Es gab keine weiteren Zwischenfälle. Der alte Thomas empfing sie mit großer Erleichterung: „Ich war sehr in Sorge um Euch“, rief er. „Es sind schreckliche Dinge geschehen letzte Nacht. Während ihr fort wart, erhielt ich Nachricht davon.“
„Was ist passiert?“ fragte Béarisean erregt: „Wir hörten jemanden davon sprechen, dass die Palastgarde Staatsfeinde jagt.“
„Ein Putschversuch. Attentate auf Estohar und Airen. Die Lady ist tot. Vergiftet. Estohar hat wie durch ein Wunder überlebt“, sagte Thomas und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Wann ist das alles geschehen?“ rief Béarisean.
„Es war wohl schon im Gange, als Ihr ankamt“, sagte Thomas. „Wegen seines Besuches hier verspätete sich Estohar für die Sondersitzung. Er betrat mit zweien seiner Offiziere den Palast durch eine Seitentür und stieß auf Spuren eines Umsturzversuches. Es muss wild hergegangen sein. Der Mörder ist gefasst, aber einer der Haupträdelsführer entkommen. Die Garde fahndete den ganzen Tag in der Stadt nach Verschwörern. Mehr weiß ich selbst noch nicht.“
„Die Ereignisse überstürzen sich“, sagte Robin nachdenklich.
„Du bist dir sicher, dass Estohar überlebt hat?“ Béarisean ging im Zimmer auf und ab wie ein eingesperrtes Raubtier.
„Es geht ihm gut“, versicherte Thomas. „Abgesehen von der Sache mit Airen.“ Alle schwiegen.
„Wir können nichts tun“, sagte Béarisean schließlich und setzte sich. Dann fiel ihm der Zettel wieder ein. Sie unterrichteten Thomas in wenigen Sätzen über alles, was vorgefallen war. Das Stück Papier trug weder ein Siegel, noch eine Anrede oder einen Absender. Der Text lautete lapidar: "An die Ritter des Königs. Wartet bei Nacht am Alten Schloss auf die Boten des Fürsten. Ihr Führer wird Dorban heißen. Die Losung ist „Daoine Ri“. Strikte Geheimhaltung ist unabdingbar.“
„Da scheint jemand wirklich ausgezeichnet Bescheid zu wissen“, stellte Robin fest. „Die Botschaft ist wohl eindeutig an uns gerichtet. Doch von wem kommt sie?“
„An Fürsten gibt es in diesem Lande zwar keinen Mangel’, sagte Béarisean. ‘Doch es ist befremdlich, dass der Name nicht angegeben ist.“
„Vielleicht für den Fall, dass die Botschaft an den Falschen gerät?“ schlug Thomas vor. “Estohar wird sich freuen zu erfahren, dass einer der Fürsten – auch wenn noch unbekannterweise – hinter ihm steht.”
“Vielleicht Ruandor”, mutmaßte Béarisean. “Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ruandor auch Verrat am König begangen hat. Jedenfalls scheint die Ungewissheit für uns noch eine geraume Zeit weiterzugehen. Kein Name, kein Datum. Gerade noch, dass der Ort angegeben ist, wo wir warten sollen.“
Nachdenklich sagte Robin. „Das heißt dann wohl, dass wir dieses Haus gleich wieder verlassen müssen und unser Lager bei jenem Schloss aufschlagen.“
Thomas lächelte: „Das ist nicht nötig. Ihr befindet euch im richtigen Haus für dieses Unternehmen. Von einem Kellerraum aus verläuft ein unterirdischer Gang bis vor die Stadt und endet in der Nähe des Alten Schlosses.“
„Ein seltsames Zusammentreffen“, sagte Béarisean nachdenklich. Robin blickte ihn fragend an, fast klang er sogar beunruhigt, aber Béarisean schüttelte nur sachte den Kopf auf seine stumme Frage hin.
„Was ist nun eigentlich dieses Schloss? Ich dachte, hier gebe es nur die Burg.“ erkundigte Robin sich neugierig. „Hat die Palastgarde ihren Namen davon?“
„Nein“, sagte Thomas, „es ist kein richtiges Schloss. Östlich der Stadt steht eine alte Ruine, von der niemand mehr weiß, wann und wozu sie einmal gebaut worden ist. Es stehen nur noch die halb verfallenen Mauern. Seinerzeit sah das Gemäuer wohl recht respektabel aus. Daher nennen es die Leute das Alte Schloss. Seit ich mich erinnern kann, ist es über und über von Pflanzen überwuchert. Für ein geheimes Treffen ist es sicherlich ein geeigneter Ort. Dorthin verirrt sich des Nachts so schnell niemand. - dass die Palastgarde Palastgarde heißt und nicht Burggarde, geht auf einen der letzten Regenten zurück. Grivan von Gerid hatte eine recht große Vorliebe für klangvolle Namen und Prunk. Er ließ seinerzeit Teile der Burg erneuern und einen neuen Trakt bauen, den er seinen Palast nannte. Daher hat auch die Palastgarde ihren Namen.“
„Kennt Ihr eigentlich diesen Hauptmann Ciaran von der Palastgarde?“ erkundigte sich Robin.
