Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 6.2


Lassalle hielt seinen Braunen auf halber Höhe der Vulkanhänge an. Unter ihm lag die Festung Escail und die sich an sie anschließenden Weinberge an der Südseite der sanften unteren Hänge. Es war eine liebliche Landschaft. Und ein scharfer Kontrast zu den zerklüfteten Steinen, in denen sich der Weg weiter oberhalb verlor. Die Stadt Escaile duckte sich grau weiter unten in der Ebene. Dahinter erstreckten sich in Richtung Osten zuerst Felder und dann weite Wälder.
„Wie schön! Kann man von hier bis zur Grenze nach Roscrea sehen?“ Die junge begeisterte Stimme brachte fast ein Lächeln auf seine Lippen. Er hielt es zurück, auch wenn niemand es hätte sehen können, da er seinen Begleitern den Rücken zugewandt hatte.
„Aber nein, Evlin“, sagte Fürst Ros eilig. „Das ist zu weit weg.“ Seine Stimme war nervös. Jetzt lächelte Lassalle wirklich, aber es war Spott und ein wenig Verachtung, was in diesem Lächeln lag. Der Fürst fürchtete ihn. Vermutlich hätte er sich selbst in Gearaids Gesellschaft sicherer gefühlt. Dabei ...
„Es ist möglich“, sagte Lassalle, ohne sich zu ihnen umzudrehen. „Vom Gipfel des Vulkans, früh an einem sehr klaren Herbstmorgen.“
„Vielleicht könnten wir ja noch dort hinauf gehen“, meinte Evlin eifrig. „Ich wollte schon immer einmal so weit über das Land sehen können. Unsere Berge zu Hause sind viel niedriger.“
„Das würde zu lange dauern. Es war sehr freundlich von Euch, mit uns hierher zu kommen“, sagte Fürst Ros. Lassalle hörte die Unsicherheit in seiner Stimme. Unsicherheit und Besorgnis. „Es tut mir leid, dass meine Tochter Euch damit lästig fiel. Gerade jetzt, da Fürst Gearaid so unerwartet verreist ist, habt Ihr sicher viel zu tun.“
Lassalle wandte sich zu ihm um. „Nicht mehr als sonst.“ Die Aussage schien Ros noch mehr zu beunruhigen. Aber Evlin lächelte. Sie trieb ihr Pferd näher und legte eine kleine Hand auf seinen Arm. „Ihr seid ein guter Ritter, Lord Lassalle. Fürst Gearaid muss sehr glücklich sein, einen solchen Lehnsmann zu haben.“
„Evlin!“ Ros wurde noch besorgter. „Du solltest Herrn Lassalle nicht weiter zur Last fallen.“
Der Lord blickte auf die kleine Prinzessin herab und verzog keine Miene. Evlin sah ihrem Vater sehr ähnlich. Doch was an ihm zu weich wirkte, machte sie bezaubernd. Und wie es schien, hatte Ros bisher alle Sorgen von ihr fernhalten können. Sie war so vertrauensvoll und unschuldig wie sonst nur jüngere Kinder. Fast als spräche er zu sich selbst, sagte er: „Fürst Gearaid und ich haben gelegentlich auch Diskrepanzen. Zum Beispiel, was die Höflichkeit gegenüber einer kleinen Dame von zwölf Jahren anbelangt.“ Er verbeugte sich leicht mit einem Lächeln.
Evlin lächelte zurück. „Ich glaube auch nicht, dass der Fürst sich Zeit genommen hätte, mit mir hierher zu kommen“, sagte sie. „Er hat mich nie beachtet auf den bisherigen Besuchen.“
„Das könnte sich durchaus ändern“, sagte Lassalle mit einem Blick auf Fürst Ros.
Dieser begriff die Andeutung. „Ich danke Euch, Lord Lassalle. Ich bedauere es, dass ich nicht länger auf die Rückkehr des Fürsten warten kann. Aber die Lage in Roscrea wird immer bedrängter und erfordert meine Gegenwart.“
„Ich werde eine Eskorte mit Euch schicken. Eannas ist sicher genug – zumindest hier im Norden. Aber sie sollen Euch noch bis zu Eurem Ziel begleiten.“
Ros blickte ihn nachdenklich an. Lassalle wurde immer mehr zu einem Rätsel für ihn. Der Mann hatte einen denkbar schlechten Ruf. Abgesehen von seiner berüchtigten Vergangenheit galt er als absolut gewissenlos und skrupellos. Aber dies war schon die zweite dezente Warnung, die ihm gegeben wurde. Oder interpretierte er zuviel in diese harmlosen Sätze? Andererseits – sagte Lassalle jemals etwas ohne Absicht? „Ich danke sehr für die Eskorte. Wie Ihr wisst, hatte ich gehofft, sogar dauerhafte Unterstützung zu finden. Aber ich verstehe, dass Ihr darüber nicht entscheiden könnt, solange Fürst Gearaid nicht erreichbar ist.“
„Ich würde Euch nicht empfehlen, auf Unterstützung aus Eannas zu vertrauen. Wir haben hier unsere eigenen Probleme.“ Die Aufmerksamkeit des Lords richtete sich plötzlich auf den unteren Berghang. Ein Reiter hatte die Festung verlassen und trieb sein Pferd jetzt den Weg hinauf durch die Weinberge. „Ich fürchte, meine Gegenwart wird verlangt“, sagte Lassalle. „Ich hoffe, Ihr könnt mich entschuldigen.“
„Natürlich“, versicherte Ros eilig. „Ihr habt die Verantwortung für Euer Land. Wir werden den Weg zurück allein finden können.“
Lassalle nickte. „Hier und jetzt droht Euch keinerlei Gefahr. Ich warte weiter unten auf Euch.“ Er ließ sein Pferd in einen scharfen Trab fallen. Sein Land. Eannas war wirklich sein Land geworden. Er war vertrauter damit als Gearaid selbst. – Ros hatte nur wenig gesagt, nachdem er den Fürsten nicht hatte selbst antreffen können. Aber er hatte auch ihm mitgeteilt, dass er sich Hilfe gegen die Banden erhofft hatte, die begonnen hatten, sein Land zu verwüsten. Im letzten Winter war es ihnen sogar gelungen, eine der Burgen einzunehmen. Der einzige andere Nachbar war Sailean – und Sailean hatte neuerdings Schwierigkeiten mit Piratenüberfällen. Seitdem kam nur noch aus Illaloe im Grenzgebiet zwischen den beiden Provinzen gelegentliche Hilfe. Eannas war bisher in nichts behelligt worden. Die Aufständischen stellten keine ernste Bedrohung dar. Selbst nachdem Rudin zu ihnen gestoßen war. Lassalle lächelte grimmig. Er hätte das Problem schnell erledigen können, aber sollte Wilgos doch selbst herausfinden, wie man da vorging.

