Alan atmete erleichtert auf. Estohar hatte seinen Kelch geleert und offenbar nichts bemerkt. Die Aufgabe war schwerer gewesen, als er zunächst gedacht hatte. Er wusste nicht, wer das Gift aufgetrieben hatte. Donnacha hatte geschworen, dass es keine verdächtigen Spuren geben werde.
Marbhkraut war hoch giftig. Jeder kannte es dem Namen nach, doch die wenigsten hatten es je zu Gesicht bekommen. Zwei, drei winzige Tropfen des Extrakts genügten. Es löste sich in Flüssigkeit sofort auf und hatte fast keinen Eigengeschmack.
Es hatte ein Kinderspiel geschienen, die tödliche Dosis bei der großen Feier in die Becher der beiden Opfer zu praktizieren. Er hatte nicht bedacht gehabt, dass von allen Offizieren der Palastgarde ausgerechnet dieser Dalinianer Ciaran anwesend sein sollte. Eigentlich war seiner Anwesenheit sogar überraschend, es hieß, Estohar sei ihm nicht besonders zugetan. Doch hier war Lady Airen die Gastgeberin und es hieß, ihr gefalle der junge Offizier.
Der andere, Neill, wäre kein Problem gewesen. Ein rechtschaffener Bursche mit nicht allzu weitem Horizont. Ranalf und Colin hatten Dienst, wie es schien, aber auch sie hätten auf einer Feier gefeiert. Dieser Dalinianer schien den Begriff dienstfrei nicht zu kennen. Er hätte genauso gut auf Posten in Zivil sein können. Er hatte scharfe Augen, und sein Blick schien nur noch schärfer zu werden, wenn er Alan nur sah. Alan hätte schwören können, dass ihn der Mann zeitweise beobachtet hatte. Und ständig war er in der Nähe Airens und Estohars gewesen.
Jetzt endlich war es jedoch gelungen. Er warf einen Blick auf die Lady. Noch fühlte sie die Wirkung nicht. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis die erste Übelkeit einsetzte. Bei Estohar würde es noch etwas länger dauern. Alan konnte sich beruhigt entfernen und noch etwas von der Feier genießen. Da trat auch schon wieder jemand an den Ratsvorsitzenden heran.
Estohar setzte seinen Becher achtlos beiseite. Eine Botschaft? Das Siegel verriet nichts, aber der Mann sagte, Thomas schicke ihn. Was konnte in der Kupfergasse geschehen sein? Das Wachs war schlecht, nicht gut ausgehärtet. Er konnte es ganz abheben. Die Schrift erkannte er nicht wieder – nicht sofort. Indola – das lag lange zurück, Namen die schon verblassten. Aber die Initialen trafen ihn wie ein Blitzschlag. Béarisean! Er war zurück. Er hatte den Ritter aus Arda gefunden. Der Feind wusste Bescheid?! Welchen Feind meinte er? Unaufschiebbare Neuigkeiten und in knapp drei Stunden begann diese abstruse Sondersitzung. Er konnte jetzt nicht einfach als wichtigster Gast das Fest verlassen. Oder doch?
Er griff äußerst ungern zu Notlügen, aber wenn er es genau überlegte, fühlte er tatsächlich eine leichte Übelkeit, die er vorschürzen konnte, um sich zurück zu ziehen. Und er brauchte Begleitung. Wer war verlässlich genug? Nicht nur verlässlich, sondern auch kampferprobt. Diese seltsame Sache mit dem Feind. Er durfte jetzt auch keine Zeit verlieren und jemanden rufen lassen. Zwei seiner höheren Offihziere waren hier. Niemanden würde es überraschen, wenn sie gingen. Wer kannte schon die Dienstpläne der Garde? Er rief Neill zu sich, sagte ihm, er und Ciaran sollten sich mit ihm in einen Viertelstunde am westlichen Seitenausgang treffen. Ein wenig zögerte er, bevor er sich entschied, den Dalinianer mitzunehmen. Aber er war ein ausgezeichneter Kämpfer und trotz allem sehr loyal.
