisean. „Es ist doch erst ...“ Er unterbrach sich, weil er plötzlich etwas begriff, das ihm zwar theoretisch bekannt gewesen war, aber das er nie auf sich und seine Umstände bezogen hatte. Die Zeit verlief nicht gleich schnell in Arda und Abhaileon. Er hatte nie bedacht, dass in Abhaileon viel mehr Zeit vergangen sein könnte, als er in Arda gelebt hatte.
„Es ist vierzig Jahre her“, sagte Dikar.
Béarisean wurde blass. Robin überlegte fieberhaft, was er sagen könnte, um von dem Thema abzulenken. Das einzige, das ihm einfiel, war: „Habt Ihr Instrumente hier? Ein bisschen Gesang könnte doch ganz nett sein.“
Er hätte sich den Versuch sparen können.
„Nicht wahr?“ sagte Dikar leise, den Blick fest auf Béarisean gerichtet. „Ihr selbst seid der verschollene Nachfahre Colins!“
„Wie kommt Ihr darauf?“ entgegnete Béarisean möglichst gefasst. „Das ist …“
„Beunrhigt Euch nicht“, unterbrach ihn Dikar. „Ihr werdet Euch kaum an mich erinnern nach all den Jahren. Aber ich war damals im Dienst Estohars, als ihr Abhaileon verließt, und ich erkenne Euch wieder. Ihr habt Euch kaum verändert, das heißt wohl, dass Ihr in Arda wart, wenn die Sagen nicht völlig unrecht haben.“
Béarisean holte tief Luft. „Es hat wohl wenig Zweck, es abzustreiten“, sagte er resigniert. „Wer weiß es noch?“
Dikar lachte leise. „Keiner. – Wie ich schon sagte, ich stand in Estohars Diensten damals. Und ich war dort aus Überzeugung.“ Er senkte die Stimme noch mehr. „Wenn Legenden wahr werden, und es tatsächlich wieder Ritter des Königs geben sollte, dann ist auch die andere Seite stark geworden. – Ich werde nichts weiter fragen. Mir genügt es, einmal erzählen zu können, dass ich Euch begegnet bin. Kann ich Euch in etwas behilflich sein?“
Béarisean nickte zögernd. „Ich war … lange weg. Ein paar Neuigkeiten wären hilfreich. Und vielleicht ein Umhang für meinen Begleiter? Ich kann es erstatten.“

„Wir werden uns einigen“, sagte Dikar und warf einen Blick in Richtung der Küche, wo seine Frau noch hantierte und sich fröhlich mit einer anderen Frau unterhielt. „Und zwar so, dass niemandem etwas auffällt. Habt Ihr Fragen?“
„Wie steht es mit Estohar?“ wollte Béarisean wissen und war erleichtert zu hören, dass dieser noch lebte und immer noch Ratsvorsitzender war. Ansonsten konnte er letztendlich nicht viel Neues erfahren. Die gravierendste Änderung schien, dass selbst in der Nähe der Hauptstadt die Straßen nachts oft nicht mehr sicher waren und niemand imstande schien, das Problem in den Griff zu bekommen.
„Was ist mit Alandas?“ fragte Béarisean zum Schluss noch. „Hat man von dort etwas gehört?“
Dikar schüttelte den Kopf. „Es ist schon seltsam. Alandas erscheint uns allen immer unwirklicher. Selbst Estohar erwähnt es kaum noch. Unsere heutigen Problem müssen wir wohl selbst lösen, meinen selbst seine Anhänger.“
Béariseans Blick war traurig. „Es ist höchste Zeit, dass es wieder einen Regenten gibt“, sagte er still.
 „Und es sieht aus, als sei die Zeit bald gekommen“, antwortete Dikar mit einem Zwinkern, bevor er sie zu ihrem Schlafplatz im Heu brachte. Einen abgenutzten aber ehemals guten Mantel, den Robin als Decke nutzen konnte, gab er ihnen gleich mit.