Er ließ sein Pferd in Schritt fallen. Er hatte richtig vermutet, es war der Lord von Rensdal, der nach ihm suchte. „Du hast also etwas herausfinden können.“
Ingvar zügelte seinen Falben vor ihm und nickte. „Was immer Wilgos vorhat, er ist ein Dilettant. – Gearaid hat ein Abkommen geschlossen mit jemandem namens Barraid. Dieser scheint auch die Banditengruppen zu dirigieren. Und jetzt ist Gearaid unterwegs zu diesem Barraid, der sich irgendwo im Norden Dalinies aufhält, um Näheres zu besprechen. Mehr ist leider fürs erste nicht herauszubekommen.“
Lassalle ließ sein Pferd im Schritt weiter gehen. „Wer weiß von deinen Nachforschungen?“
Ingvar lächelte müde. „Keiner mehr. Der einzige, der davon wusste, hatte einen Unfall. Was soll das alles?“
„Was meinst du?“
Ingvar verzog ein wenig die Lippen. „Ich kenne das Spiel nicht ganz so gut wie du. Aber jeder, der Augen und Ohren hat, weiß, dass Gearaid im letzten Jahr festgestellt hast, dass du ihn nicht fürchtest.“ Er lachte. „Ein Armutszeugnis für ihn, dass es dazu diese Angelegenheit brauchte. Erst als er seinen Kopf dir gegenüber nicht durchsetzen konnte ...“
Lassalle unterbrach ihn: „Es war meine Aufgabe, ihn davon abzuhalten, sich selbst dadurch Schaden zuzufügen. Er wollte meinen Rat nicht.“ Er hob gleichgültig die Schultern.

Ingvar antwortete nicht gleich. Ein paar Sekunden lang ritt er schweigend neben dem andern her und betrachtete ihn von der Seite. Er wusste, dass er es nicht unbemerkt tun konnte. Lassalle war nicht umsonst gefürchtet von – nun, von allen, ihm eingeschlossen. Auch jetzt verzog er keine Miene. Stets war er unergründlich. Langsam, nicht etwa zögernd, sondern im vollen Bewusstsein des Risikos, das die Worte in sich bargen, sagte Ingvar: „Du hättest es leicht regeln können, dass er seinen Willen bekam und dir kein Schade daraus erwuchs. All die Jahre glaubte Gearaid, er sei der einzige, der dir die Regeln setzte und dann ...“
„... setzte ich ihm die Regeln?“
Der Lord schüttelte nur leicht den Kopf. “... dann wurde es klar, dass du andere Regeln hast, denen du folgst.“