Dann ließ er sich entschuldigen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass auch Airen offensichtlich dabei war, sich zurückzuziehen. Zu schade, dass er ihr jetzt nichts von der Neuigkeit unbemerkt mitteilen konnte. Umso mehr würde sie sich freuen, es heute nach der Sitzung zu hören. Sobald er den Saal verlassen hatte, beschleunigte er seine Schritte. Er musste noch die Kleidung wechseln. Er brauchte etwas Dunkles, Unauffälliges.
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Endlich unterbrach ein kurzes Klopfen an der Tür das lange Schweigen. Robin und Béarisean blickten hoffnungsvoll auf. Thomas erhob sich schwerfällig und ging hinaus. Béarisean stand ebenfalls auf und näherte sich gespannt der Tür des Zimmers. Als sie wieder geöffnet wurde, trat der Mann ein, den sie bei dem Festzug auf dem Schimmel gesehen hatten. Er war jetzt sehr einfach gekleidet und trug einen weiten dunklen Mantel dessen Kapuze zurückgeschlagen war. Sein scharfer Blick streifte durch das Zimmer und blieb dann überrascht an Béarisean haften. Auch Robin hatte sich nun zur Begrüßung erhoben. Thomas hatte die Tür wieder geschlossen und sich mit dem Rücken gegen sie gelehnt, als wolle er alle weiteren möglichen Besucher ausschließen. Er beobachtete die ganze Szene mit verschränkten Armen.
Estohar war der erste, der das Schweigen brach. „Ich grüße dich im Namen des Königs, Béarisean von Sliabh Eoghai!“ sagte er. „Du siehst mich sehr erstaunt, dir hier und jetzt zu begegnen. Ich glaubte bereits nicht mehr, dass du zurückkommen würdest. Bist du es wirklich?“
„Es ist kein Traum“, sagte Béarisean. Seine Stimme klang anders, bemerkte Robin. Auch sein Auftreten hatte sich wahrnehmbar geändert. Er schien nun fremder.. "Ich erwidere deinen Gruß im Namen des Königs, Estohar von Tarim.“
Der Vorsitzende des Rates schüttelte ungläubig den Kopf: „Es scheint, die Zeit ist mit dir sanfter umgegangen als mit mir. Erkennst du noch den Ritter wieder, der ich einmal war?“
„Ich sehe dich noch vor mir wie an jenem letzten Tag“, antwortete Béarisean leise. „Wie könnte ich den größten Ritter Abhaileons vergessen? Es waren Tage voller Hoffnung und Verheißung, in denen wir uns kennen lernten. Aber es sieht aus, als habe sich vieles geändert seit jener Zeit. Wem kann man heute noch trauen?“ Mit einem Zögern schaute er zu Thomas hin, der alles mit anhörte.
Estohar folgte seinem Blick und lächelte flüchtig. „Ihr könnt Thomas vertrauen. Er ist einer der wenigen Treuen, die noch geblieben sind.“ Müde fügte er hinzu: „Ich habe so viele Hoffnungen zerbrechen sehen in meinem Leben. Ja, die Zeiten, da ich unter den Rittern Abhaileons groß war, sind lange vorüber. Meine Macht schwindet von Tag zu Tag, auch wenn ich immer noch dem Rat vorstehe. Lange hast du auf dich warten lassen, Béarisean.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Doch du schriebst, dass deine Suche erfolgreich war?“
„Ich habe Ritter Anno aus Arda mit mir zurückgebracht.“ Béarisean nickte Robin zu.
Robin verbeugte sich grüßend: „Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Estohar von Tarim.“
Der alte Mann betrachtete ihn aufmerksam. Dann sagte er: „Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Eure Ankunft ist der erste Lichtstrahl an einem lange dunklen Himmel. Ich habe jeden Tag gebetet, dass dies noch einmal geschieht. - Wenn es nicht schon überhaupt zu spät ist.“
Béarisean runzelte besorgt die Stirn. „Was ist hier nur geschehen, Estohar?“ sagte er erregt. „Ich erkenne Abhaileon kaum noch wieder. Dass statt der knapp neun Jahre, die ich auf Arda verbrachte, hier fast vierzig Jahre vergangen sind, erklärt noch lange nicht all das, was in diesem Land nicht in Ordnung ist. Ich bin erst den zweiten Tag wieder da und mir ist, als sei ich in eine fremde Welt zurückgekehrt. Der Bauer, bei dem wir übernachteten, machte ein paar befremdliche Andeutungen. Stimmt es wirklich, dass hier niemand mehr dem König folgt? Wie konnte das geschehen? Unter deiner Regierung noch dazu!“
Estohar senkte betroffen den Kopf. Er sagte mit angestrengter Stimme: „Können wir uns setzen? Mir ist heute Abend nicht ganz wohl.“ Unwillig mit sich selbst runzelte er die Stirn. Dann ruhte sein Blick fragend auf Béarisean.