„Kennen ist zuviel gesagt“, erwiderte Thomas. „Soweit ich weiß, ist er eigentlich ein recht netter Junge, nur etwas unausgeglichen. Estohar meint, er schaffe es einfach nicht, mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Manchmal geht wohl auch sein Temperament mit ihm durch. Letzthin soll er sich bei einer Prügelei in der Taverne "Zum Zigeuner" ziemlichen Ärger eingebrockt haben. Estohar war schlecht auf ihn zu sprechen.“
„Wenn Estohar tatsächlich noch mehr Leute von seiner Sorte hat, dann wundert es mich, dass er sich so in die Enge hat treiben lassen“, sagte Béarisean. „Ich glaube, mit diesem Ciaran zusammen würde ich gerne kämpfen. Er hat Mut, kann intelligent vorgehen und scheint dem König treu zu sein.“
„Mir hat er auch gefallen“, sagte Robin. „Mir schien auch, er hatte eine Ahnung, wer wir sind.“
„Bestimmt nicht“, sagte Thomas. „Wenn Estohar es irgendjemandem gegenüber hätte verlauten lassen, dass Ihr hier seid - was ich sehr bezweifle, vorsichtig, wie er ist - dann wäre bestimmt nicht Hauptmann Ciaran dieser Jemand gewesen.“
„Für wie gut hältst du Estohars Einschätzung von diesem Hauptmann?“ fragte Béarisean.
„Ich mische mich da nicht ein“, entgegnete Thomas. „Schließlich bin ich kein Kämpfer oder gar Ritter. An und für sich ist Estohar ein guter Menschenkenner und versteht es, mit anderen umzugehen, sie zu fördern oder zurückzuhalten, gerade wie es nötig ist. Nur mit diesem Ciaran tut es einfach nicht gut. Weiß der Himmel, woran es liegt. Doch wie gesagt, von solchen Dingen verstehe ich nicht viel. Dieser Ciaran war mehr der Schützling Lady Airens. Ich glaube, Estohar hätte ihn nie von sich aus zu einem seiner Hauptleute gemacht; aber die Lady hielt viel von dem jungen Mann, und Estohar brachte es selten fertig, ihr etwas abzuschlagen.“
„Übrigens ist da noch etwas“, begann Thomas. „Das mit dem Zauberbuch, das ihr erwähntet,wollte mir doch nicht aus dem Kopf und ich war noch einmal in dem Zimmer. Ich habe da tatsächlich etwas gefunden. Kein Buch. Nur ein Zettel, der bei den Büchern lag.“
Er zog eine Schublade auf und holte das Blatt heraus.
Béarisean und Robin betrachteten es interessiert. Das Papier war mit bunten Gruppierungen von Schriftzeichen und geometrischen Formen bedeckt.