Lassalle zog die Zügel an und wandte ihm plötzlich seine volle Aufmerksamkeit zu. „Und das heißt?“
Ingvar hielt ihm gegenüber. Er zuckte die Schultern. „Ich weiß, dass ich tot bin, wenn du mich als Bedrohung erachtest. Selbst ich. Aber Wilgos lebt noch immer. Er hat die Leitung der Landessicherheit übernommen.“ Lassalle schnaubte verächtlich. „Du könntest leicht dafür sorgen, dass er Gearaids Gunst wieder verliert, dass Gearaid sich wieder ganz auf dich stützt. Aber du wartest ab.“
Lassalle schwieg. Ingvar hatte Recht. Er wartete ab. Er zögerte, seine alte Position wieder einzunehmen. Und er kannte den Namen des Grundes. – Ingvar blickte ihn an, aber als er nicht antwortete, sprach er weiter: „Du kannst Eannas nicht verlassen. Du wirst dich nicht einfach beiseite schieben und erledigen lassen. Aber bisher weichst du der Konfrontation aus, die sich daraus unweigerlich ergibt. Warum?“
Lassalle lächelte auf einmal grimmig. „Mir gefallen Gearaids neue Verhandlungspartner nicht, Ingvar. Aber sie sind sehr mächtig. Und ich habe vor, lange zu leben.“
„Dieser Fíanael. Ihr kanntet Euch, bevor er dann hier auftauchte.“
„Wir waren uns bereits begegnet.“

Ingvar beschloss alles auf eine Karte zu setzen. „Etwas warnt mich vor diesen neuen Bundesgenossen. Ich würde jede Änderung unterstützen, die uns dieses Abkommens entledigt.“
Lassalle zog eine Braue hoch. Dann schüttelte er den Kopf. „So wie es zurzeit steht, gibt es keine Möglichkeit.“ Er betrachtete Ingvar nachdenklich. „Einmal – vor langer Zeit kam zu mir ein Bote. Im Namen des Königs, sagte er.“ Er zuckte die Schultern. „Ich hörte nicht auf seine Botschaft. Aber in all den Jahren seitdem ist mir klar geworden, dass ich darauf hören würde, käme noch ein Bote dieser Art.“
„Ein Bote des – Königs?“ Ingvars Stimme klang seltsam. „Du und ...?“
„Ein Bote aus einer anderen Welt. Und etwas sagt mir, ich wäre heute Fürst von Ecrin, hätte ich auf ihn gehört. Aber ich hörte auf – Fíanael.“
Ingvar pfiff durch die Zähne. „Ritter des Königs und Abgesandte des Schwarzen Fürsten“, sagte er leise. „Und sie tauchen schon vor Jahrzehnten bei dir auf, als keiner überhaupt an einen König oder einen Schwarzen Fürst denkt. Und jetzt ist Fíanael wieder da.“
Lassalle lächelte amüsiert. „Ich sagte nichts von einem Schwarzen Fürsten.“
„Nun ja. Dort im Norden, wohin Gearaid so plötzlich eilte, liegt nichts außer Burg Tairg und den Ruinen von Carraig. Mag sein, dass Dorban von Tairg Ambitionen hat auf den Fürstenthron von Dalinie, aber dafür würde Gearaid Eannas nicht verlassen. Und dann murmelte Reginald etwas von dreimal verdammten Dämonen, als er diesen Fíanael sah. Ich stand gerade neben ihm, als er damals eintraf. Jetzt noch dein seltsamer Bote. – Nicht dass ich daran glaubte, aber es hört sich an wie die alten Sagen."

„Lass uns weiter reiten. Ros und seine Tochter werden uns bald einholen.“ Sie ließen ihre Pferde im Schritt durch die Weinberge gehen. „Was deinen anderen Vorschlag angeht“, Lassalle musterte den Lord von Rensdal nachdenklich, „könnten ein paar Vorarbeiten nichts schaden. Du könntest mit Elgin reden. Otho hat gewisse Vorbehalte gegen Renad. Rieken würde dir sicher interessiert zuhören. Du weißt, ich selbst halte mich derzeit aus diesen Dingen heraus.“ Er warf einen kurzen Blick hinter sich.
Ingvar nickte. Die Gäste aus Roscrea hatten sie fast eingeholt. Er wechselte fließend das Thema. „Seit Wilgos unterwegs ist und du Escail verwaltest, haben die Aktivitäten der Rebellen im Südwesten deutlich zugenommen. Seit den letzten Überfällen gibt es Gerüchte ....“
*******
„Es tut mir leid, dass ich Euch da nicht weiter behilflich sein kann.“ Im Stillen wünschte Diriac sich, er könne diesen neuen Gast so schnell wie möglich wieder aus Arrin wegschicken. Die Männer mochten die schwarzen Reiter aus Carraig nicht. Und diese winianischen Lords verursachten große Probleme mit ihrem arroganten Auftreten. Aber Restac hatte wie so oft nur unklare Angaben hinterlassen, wo er zu finden sei.
„Der Fürst wartet nicht gern.“ Asrain machte aus seiner Verärgerung keinen Hehl. Diese Banditen waren ein jämmerlicher Haufen. Im Großen und Ganzen war es Zeitverschwendung, sich mit ihnen abzugeben. Dass sie in Roscrea gewisse Erfolge verzeichnen konnten, machte eher eine Aussage über die Zustände dort als über die Kampffertigkeit dieses zusammengewürfelten Haufens.
„Ich werde Euch nicht abhalten, nach dem Kommandanten zu suchen. Aber in welche Richtung Ihr auch reitet, es ist wahrscheinlicher, dass Ihr ihn verfehlt und noch mehr Zeit verliert.“ Restac war Diriacs Halbbruder, aber so nannte er ihn nie. Sie hatten sich nie besonders nahe gestanden, wussten aber ihre gegenseitigen Fähigkeiten zu schätzen.