„Natürlich“, sagte Béarisean. „Setzen wir uns. - Es ist gut, dass du so schnell kamst. Wir müssen dringend unsere Neuigkeiten austauschen. Berichte zunächst du!“
Es war offensichtlich, dass der Ratsvorsitzende Béarisean als ihm übergeordnet betrachtete. Und Béarisean übernahm die Führung sehr selbstverständlich, wie Robin bemerkte. Thomas betrachtete sie stirnrunzelnd von der Tür aus.
Estohar setzte sich vorsichtig. Wieder runzelte er die Stirn, ohne einen von ihnen anzusehen. Dann aber hielt er sich wieder gerader und begann seinen Bericht: „Ich weiß nicht, ob ich eine Erklärung geben kann für das, was hier geschieht und geschehen ist. Was du gehört hast, Béarisean, stimmt. Ich begreife es ja selbst nicht. Nun, ich will ganz von vorn beginnen: Du erinnerst dich sicher dass das Land damals vor fast dreißig Jahren, als wir uns zum letzten Mal sahen, von einer Reihe bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen erschüttert wurde. Einige der Lords hatten es eiliger, sich die Schädel gegenseitig wegen geringfügiger Streitigkeiten einzuschlagen, als dass sie in ihren Ländereien Recht und Ordnung aufrechterhalten hätten. Es machte sich allerhand Gesindel breit, und das Reisen wurde gefährlich. Wir dachten damals, die Zeiten seien schlecht und dass die Zeit nun bald reif sei, dass Breanainns Prophezeiung erfüllt werde.
Wenn ich heute daran zurückdenke, sage ich, dass es glückliche Zeiten waren. Wir wussten noch, wer ein Freund und wer ein Feind war. Und wir hatten Hoffnungen. Es ist entsetzlich, Tag für Tag einfach nur den Niedergang näherrücken zu sehen.“ Er schwieg kurz, in seiner Stimme klang Not. „Wir hatten große Hoffnungen. Auf Béarisean, den Lord von Sliabh Eoghai, den Nachfahren Colins des Großen, den Ritter des Königs, der bald mit dem anderen Ritter des Königs aus Arda zurückkehren werde, um das Recht zurückzubringen. Viele andere setzten ihre Hoffnungen auch auf mich. Ich werde Abhaileon mit starker Hand regieren können, hieß es. Meine Wahl hatte alle Fürsten seit langer Zeit wieder einmal in Einigkeit an einen Tisch gebracht.
Anfangs hatten wir sogar Erfolge. Es gelang, die Banditerei stark einzugrenzen und auf den Straßen wieder Sicherheit zu gewährleisten. Es gelang, die Einheit unter den Fürsten zumindestens oberflächlich wiederherzustellen. Doch während wir uns mit diesen äußerlichen Bedrohungen beschäftigten, kam die wirkliche Gefahr von innen. Schon lange vor meiner Amtszeit muss es angefangen haben. Nur haben wir alle es einfach nicht gesehen. Mag sein, dass wir es nicht sehen wollten. Plötzlich blickten wir erstaunt auf und die Welt hatte sich geändert.“ Er unterbrach seinen Bericht kurz und strich mit einer nervösen Bewegung durch seinen Bart, bevor er fortfuhr. „Einiges davon dürfte dir ja bekannt sein, Béarisean. - Als ich jung war, war es zum Beispiel einfach eine unumstößliche Tatsache, dass vor mehr als tausend Jahren das Eingreifen des Heeres aus Alandas Abhaileon vor der Katastrophe, d.h. der Herrschaft des Schwarzen Fürsten bewahrte. Nun plötzlich war so ziemlich jeder, der mir begegnete, davon überzeugt, dass das alles ein Märchen sei und schwang große Reden über historische Wahrheiten.“
Béarisean nickte, den Beginn dieser Entwicklung hatte er selbst erlebt. Estohar erzählte bedrückt weiter: „Schlimmer noch war es, als die Leute anfingen, steif und fest zu behaupten, es gebe auch keinen König. Sie verlangten unumstößliche Beweise. Alle Beweise aber, die es gab, die überlieferten Aussagen und Geschichten, lehnten sie strikt ab. Jeder, der sich gegen die neue Meinung wandte, fiel der Lächerlichkeit anheim. Ich war erschrocken zu sehen, wie wenige überhaupt dazu standen. Ich dachte, ich könne meinen Namen als Vorsitzender des Rates und meinen Ruf dazu einsetzen, die Fahne des Königs hochzuhalten. Aber es war wie verhext. Ich habe den Kampf gegen die "öffentliche Meinung" schnell verloren. Plötzlich zählte ich zu den Relikten einer verlorenen Zeit. Jeder Fremde auf der Straße, der seine abstrusen Ideen verbreitete, hatte mehr Zuhörer als ich.