„Das könnte es gewesen sein“, sagte Robin. Er streckte vorsichtig die Hand in die Richtung des Blattes, ohne es zu berühren. „Nur jetzt ist es wie tot. Heute morgen schien es lebendig, um das so auszudrücken.“
„Ich werde Estohar benachrichtigen“, sagte Thomas, „und es solange verschlossen halten. Ich verstehe nicht viel von diesen Dingen, aber ich habe einmal gehört, wenn ein Fluch gewirkt hat, erlischt er.“
„Und wie kommt das in Estohars Haus?“ fragte Béarisean ungläubig. „Er hätte so etwas nie geduldet!“
„Ich kann da nur einen Verdacht haben“, sagte Thomas betreten. „Es könnte dieser Erendar gewesen sein. Damals als Lady Moire so schwer krank war, begleitete er seinen Bruder, den Fürsten von Imreach, zum Rat. Die Lady ließ nach Erendar schicken, weil es hieß, er verstehe sich auf Heilung. Das tat sie, als Estohar mit den Situngen beschäftigt war. Als er es herausfand, war er ziemlich aufgebracht. Es heißt, er sei daraufhin mit den Imreachern recht heftig aneinandergeraten. Erendar jedenfalls kam nie wieder in die Hauptstadt. Es hieß dann vor ein paar Jahren, er sei auch aus Imreach verbannt worden. Seitdem hört man in den Tavernen gelegentlich Geschichten von dem dunklen Zauberer Patris Erendar.“
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Es war die achte Nacht, die sie an der Ruine vor der Stadt Wache hielten und auf die angekündigten Boten warteten. Robin war müde. Die Aufregung über den Putschversuch auf der Burg hatte sich schnell gelegt. Es gab keine weiteren interessanten Vorkommnisse. Thomas hatte ihnen die nötige Verpflegung und Ausrüstung für eine längere Reise besorgt. Sie hatten es kurz in Erwägung gezogen, Pferde zu kaufen. Aber dazu blieb noch immer Zeit, wenn sie wirklich welche bräuchten. Solange sie noch nicht wussten, wann und ob sie überhaupt aufbrechen müssten, war es einfacher, wenn nicht auch noch Pferde zu versorgen waren. Bei den Ausflügen vor die Stadt nahmen sie ihre Waffen mit. Dort im Dunkel vor den Mauern überwog das Risiko, angegriffen zu werden, die Gefahr, als Ritter erkannt zu werden bei weitem. Béarisean bemühte sich, Robin während der langen Tage im Haus in der Kupfergasse die Grundbegriffe des Schwertkampfes beizubringen. Bis jetzt waren die Ergebnisse jedoch noch nicht allzu großartig gewesen.
Jeweils kurz nach Einbruch der Dämmerung begaben sie sich zu der Ruine am Waldrand. Sie waren in diesen Nächten noch keiner Menschenseele begegnet. Die einzigen Geräusche die sie bisher gehört hatten, waren das Rauschen des Windes in den Bäumen, das entfernte Bellen von Hunden und ab und zu der Schrei eines Nachtvogels. Sie selbst sprachen während dieser Nächte wenig miteinander und wenn sie es taten, dann nur leise.
Robin trug die Harfe immer bei sich; er wollte sie auf keinen Fall in Croinathír zurücklassen.
Er kam sich gerade an diesem Abend etwas verloren und nutzlos vor. Das lag am Schwertkampftraining dieses Tages. Béarisean hatte am Schluss freundlich wie immer aber doch etwas ungeduldig den Waffengang beendet und bemerkt, dass es gewöhnlich schon ein paar Wochen oder Monate dauere, bis aus einem blutigen Anfänger ein akzeptabler Kämpfer werde. Robin hatte sich bis dahin Illusionen gemacht, dass er sich eigentlich gar nicht schlecht schlage. Es waren jetzt elf Tage, dass sie Arda verlassen hatten.
„Auf Arda ginge jetzt schon der vierundzwanzigste Dezember zu Ende“, sagte Robin leise, um sich von der Erinnerung an den Nachmittag abzulenken. „Falls die Tage gleich lang wären hier und dort.“ Er hatte die Harfe aus ihrem Etui geholt und berührte sanft ihre Saiten. Noch immer schienen davon Trost und Stärke auszugehen.
“Bei uns ist Mittwinter eine Liederzeit”, antwortete Béarisean ebenfalls gedämpft. “Du hörtest ja, was Thomas von Elianna und diesem Barden erzählte. Eine Geschichte, die auf Mittwinter passt. Aber hier ist erst Herbst.” Nach einer Weile fügte er hinzu: “Euer Weihnachten. Damals vor zweitausend Jahren auf Arda hat der König seine Boten gesandt“, sagte er. „Es könnte eine Geschichte aus dem alten Abhaileon sein, als Alandas noch unbestreitbare Wirklichkeit war.”
Robin konnte nicht widerstehen und zupfte den Anfang einer leisen Melodie - und da klang plötzlich von irgendwoher in der finsteren wolkenverhangenen Nacht ein Lied auf. Sie sahen sich verwundert an. War das die Botschaft? Sie verließen die Deckung der alten Mauern nicht, aber lauschten gespannt. Schon ließen sich die ersten Worte unterscheiden:
Gaudete, gaudete, Christus est natus
ex Maria Virgine. Gaudete!
“Latein”, murmelte Robin. “Ein Weihnachtslied.”
“Es müssen Boten aus Alandas sein. Wer würde hier sonst so etwas kennen”, flüsterte Béarisean gedämpft aber mit Erregung in der Stimme zurück.
Bei der nächsten Strophe konnten sie die Sänger erkennen: Vier weißgekleidete, fackeltragende Männer und eine weißgekleidete Frau in ihrer Mitte. In den Händen trug diese eine Kerze, die, obwohl sie nicht vor Luftzug geschützt war, trotzdem nicht flackerte. Auf ihren weiten Umhang fielen lange Haare. Die Schritte der Unbekannten verursachten kein Geräusch. Wäre nicht das Lied gewesen, sie wären wohl wie Geister vorbei geglitten.