„Was ist das beste Quartier hier?“ Asrain fühlte eine große Abneigung gegen Diriac, mehr noch als gegen die anderen der Banditen. Etwas an diesem Mann stimmte nicht. Dennoch, er wusste, dass er jetzt Recht hatte.
„Nehmt Restacs Hütte, er wird nichts dagegen haben.“ Besonders da das den Gast aus Carraig möglichst weit von den Männern fern hielt. Restac würde lieber sofort wieder aufbrechen, als den Lord eine Stunde länger als nötig bleiben zu lassen. Es waren seltsame „Verbündete“, die sie da hatten. Sie profitierten davon, aber es gab bedeutende Nachteile. Andererseits, wie kündigte man jemandem, der mächtiger war, einen Pakt auf?
Diriac wusste, dass die Lage Restac ganz und gar nicht gefiel. Lieber hätte er auf ein paar Eroberungen verzichtet. Wozu mussten sie im letzten Winter jene Burg stürmen? Es war doch offensichtlich gewesen, dass sie sie nie würden halten können. Ein paar der schwarzen Reiter unter Lord Fíanaels Kommando waren bei dem Unternehmen dabei gewesen. Die Beute war reich genug. Den Rest hatten sie in Brand gesetzt. Fíanael war direkt nach Carraig zurückgekehrt. Diriac hatte sich nach ihrem Anteil erkundigt, das Beste vermutlich. Aber Restac hatte gelacht. Nein, es sei ihnen nur um einen Schlüssel gegangen, irgendein altes Erbstück aus der Zeit der Sagen und Legenden. Sie hatten das beide merkwürdig gefunden. Welches Schloss gab es schon, dass man nicht auch ohne Schlüssel öffnen konnte. Was für einen Wert konnte etwas haben, dessen Bedeutung offenbar selbst dem Besitzer nicht mehr bekannt gewesen war.

Asrain war kaum zu Restacs Hütte gegangen, als Diriac aufhorchte. Ein Wachtposten signalisierte, dass jemand auf das Lager zuritt. Nur wenig später war es schon klar, dass Restac zurückkehrte. Diriac atmete erleichtert auf. Er hatte sich schon düster ausgemalt, wie viele Tote Asrains Ankunft wohl zur Folge haben mochte. Er übernahm ohnehin nur ungern die Verantwortung für das Lager. Restac wirkte müde, als er bald darauf zu ihm kam. „Ein Gast aus dem Norden wie ich höre?“
„Lord Asrain“.
Restac holte tief Luft, als wolle er zu einem Seufzen ansetzen, dann atmete er aber wieder gleichmäßig aus. „Was will er?"
„Seine Hoheit, der Fürst von Winian, befiehlt dich unverzüglich nach Carraig.“
Restac grinste. Er war ein Meister darin, so unverschämt wie möglich zu grinsen. „Zu dumm, dass ich noch einige wichtige Dinge regeln muss. Lord Asrain wird sich gedulden müssen.“
„Tu was du willst. Solange du ihn nicht hier warten lässt.“
Diesmal war das Grinsen mehr eine Grimasse. Aber Restac nickte: „Solange ich dabei bin, hält er sich etwas zurück.“ Wieder der Beginn eines Seufzens, das sich in einen ruhigen Atemzug verwandelte. „Ich werde noch heute Nachmittag wieder los reiten. Aber er wird einen Umweg nach Südwesten machen müssen. Ich muss noch bei dem Vorposten dort vorbeisehen. Insbesondere, wenn ich danach nach Carraig muss. Sagte er etwas Genaueres?“
Diriac schüttelte den Kopf. „Es scheint nur brandeilig zu sein.“
„Lord Asrain in Person“, murmelte Restac. „Und das nur für einen Botendienst?“
Diriac zuckte die Schultern.