Was hätte ich auch tun sollen? Bis jetzt hat niemand die Gesetzgebung unseres Landes angegriffen oder angefochten. Lediglich die alten Werte waren spurlos verschwunden. Wenn heute der Schwarze Fürst wiederkäme, er hätte leichtes Spiel.“ Seine Stimme wurde zornig. „Er könnte sich auf die Straße stellen und laut verkünden, er wolle jetzt die Herrschaft ergreifen, die ihm schon einmal streitig gemacht worden ist. Die Leute würden ihm noch Beifall klatschen und ihn ermuntern, es zu versuchen - vorausgesetzt er macht noch ein paar nette Versprechungen. Keiner weiß mehr, was gut und böse ist. Doch erklären, wie das gekommen ist, kann ich wirklich nicht. Manchmal beginne ich selbst schon zu glauben, dass ich Geister sehe und eigentlich nichts geschehen ist, dass ich im Unrecht bin, dass es kein Alandas gibt, keine Boten und Ritter des Königs und auch keinen König. Aber auch wenn ich selbst dem König nicht die Treue brechen werde, ich wage es nicht mehr, in der Öffentlichkeit für ihn einzustehen. Ich fürchte nämlich, dann jeglichen Einfluss in der Regierung zu verlieren.“ Sein Gesichtsausdruck war gequält, auch wenn er ihnen gerade in die Augen blickte. Thomas stand immer noch schweigend an der Tür.
„Estohar!“ rief Béarisean entsetzt.
„Ja“, sagte Estohar bitter. „Das ist aus dem Ritter von Tarim geworden. Ein feiger, alter Mann ohne Hoffnungen. Nicht wahr, Thomas, wir alle sind verbitterte alte Leute, deren Welt in Scherben gegangen ist?“ Thomas bestätigte es nicht, protestierte jedoch auch nicht dagegen. Der alte Ratsoberste fuhr fort: „Doch vielleicht dürfen wir jetzt neue Hoffnung schöpfen, da ihr gekommen seid. - Wenn es nicht schon zu spät ist.“
Robin stand auf und blickte Estohar gerade in die Augen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass man hier in Abhaileon auf sein Wort vielleicht noch größeren Wert legte als auf das Béariseans, einfach deshalb, weil er aus einer fremden Welt kam. Er sagte: „Ich kann mir gut vorstellen, wie schrecklich Ihr unter all dem gelitten habt, Herr Estohar. Auf Arda sind die Zustände leider in vielem nicht anders. Es gab Zeiten, da ging es mir ähnlich wie Euch, und es ist leicht möglich, dass ich wieder mit solchen Problemen konfrontiert werde, wenn ich zurück in Arda bin. Doch hier, Estohar, gebe ich Euch mein Ehrenwort, dass es nicht zu spät ist. Nur, wenn wir das Steuer noch herumreißen wollen, können wir Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit nicht gebrauchen. Fürchtet Euch nicht länger! Ist es nicht besser, wenn es denn so kommt, im Dienst des Königs zu sterben, als dieses Leben, so wie es momentan für Euch ist, weiterzuführen?“
„Ja“, stimmte Béarisean zu. Er sprang auf. Seine Hand suchte das Schwert, das er schon seit vielen Jahren nicht mehr trug. Mit einem Lächeln erinnerte er sich an diesen Umstand und sagte: „Noch siehst du uns unbewaffnet und ohne Macht in diesem Land. Aber mit aller Autorität, die mir gegeben ist, da ich ein Ritter des Königs bin, befehle ich dir: Steh auf und kämpfe, Estohar.“ Er legte ihm die Hand auf die linke Schulter. „Der Ruf geht an dich. Du bist nicht zu alt. Du bist nicht zu schwach. Der Rat hat damals gut gewählt. Erlaube nur dem Feuer in deinem Herzen, wieder zu brennen, Ritter von Tarim. Geh und sage allen, die es noch hören wollen: die Zeit zum Kampf ist gekommen. Sag ihnen, die Ritter des Königs sind gekommen. Sie alle sollen gerüstet sein, wenn der Krieg kommt.“