Sobald sie allein waren, bemerkte Robin so leichthin wie möglich: „Hat Colin der Große noch mehr Nachfahren?“
Béarisean zögerte, antwortete dann aber doch. „Nein. Keine anderen.“ Er seufzte. „Ich hatte es ja schon erwähnt, aber um genau zu sein: Colin von Donnacht war der einzige überlieferte Nachkomme Colins des Drachentöters, den sie jetzt auf dem Herbstfest in der Hauptstadt feiern. – Aber das heißt gar nichts. Mein Vater war keiner der bedeutendsten Lords und schon gar kein Fürst.“
„Wie sahen Estohar und die anderen das?“ erkundigte sich Robin vorsichtig weiter.
„Menschen lieben große Namen“, sagte Béarisean düster. Kein Wort mehr.
Robin versuchte sich vorzustellen, dass Béarisean Herrscher über ganz Abhaileon werden könnte. Es war nicht ganz abwegig. „Große Namen haben mir nie sehr viel bedeutet“, sagte er dann. „Aber was wäre generell so übel daran, Regent zu werden?“
„Colin tötete den Drachen nicht allein“, begann Béarisean. „Er tat es zusammen mit Prinzessin Rilan. Meine Schwester erhielten ihren Namen nicht rein zufällig. Sie war die Erstgeborene. Sie hatte das Drachenblut von Donnacht in sich. Und vielleicht wäre sie Herrin von Sliabh Eoghaí geworden, denn mir lag nie viel an Kämpfen und Macht. Aber ich war es, der überlebte. Und der einzige Traum, den ich habe, hat nichts damit zu tun, Regent zu sein.“
„Drachenblut von Donnacht?“ erkundigte Robin sich vorsichtig. „Das hast du nie erwähnt.“
„Man nennt es so“, sagte Béarisean knapp. „Drachen sind unberechenbar und gefährlich. In der Donnachtlinie war es kein seltener Wesenszug, das jemand besonders wild und leidenschaftlich war, manche auch stolz und hart. Menschen denen man so wenig widerstehen kann wie dem Angriff eines Drachen. Das nennen sie das Drachenblut.
Rilan war meine Zwillingsschwester. Aber sie hatte es, ich habe es nicht. – Manchmal frage ich mich, ob nicht durch ein Unglück der falsche von uns sterben musste.
Es bedeutet mir alles, ein Ritter des Königs zu sein. Hätte ich aber eine Wahl gehabt, hätte ich diesen Preis nicht gezahlt. “

Robin wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Vielleicht war es auch das Beste zu schweigen.

Béarisean sagte auch nichts mehr. Robin schien es, dass er leise weinte. Aber sie waren einander nicht nahe genug gekommen, dass er es gewagt hätte, ihn darauf anzusprechen. Dieser Lord aus Abhaileon legte Wert darauf, nicht zu zeigen, wie verwundet er war. Robin selbst fühlte sich auf einmal sehr fehl an Platz in der noch so fremden Welt. Doch auch in Arda hatte er nie ganz heimisch sein können.
Vielleicht hätte er darüber sprechen sollen, wie entwurzelt er sich selbst fühlte. Dass die Wirklichkeit, ein Ritter des Königs zu sein das einzige war, das ihm selbst wahren Halt gab. Es machte sie beide verwandt, wie sehr sie diese Identität brauchten in ihrer inneren Heimatlosigkeit. Nur war fraglich, ob Béarisean das auch erkannt hatte und ihn akzeptieren würde. Es wurde für beide Ritter eine Nacht ohne viel Schlaf.
Dikar suchte sie schon früh am nächsten Morgen auf. Er hatte wie versprochen andere Kleidung für Robin bei sich, die recht gut passte und versprach, sich um das zu kümmern, was Robin hier zurück lassen würde. Fast hätte Robin es vergessen, seine Hosentaschen zu leeren, aber im letzten Augenblick fiel ihm noch der Gegenstand ein, den Kurt ihm an der Weide in die Hand gedrückt hatte. Auch jetzt war es zu dunkel, ihn eingehend zu betrachtend. Eine Art Brosche schien es zu sein. Sie brachen noch vor Sonnenaufgang auf, diesmal reichlich versorgt mit Proviant.

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