Restac ging mit schnellen Schritten zu seiner Hütte. Er verwarf den Impuls anzuklopfen sofort wieder. Es war seine Hütte, und es gab keinen Anlass zu Furcht! Der Innenraum war nicht groß. Asrain lehnte an der Einfassung des Feuerplatzes und schien sein Eintreten erwartet zu haben. Groß und breitschultrig wie er war, erschien der Raum zu klein dimensioniert, um ihn zu fassen. Die schwarze Uniform wollte nicht recht passen zu seinen Farben. Seine Augen waren voller Intensität. Restac ließ seine Satteltasche auf den leeren Schreibtisch fallen und ging zu dem Wasserkrug, der in einer Ecke stand. Es würde gut tun, ein wenig von der Müdigkeit mit kaltem Wasser abzuspülen. „Um was geht es?“ fragte er mit einem Blick zu seinem „Gast“.
„Wir hörten interessante Neuigkeiten“, sagte Asrain. Seine Stimme hatte einen sympathischen Klang. Restac wusste zuviel, um darauf etwas zu geben. Er wartete ab. Der Lord musterte ihn eine Weile, bevor er weiter sprach. „Der Fürst fragt sich, warum du Pat bisher nie erwähntest?“
„Pat“, Restacs Stimme war absolut flach. „Es gibt einige Pats hier. Hat es irgendwelche Vorfälle gegeben?“
„Genau genommen heißt er Patris“, sagte Asrain im Plauderton. „Wo ist er?“
Restac überdachte kurz seine Optionen; es dauerte nicht sehr lange. „Ich war auf dem Weg zu ihm“, gab er dann Auskunft, „es hält ihn nie lange hier in Arrin, aber er ist sehr nützlich da draußen.“
Asrain lächelte gewinnend. „Ich kann es kaum erwarten ihn wiederzusehen. Es gibt da eine Sache, die wir nie ganz zu Ende besprechen konnten.“

******
Rodil blickte nach Süden. Von den Mauern Bailodias reichte der Blick stets weit. Dies war das Land des Frühsommers, die Luft stets klar und rein, ungetrübt von Nebel oder Hitzedunst. Der Himmel ein tiefes Blau mit wenigen Wolken. Die Weiden in den leuchtenden Farben des jungen Grüns. Die Bergkette im Süden klar erkennbar: dichte Wälder standen an der Flanke des Gebirges, lichteten sich zu Hochwiesen, wandelten sich in tiefes Felsgrau und wurden mancherorts von strahlendem Weiß gekrönt.
Dort – ganz nah dem Herzen von Alandas – lag der versteckteste aller Pässe: Gleann Fhírinne. Selbst in diesem klaren Licht war er nicht auszumachen. Dennoch – er kannte den Weg. Jene Hänge dort hinauf, bis sich eine Schlucht auftat. Sie wand sich zwischen steilen Felsen bis zu einem kleinen Talkessel.
„Wonach schaut Ihr aus?“ Norin war heran getreten. Sie war die Befehlshaberin hier am Südtor. Jetzt stand sie neben ihm. Den Helm hatte sie nicht abgenommen, wie stets wenn sie Dienst hatte, aber ihre hellen Haar reichten weit den Rücken hinab und boten dem sanften Wind Angriffsfläche. „Gleann Fhírinne ist ein Pass der vielen Wege“, bemerkte sie. „Jeder kann einen Weg finden, aber selten wird der kürzte und beste gewählt.“
„Von hier aus gibt es nur einen“, sagte Rodil. Er sprach leise, aber in seiner Stimme lag ein Klang wie ein Lied.