Estohar runzelte die Stirn. „Du sprichst von Krieg und erwähntest in deiner Nachricht einen Feind“, sagte er. „Doch obwohl es manche kleine Unruhen im Lande gibt, sehe ich nichts, was auf einen wirklichen Krieg hindeuten könnte. Bringt ihr uns Nachrichten, über die wir hier in Croinathír noch nicht verfügen? Wer wird der Gegner sein? Meines Ermessens ist keiner der Fürsten mächtig genug, sich gegen den Rat zu wenden.“
„Ich weiß nicht, wer diesen Krieg beginnen wird“, antwortete Béarisean. „Aber du selbst erwähntest gerade eben noch den Schwarzen Fürsten. Was wäre, wenn er tatsächlich einen neuen Angriff vorbereitete?“
Dem alten Ritter von Tarim wich das Blut aus dem Gesicht. Langsam sagte er: „Als ich vorhin über eine Rückkehr des Schwarzen Fürsten spekulierte, tat ich es nur, um zu betonen, wie blind die Menschen hierzulande gegenüber allen Halbwahrheiten und Lügen geworden sind, die manche ihnen erzählen. Er ist also zurück?“
Noch bevor Béarisean antworten konnte, mischte sich Robin in das Gespräch ein. Sich an alle drei Männer aus Abhaileon wendend, sagte er: „Verzeiht, dass gerade ich, der ich sehr wenig über Abhaileon weiß, jetzt spreche. Doch ich teile Béariseans Vermutung. In den jüngsten Kriegen auf Arda war es stets ein wichtiger strategischer Punkt, den ersten Teil des Krieges nicht auf einem üblichen Schlachtfeld, sondern in der öffentlichen Meinung zu schlagen. Dabei wird versucht, den Gegner zu isolieren und ins Unrecht zu stellen und die noch Neutralen zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. Wenn hinter den Entwicklungen, von denen Ihr berichtet habt, Estohar, nicht der Zufall, sondern ein Feind steht, dann muss er sehr einflussreich sein. Das würde zu einem Gegner passen, wie es der Schwarze Fürst war. Was geschah denn genau damals in jenen Tagen, bevor der Krieg ausbrach? Vielleicht gibt es Parallelen dazu.“
„Das weiß niemand mehr so recht“, antwortete Thomas. Es war das erste Mal, dass er sich zu Wort meldete. „Die Geschichten beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem Krieg selbst. Über die Zeit davor ist so gut wie nichts bekannt. Selbst die alten Aufzeichnungen sind nicht exakt und historisch, sondern enthalten sehr viele legendäre Verbrämungen, so dass es uns nicht möglich sein wird, nach so langer Zeit noch zu rekonstruieren, was damals geschah. Ihr müsst bedenken, dass in den Kriegen fast alle Dokumente vernichtet wurden.“
„So ist es“, bestätigte Estohar. „Thomas hat lange Zeit in den Archiven gearbeitet und sich viel mit den alten Werken über jene Zeit beschäftigt. Wahrscheinlich gibt es wenige, die mehr darüber wissen als er.“
„Wie dem auch sei“, sagte Robin. „Eine alte Prophezeiung für Notzeiten geht in Erfüllung, sonst stünden wir nicht hier. Urteilt selbst. Auch wenn die Gefahr noch nicht offensichtlich ist, der König sendet uns sicher nicht grundlos. - Wie wahrscheinlich ist es, eine Rückkehr des Schwarzen Fürsten in Betracht zu ziehen?“
„Er wurde zwar geschlagen und vertrieben“, sagte Béarisean, „aber nicht vernichtet. Ein paar hundert oder tausend Jahre würden für jemanden wie ihn nicht viel bedeuten. Sein Hass auf dieses Land kann durch seine Niederlage nur gewachsen sein. Und er wollte schon immer unsere Vernichtung.“ Sich an Estohar wendend fügte er hinzu: „Was hätten wir ihm entgegenzusetzen, wenn er wirklich käme?“