Deus homo factus est natura mirante
mundus renovatus est a Christo regnante.
Keiner der fünf blickte auch nur zur Seite. Es war als existierten nur sie und dieses Lied auf dieser Welt, einer Welt fern von Abhaileon und noch ferner von der Erde. Béarisean und Robin hielten noch den Atem an, als das Lied schon in der Nacht weiter links zu verklingen begann.
Ecce caelis porta clausa pertransitur
unde lux est orta salus invenitur.
Die letzten Worte klangen noch einmal deutlicher auf.
“Vielleicht sollten wir ihnen folgen”, schlug Robin vor. Doch da hallte durch die Nachtstille lauter, schneller Hufschlag. Unwillkürlich duckten sie sich wieder an die schützende Wand der Ruine. Kurz darauf jagte im vollen Galopp eine Gruppe von in etwa zwanzig Reitern vorüber, ohne sie zu bemerken. Der Trupp bewegte sich in die gleiche Richtung wie vorher die geheimnisvollen Sänger.
„Was meinst du“, wiederholte Robin, als sie vorüber waren. „Sollen wir ihnen folgen?“
Béarisean zögerte. Dann sagte er: „Nein, ich glaube nicht. Das ist alles ziemlich seltsam.“ Er fasste Robin am Arm. „Bist du dir klar, wie viele, viele hundert Jahre wir hier in Abhaileon gewartet haben, dass so etwas wieder passiert? Hätten wir nur mehr Zeugen gehabt. Das könnte Estohars Regierung retten. Das könnte alle Probleme lösen, alle Zweifel beseitigen." Dann hielt er inne. „Vielleicht war das unsere Botschaft, auf die wir warten sollten. Sag, was haben sie gesungen? Ich war zu überrascht, um genau hin zu hören.“
Robin konzentrierte sich. „Die Melodie ist mir bekannter als der Text“, sagte er. „Ein Weihnachtslied aus unserem Mittelalter. Mir sind jetzt nur noch diese letzten Zeilen in Erinnerung. Etwas, dass die verschlossene Tür durchschritten wird. Dort wo das Licht geboren wird, werde das Heil gefunden.“
„Dann reiten wir morgen nach Osten“, erklärte Béarisean entschlossen. „Wo die Sonne aufgeht.“
„Aber ...“, wollte Robin einwenden.
„Wenn ich nur das mit der Tür genauer verstehen könnte“, sagte Béarisean, ohne ihn zu beachten. „Ob es sich um ein anderes Tor zwischen den Welten handelt? Es könnte sich auf Alandas beziehen.“
„Béarisean, es ist nur ein altes Weihnachtslied aus dem Mittelalter Ardas“, versuchte Robin ihn zu bremsen. “Wie auch immer es kam, dass es hier gesungen wurde.”
“Erinnere dich, was Thomas sagte”, beharrte Béarisean. “Prophetien beziehen sich meistens auf ein aktuelles schon geschehenes oder gesehenes Ereignis und treffen darin eine Aussage über etwas, das erst in der Zukunft geschehen wird. Und wir warten hier auf eine Botschaft, die uns weiterführt, und es kommt auf seltsame Art und Weise zu uns. Also?“
„Du könntest recht haben“, gab Robin zögernd zu. „Und wahrscheinlich kann es so niemand außer uns verstehen. Und doch. Sprach nicht die Botschaft, die wir erhielten, von anderen Dingen?“
„Ich habe es die ganze Zeit nicht gezögert auszusprechen“, sagte Béarisean langsam. „Aber dieser anderen Botschaft mag ich nicht wirklich trauen. Es ist zu sehr wie in einem dieser billigen Romane. So abgedroschen. - Das jetzt ist ganz anders. Zum einen geheimnisvoller und noch schwerer zu deuten und doch klarer in der Botschaft.“
„Du meist, das Pergament brachte eine Botschaft auf Pergament, aber die Harfe aus Alandas brachte Boten aus Alandas“, sagte Robin halb amüsiert. „Aber ich bin das Warten auch leid. Reiten wir einfach nach Osten morgen!“
So sehr waren sie in das Gespräch vertieft, dass keiner von beiden mehr ganz auf die Umgebung geachtet hatte. Auch die Reiter, die dem überwachsenen Pfad zum Alten Schloss folgten, ließen ihre Pferde in langsamem Schritt gehen, als fürchteten sie selbst unliebsame Überraschungen.
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