Norin lauschte seinen Worten eine Weile nach. „Hibhgawl kennt ihn gut“, sagte sie, „und durchquerte ihn schnell. Doch seitdem streift er dort über die Hänge.“
„Was sahst du in jener Nacht?“
„Nur ein Wetterleuchten. Aber einen Augenblick lang dachte ich, meine lange Wache hier werde auf ihre Probe der Bewährung stoßen. – Wollt Ihr versuchen, ihn einzufangen?“
Rodil lachte. „Ich bin keiner seiner Favoriten. Das müsste schon Ríochan selbst versuchen. Aber er hat seitdem die Säulenhalle nicht mehr verlassen.“
Norin betrachtete eine Weile schweigend die Berge mit ihm. „Die Ritter sind also unterwegs“, stellte sie dann fest, „und auf einen wartet ein wildes schwarzes Pferd.“
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Isabell blickte aus dem Zugfenster. Die vorübergleitende Landschaft sah sie nicht, so tief war sie in ihre Gedanken vertieft. „Welchen Preis wäre ich bereit zu zahlen“, überlegte sie, „um auch in dieses Abhaileon zu kommen. Welche Tabus wäre ich bereit zu brechen?“ Sie fühlte sich um ihren Traum betrogen, seit Robin gegangen war. Zuerst war es nur Trauer gewesen über das, was ihr entgehen würde. Aber dann, ungefähr seit der ein wenig peinlichen Begegnung mit dem Fremden am Graben war Zorn dazu gekommen. „Ich habe auch ein Anrecht dorthin zu gehen“, murmelte sie trotzig. „Es ist einfach nicht fair.“
Sirok, der nur wenig entfernt saß, fiel ihr nicht weiter auf. Im Dunkel und im Regen hatte sie von dem Fremden damals kaum etwas gesehen.
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Restac hielt sich zur Seite. Er war sich sicher, dass Pat das Bedauern in seinem Blick über diesen Gang der Dinge gesehen hatte. Dieser musterte schweigend den Besucher, der mit dem Hauptmann gekommen war. Asrain lächelte, ohne etwas zu sagen; auf den ersten Blick schien Wärme darin zu liegen. Pat wandte den Kopf zu dem Hauptmann. „Ein nicht ganz erwarteter Besuch“, sagte er. Dann wandte er sich mit einer achtlosen kleinen Verbeugung dem anderen wieder zu. „Lord Asrain höchstpersönlich, also. Nur um mich zu sehen?“
„Du wirst auf Carraig erwartet“, das Lächeln war von Asrains Lippen verschwunden. „Ohne jegliche weitere Verzögerung.“
„Ich verstehe“, sagte Pat.
******

Ohne Zwischenfall erreichten sie nach fast drei Wochen die Grenze der Provinz Dalinie, die vom Fluss Toirseach gebildet wurde. Dorban ließ am diesseitigen Ufer das Lager aufschlagen, um die Gegend genau erkunden zu lassen, bevor sie weiterzogen. Hier im Grenzgebiet seien die Banditen besonders stark geworden, erklärte er. Ein Räuberhauptmann namens Restac hatte dieses Grenzland zu seinem Herrschaftsbereich erklärt. Dorban wollte es möglichst vermeiden, in eine direkte Konfrontation mit dessen Banden zu geraten.
Robin sah in dem Halt eine günstige Gelegenheit, sich von Béarisean ein paar weitere Fechtstunden geben zu lassen. Am zweiten Rasttag entfernten sie sich eine größere Strecke vom Lager, um sicher zu gehen, dass sie keine unerwünschten Beobachter hatten. Sie brachten zwei harte Trainingsstunden hinter sich und genossen dann die Herbstsonne, die auf die kleine Lichtung herunterstrahlte. Robin war zufrieden mit sich. Béarisean hatte zögernd gemeint, er lerne wirklich wider Erwarten schnell. Er hatte endlich eine der schwierigeren Paraden gemeistert. Béarisean saß mit dem Rücken gegen einen mächtigen Stamm einer auf der Lichtung wachsenden Eiche gelehnt, kaute auf einem Grashalm und blickte nachdenklich den Wolken über den Baumwipfeln nach. Robin verzichtete auf ein Gespräch. Der Kamerad hing in letzter Zeit meist düsteren Überlegungen nach. Was zu diskutieren war, hatten sie diskutiert. Keiner von beiden achtete auf das leise Knacken, das aus den Büschen um die Lichtung kam, keiner sah die Bewegung der Blätter, die nicht vom Wind hervorgerufen wurde. Sie schreckten erst auf, als auf ein leises Kommando hin mehrere verwegen aussehende Gestalten aus den Büschen brachen und mit Schwertern und Keulen auf sie zustürzten.
Die beiden Freunde waren im Nu auf den Beinen. „Den Rücken zum Baum!“ rief Béarisean Robin zu. Er selbst verteidigte sich mit geübten Schlägen gegen drei der Räuber. Robin versuchte sein Bestes, doch binnen kurzem wurde ihm das Schwert aus der Hand geschlagen, während er selbst noch keinen ernsthaften Hieb hatte austeilen können. Mit zwei  Gegnern war er schlichtweg überfordert. Verzweifelt duckte er sich vor dem nächsten Schlag. Da kam unerwartete Hilfe. Dorban war ob des langen Ausbleibens seiner beiden Schutzbefohlenen unruhig geworden. Kurz zuvor hatte er Nachricht erhalten, dass Restacs Hauptmacht zwar nicht zu fürchten sei, sich aber zwei kleinere Gruppen seiner Banditen in der Nähe herumtrieben. Sofort war er mit zehn seiner Männer auf die Suche nach den beiden Rittern gegangen. Sie erreichten die Lichtung gerade rechtzeitig, um Robins unrühmliche Niederlage zu beobachten. Seine Leute, die in der Überzahl und noch dazu beritten waren, hatten im Nu den Kampf beendet. Zwei der Banditen wurden getötet, die anderen konnten fliehen.