„Wenig“, sagte Estohar knapp. Er saß jetzt wieder aufrechter und ein neuesLicht war in seine Augen gekommen. Offenbar war sein militärisches Interesse jetzt geweckt. „Es würde Monate dauern, eine brauchbare Armee gegen irgendeinen Gegner aufzustellen. Geschweige denn gegen den Schwarzen Fürsten. Denn zuerst einmal müsste der Rat beschließen, Vorbereitungen für einen Kampf zu treffen. Das erscheint mir kaum durchsetzbar. Nun, zunächst könnte ich mit einigen alten Freunden sprechen. Vielleicht ließen sich sogar einige der anderen für die Sache gewinnen, wenn ich es geschickt anfange. Aber was soll ich tun, wenn mir niemand glauben wird? In diesen letzten Jahren ...“
„Wart Ihr in den letzten Jahren von all dem so überzeugt, wie die, die Euch widersprachen, von ihrer Sache überzeugt waren? Jetzt könnt Ihr es sein. Beruft Euch auf uns als Beweis für die alten Geschichten, die niemand mehr glauben will. Im Namen des Königs, geht und redet!“ Mit diesen Worten legte Robin seine Hand auf Estohars rechte Schulter. „Was immer dein Herz vergiftet hat, soll nicht mehr sein. Wir geben dir dazu allen Segen, der in unserer Macht steht.“
Estohar hatte seinen weißhaarigen Kopf gesenkt. Thomas betrachtete sie gespannt. Ein paar Minuten lang verharrten alle in ihren jeweiligen Stellungen. Dann hob der Ritter von Tarim den Kopf. In seinen Augen brannte seit langem wieder das frühere Feuer. Er blickte zuerst Béarisean an, dann Robin. Dann stand auch er auf. „Ich danke euch“, sagte er. „Ihr habt das Gift und Müdigkeit von mir genommen. Ich habe zuviel an das gedacht, was ich noch verlieren könnte und übersehen, dass es Dinge gibt, die zu verteidigen sich lohnt. Jetzt werde ich gehen und kämpfen. Werdet ihr mit mir kommen und mir helfen?“
„Nein“, sagte Béarisean. Er hob abwehrend die Hand, als er die Bestürzung in Estohars Augen sah. „Der Kampf hier ist deine Aufgabe. Wir müssen warten, dass uns Botschaft erreicht, wohin wir weiter zu gehen haben. Unser Auftrag ist es, noch im Verborgenen bleiben. Genauso wie unser Feind sich noch verborgen hält. Niemand soll von unserer Anwesenheit hier erfahren, bevor wir weiter gezogen sind.“
„Das befürworte ich auch“, sagte Thomas. „Wir dürfen nichts übereilen.“
„Mit Ausnahme der Bereitstellung des Heeres“, unterbrach Béarisean. „Das halte ich für äußerst dringlich.“
Estohar nickte. „Ich werde darauf hinarbeiten, im nächsten Sommer bereit zu sein. Gibt es noch etwas Wichtiges zu tun?“ Erwartungsvoll blickte er auf Béarisean, als sei dieser sein Vorgesetzter.
Béarisean schüttelte den Kopf, aber Robin sagte: „Ja, wir suchen den dritten Ritter.“
„Den dritten Ritter?“ riefen Estohar und Thomas überrascht.
Robin war erstaunt. „Ihr wisst also nichts darüber, Herr Estohar?“
Anstelle Estohars antwortete Thomas. Erstmals wirkte er erregt. „Nein, Herr Anno“, sagte er. „Niemand von uns hat bedacht, dass die alte Weissagung noch nicht erfüllt sein könnte.“
„Von was redest du, Thomas?“ Estohar von Tarim war etwas ungehalten. „Wenn es noch eine Weissagung Breanainns gibt, warum hast du sie nie mir gegenüber erwähnt?“
„Ich spreche nicht von Breanainn“, sagte Thomas. „Erinnerst du dich nicht, Estohar?