Béarisean steckte erleichtert sein Schwert in die Scheide, als Dorban heran ritt. Robin beeilte sich, das seine wieder aufzuheben. Dorban war zornig. „Meine Herren, bei allem Respekt, das war bodenloser Leichtsinn, sich allein soweit vom Lager zu entfernen“, wies er sie zurecht. Mit einem Blick auf Robin fügte er hinzu: „Mir scheint, Herr "Ritter" Robert, Ihr hättet etwas mehr Zeit auf Eure Fertigkeiten mit dem Schwert als auf die mit der Harfe verwenden sollen. Es genügt nicht, Lieder über das Kämpfen singen zu können.“ Robin fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. In Dorbans Augen war deutlich zu lesen, dass seine Bedenken in Bezug auf die Identität seiner beiden Begleiter wieder neu erwacht waren.
Da wandte sich Béarisean an den Ritter: „Ihr habt Recht, Herr Dorban. Es war leichtsinnig von uns. Wir danken Euch für eure Hilfe. Es mag sein, dass mein Freund Robin ein besserer Barde als ein Schwertkämpfer ist, denn er ist ein Meister auf der Harfe. Aber ein unglücklicher Zufall kann selbst den besten Kämpfer entwaffnen.“
Es sah nicht aus, als könne er Dorban damit überzeugen. Immerhin ließ er sich zu einer wenn auch mürrischen Entschuldigung herab: „Verzeiht meine harschen Worte. Aber ihr versteht wohl, wie ich kompromittiert wäre, wenn Euch in meiner Begleitung ein Unfall zustoßen würde.“
„Ich bin überzeugt, wir werden in Eurer Begleitung sicher an unser Ziel gelangen“, sagte Béarisean. Mit einem Lächeln fügte er hinzu. „Es heißt Dorban, Lord auf Tairg, sei ein gewaltiger Kämpfer und der größte Ritter Dalinies.“

Dorban war überrascht: „Warum glaubt Ihr, ich sei jener Dorban? So selten ist der Name nicht“, sagte er.
Béarisean lächelte nur. „Ich bin mir dennoch sehr sicher. Jedenfalls wissen wir die Ehre zu schätzen, dass Ihr es übernommen habt, uns Geleitschutz zu geben. Fürst Barraid muss ein bedeutender Herrscher sein, wenn er über Euch verfügen kann. Es erstaunt mich wirklich, seinen Namen noch nie gehört zu haben.“
„Das werdet Ihr schon bald selbst beurteilen können, “ antwortete Dorban höflich aber bestimmt.

„Tja“, bemerkte Robin später. „Unser Herr Dorban hat sich nicht nur als guter Führer, sondern auch als geschickter Diplomat erwiesen, als er dir da geantwortet hat. Aber woher wusstest du, wer er ist und warum hast du mir nie etwas davon gesagt?“
„Es war nur eine Vermutung. In den letzten Tagen erinnerte ich mich, wie Thomas erzählte, dass es Dorban von Tairg sei, der versuche, einige der Lordschaften in Dalinie zu einem Nordbund zusammenzufassen. In Croinathír sieht man die Entwicklung in Dalinie mit Erleichterung. Es kursieren Gerüchte, dass der Oberste Rat einem Antrag Dorbans auf den Fürstenthron positiv befürworten würde. Er ist in Dalinie allgemein anerkannt und hatte großen Erfolg im Kampf gegen die Räuberbanden dort.“
„Ich hätte es eher für unwahrscheinlich gehalten, dass uns so eine Berühmtheit abholt.“
„Das ließ auch mich zweifeln. Gestern hörte ich jedoch, wie sich zwei seiner Leute darüber unterhielten, dass sie nach diesem Ritt nach Tairg zurückkehren wollten. Ich hoffe, es hat ihn doch beeindruckt, als ich ihm zu verstehen gab, dass ich seine Identität kenne. Möglicherweise hat das unser lädiertes Ansehen als Ritter wieder etwas aufpoliert.“
„Sag lieber gleich mein lädiertes Ansehen“, meinte Robin bedrückt. „Du hast dich ja ganz gut geschlagen. Gibst du jetzt endlich deinen Verdacht gegen ihn auf?“
„Es ist kein konkreter Verdacht gegen Dorban“, sagte Béarisean. „Ich habe nur ein sehr ungutes Gefühl bei dieser ganzen Angelegenheit. Und im Grunde wird alles noch merkwürdiger. Dorban könnte bald Fürst von Dalinie werden. Warum sollte er sich dann von einem anderen Fürsten wie ein Untergebener herumschicken lassen?“
„Vielleicht bewundert er ihn’ schlug Robin vor.
„Ich kann es mir nicht vorstellen’ entgegnete Béarisean kopfschüttelnd. „Er ist nicht der Typ, dem Dienen lieber ist als Herrschen. Etwas stimmt nicht.
„Ich weiß wirklich nicht, was mit dir los ist“,  meinte Robin. „Meinst du der Schwarze Fürst hat uns eine freundliche Eskorte geschickt?“
Béarisean zuckte hilflos mit den Schultern. „Nein, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Es ist einfach eine Ahnung von Gefahr. Vielleicht gibt es sich, wenn wir diesem geheimnisvollen Fürsten endlich begegnen und sich meine Befürchtungen als unberechtigt herausstellen.“
„Bisher scheint alles in Ordnung zu sein“, er hob die Hand. „Du hast schon recht, einiges ist hier sehr seltsam. Aber du weißt doch, diese Harfe ist auch ungewöhnlich. Natürlich macht es Spaß, den Trupp hier zu unterhalten. Aber ich nehme sie nicht darum so oft heraus sondern weil ich, solange ich sie in der Hand halte, den Eindruck habe, dass wir noch auf dem richtigen Weg sind.“ Er hob die Schultern. „Ich bin mir einfach sicher. Erklären kann ich es nicht.“
******
Tage und Wochen vergingen. Ein sonniger Oktober wandelte sich allmählich in einen ungewöhnlich milden November. Wenn auch bereits die ersten Blätter fielen, so erinnerten immer noch einzelne Tage an den vergangenen Sommer. Die für diese Jahreszeit üblichen schweren Regenfälle hatten noch nicht eingesetzt. Ciaran versah seinen Dienst pflichtgemäß aber ohne große Begeisterung. Voller Ungeduld wartete er darauf, dass sich etwas tun werde, das die Dinge näher an die Entscheidung heranbrachte. Er sah ein, dass der Termin der Versammlung nicht auf ein früheres Datum hätte festgesetzt werden können, da zumindest die Fürsten aus den verhältnismäßig nahe gelegenen Provinzen oder deren Vertreter daran teilnehmen sollten. Selbst wenn er es nicht hätte einsehen wollen oder können, er wäre ohnehin nicht danach gefragt worden.
Und ein neues Problem war zu den alten dazu gekommen. Estohar war zwar etwas freundlicher geworden. Zumindest schien es so nach außen hin. Aber das hatte einen zuvor ungeahnten Nachteil; Ciaran sah sich plötzlich mit ansteigenden Mengen an Schreibarbeiten konfrontiert. Es waren durchaus nicht irgendwelche Schreibarbeiten, ganz im Gegenteil. Er lernte dabei viel über die Organisation der Garde und manche politischen Angelegenheiten. Doch es hielt ihn von anderen Dingen ab, die ihm wichtiger waren.
Wenn er wenigstens mit jemandem hätte sprechen können! Hätte Lady Airen noch gelebt, so wäre er zu ihr gegangen. Aber so. Colin lachte nur, als er vorsichtig versuchte, auf das Thema zu kommen. Er meinte, die Papierarbeit sei ein gutes Training um einmal Kommandant der Garde zu werden. Als ob Estohar ihn für etwas Derartiges vorsehen würde! Er hatte den Verdacht, dass das nur darauf hinaus lief, ihn von allen kämpferischen Dingen fernzuhalten.
Und er brannte darauf, über seine Begegnung mit den Rittern zu sprechen und die Möglichkeiten, die das eröffnete. Aber darüber durfte er nicht reden. So verschloss er sich resigniert immer mehr in sich selbst.

Estohar nahm Neill einmal zur Seite. „Hast du eine Idee, was in der letzten Zeit mit Ciaran los ist?“ fragte er. „Er ist irgendwie seltsam.“
„Ich weiß auch nicht“, sagte Neill. „Er ist kaum ansprechbar. Früher war er wirklich anders. Manchmal zu draufgängerisch. Aber er will nicht damit heraus, was es ist. Seinen Dienst versieht er jedenfalls bestens, soweit ich das beurteilen kann.“
„Sicherlich“, sagte Estohar. “Daran ist nichts auszusetzen. Manchmal frage ich mich sogar eher, ob er sich da nicht etwas übernimmt.” Eigentlich hätte er mit dem verwandelten Ciaran zufrieden sein sollen. Es gab auch nicht den geringsten Grund mehr für Verweise. Dennoch war auch etwas Beunruhigendes daran; es wirkte - unbalanciert. Das war das Wort. Da war etwas, was jederzeit umkippen konnte. Estohar war zufrieden, als seine Überlegungen diesen Punkt erreichten.

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