"Grüne Wälder, Flammenpferd,
Herz von Feuer, stets bewährt,
trägt des Lichtes Bogen er,
pfeilgleich, schneller als der Speer
Saphirhimmel, Wolkenpferd,
Alandas‘ Tor wird nicht verwehrt
dem Ritter mit dem Adlerschild,
Schmerz brennt im Herzen ungestillt
Blut des Lebens, Pferd der Nacht,
aus alten Träumen wird gebracht
Hoffnung der zerbrochnen Welt,
wenn des Dunkels Herrschaft fällt.“
„Ach das“, sagte Estohar. „Das ist doch nur aus dem Epos über Colin von Donnacht. Die Stelle, wo das Kommen der Ritter des Königs angekündigt wird. Das ist keine echte Weissagung.“
„Allerdings ist sie das!“ erklärte Thomas. Seine Stimme klang gekränkt. „Die Experten sind sich einig, dass sie älter ist als das Lied, und ich sage, dass die Worte - vielleicht in etwas anderer Form - schon aus der Zeit vor den Großen Kriegen überliefert sind.“
„Nun, du bist der Fachmann für so etwas“, sagte Estohar. „Aber das betraf Colin, Elianna und Mharig. Es hat nichts mit uns zu tun.“
„Genau das ist der Denkfehler, den wir die ganze Zeit gemacht haben“, rief Thomas. „Alle dachten, die Worte bezögen sich nur auf jene drei Ritter. Aber sie wurden für uns heute gesagt. Das ist oft so mit diesen Prophetien. Sie beziehen sich auf eine nahe Gegenwart und zugleich auf eine ferne Zukunft. Wenn sie eintreffen, ist es oft nicht zu entscheiden, ob das Ereignis selbst oder nur ein Abbild des Ereignisses eingetroffen ist. – Doch jetzt sollten wir alle Schweigen bewahren darüber, dass wir noch einen dritten Ritter erwarten. Vielleicht weiß auch unser Feind nichts davon.“
„Darauf sollten wir besser nicht hoffen“, meinte Béarisean. Robin nickte.
„Dann können wir nur hoffen, dass unser dritter Ritter bald in Erscheinung tritt“, sagte Estohar. „Wo er sich wohl aufhalten mag? Ich werde meine Augen und Ohren gut offen halten. Möge der König es fügen, dass er Euch noch hier in der Hauptstadt begegnet.“
Sie wechselten noch ein paar Worte, aber schon relativ bald verabschiedete sich der Herr von Tarim. „Ich werde noch zu einer Sondersitzung des Rates erwartet“, sagte er. „Weiß der Teufel, was dieser Halunke von Donnacha da so Dringliches entdeckt hat, dass er uns allen das Fest verderben muss. Er hat sich wieder ungeheuer wichtig gebärdet.“ Er wandte sich an Béarisean. „Werden wir uns noch einmal sehen, bevor ihr weiterreist?“
„Ich glaube nicht“, sagte der junge Lord betrübt. „Es würde zuviel Aufmerksamkeit auf das Haus hier ziehen. Aber ich bin dankbar, dass ich dich heute treffen konnte.“ Zum Abschied umarmten sie sich schweigend. Estohar verbeugte sich noch höflich vor Robin, dann ging er.
Ihr Gastgeber war kaum wieder zu erkennen. Sein Misstrauen war vollkommen verschwunden. Seine Augen leuchteten „Ich kann es noch immer kaum fassen“, sagte er, sobald der Ritter von Tarim sie verlassen hatte. „Seid Ihr es wirklich oder träume ich das alles?“
„Eine Frage, die ich mir auch des öfteren stelle“, bemerkte Robin.
„Werdet Ihr der Ritter sein, der Colin von Donnachts Nachfolge antritt, mein Lord?“ wandte sich Thomas an Béarisean. In seiner Stimme schwang Ehrfurcht. „Der Bogen ist ein Erbstück Eures Hauses.“
„Ich weiß nicht“, sagte Béarisean zweifelnd. „Ich glaube nicht, dass jene Strophe zu mir passt.“
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