IV Ein missglückter Anschlag
"Die Kinder dieser Welt sind im Umgang mit ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichtes." Lk 16,8
Mit etwa zwanzig Minuten Verspätung näherte sich Estohar – jetzt wieder in vollem Staat - dem Sitzungssaal im Hauptgebäude der alten Burg. Der großen Eile wegen hatten er und seine beiden Begleiter das Gebäude durch einen selten benutzten Nebeneingang betreten.
Die Mitglieder des Rates mussten bereits versammelt sein. Estohar legte für gewöhnlich großen Wert auf einen pünktlichen Beginn. Einmal - es lag nun schon mehr als ein Dutzend Jahre zurück und sein Ansehen war noch größer gewesen als jetzt - als die Ratsmitglieder ihrer Anwesenheitspflicht immer nachlässiger Genüge taten und es einzureißen begann, dass jeder ging und kam, wann es ihm passte, hatte er nach mehrfacher Verwarnung zwei der saumseligsten Übeltäter kurzerhand ihres Amtes enthoben und einigen anderen den temporären Verlust ihres Stimmrechtes und Streichung der Apanagen angedroht. Das zu tun, stand zwar innerhalb seiner Kompetenzen, dennoch hatte es einen tüchtigen Tumult ausgelöst. Nach einigem Hin und Her hatte sich jedoch die Mehrheit des Rates, insbesondere die meist abwesenden Fürsten, die einen wesentlichen Anteil der Kosten zu tragen hatten, hinter ihn gestellt. Seitdem kam niemand mehr ohne triftigen Grund mehr als zehn Minuten zu spät. Er lächelte still in sich hinein.
Von seinen üblichen permanenten Verfolgern und Beobachtern hatte er an diesem Abend nichts bemerken können. Vielleicht war Turgans Abreise wirklich so überraschend und dringlich gewesen, wie dieser behauptet hatte. Denn er war sich sicher, dass dieser es war, der hinter ihm her spionieren ließ. Er suchte mit Eifer einen Grund, ihn aus der Position als Ratsvorsitzender herauszuhebeln. Doch zu seinem großen Leidwesen war Estohars Lebenswandel eine einzige Dokumentation von Ehrbarkeit.
Schon als sie sich jetzt dem Vorraum der Versammlungshalle näherten, drang ihnen, obwohl die Tür zum Saal geschlossen war, lebhaftes Stimmengewirr entgegen. Anscheinend war den Anwesenden noch mehr nach Feiern als nach Beraten zu Mute. Estohar wollte Ciaran und Neill bereits an der Tür zur Vorhalle verabschieden. Doch als er beiläufig einen Blick durch die angelehnte Tür in ebendiese Vorhalle warf, stutzte er. Der Vorraum selbst war leer bis auf die zwei Wachen, die an der Tür des Saales ihren Posten bezogen hatten. Die Wachen trugen die Uniformen der Palastgarde aber ...
„Hat Lady Airen neue Männer eingestellt?“ fragte er leise. Die beiden schüttelten den Kopf. „Bestimmt nicht. Schon gar nicht während der Festtage“, versicherte Neill. Er folgte Estohars Blick. „Die beiden kenne ich nicht. Sehr seltsam.“
„Soweit ich den Plan im Kopf habe, sollten hier Dan und Ian stehen“, sagte Ciaran. In seinen blauen Augen begann es wieder zu funkeln. „Das sieht nach Verrat aus. Mir scheint auch, die beiden da gehören zu Turgans Leuten. Der links sieht aus wie einer von denen, die vor drei Wochen diese Auseinandersetzung provozierten.“ Er hatte die Hand schon an seinem Schwert. Auch Neill griff beunruhigt nach seiner Waffe.
„Nun, nun“, besänftigte Estohar. „So schlimm muss es ja nicht gleich sein. Es kann sich einfach um eine kleine Eigenmächtigkeit Donnachas handeln. Das wäre typisch für ihn.“
„Es gibt eine Möglichkeit, das nachzuprüfen. Die nächste Wache sollte am Fuß der Haupttreppe stehen“, sagte Neill, der ebenfalls alarmiert war. „Ich sehe nach.“
Als er kurz darauf zurückkam, war er bleich. „Etwas stimmt hier nicht. Auch dort stehen Fremde“, sagte er. „Und am Haupteingang dasselbe.“
Estohar überlegte kurz. Sehr unwahrscheinlich, dass Airen, die auch schon auf der Versammlung sein musste, so etwas toleriert hätte. Irgendetwas musste geschehen sein, das sie hinderte einzugreifen. Der Verdacht, dass hier ein Umsturz stattfinden sollte, war naheliegend. Aber wieso war er dann bisher unbehelligt geblieben? Wieso war der Rat offensichtlich noch ahnungslos? Da war einiges unstimmig.
„Das wird, wie es scheint, ein interessanter Abend“, sagte Estohar grimmig. „Wie lange wird es dauern, bis ihr genug von den Männern zusammen habt, um für Ordnung zu sorgen?“
„Zwanzig Minuten zum wenigsten“, sagte Neill. „Wenn Ciaran den Seitenausgang freihält und die hier nicht gewarnt werden, bekommen wir das in den Griff.“
„Kein Problem“, sagte Ciaran. „Was werdet Ihr tun, Sir?“
Estohar lächelte. „Ich werde zu meiner Sitzung gehen und vorgeben, mir fiele nichts auf. Das heißt, ich werde tun, als fiele mir das Falsche auf. Wartet ab, ob die beiden im Vorraum mich anstandslos durchlassen und kümmert euch um sie, falls einer von ihnen Verdacht schöpft.“
„Sei vorsichtig bei den Quartieren“, raunte Ciaran Neill zu, während er an der Tür vorbei spähend, den Vorsitzenden im Auge behielt, „wenn der Gegner nicht extrem dumm ist, hat er Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.“ Sein Kamerad nickte stumm. Er wartete angespannt, ob Estohar sein Ziel würde erreichen können.
Der Ratsvorsitzende steuerte mit festen Schritten auf den Sitzungssaal zu. Als die beiden Soldaten ihn erkannten, schienen sie im ersten Augenblick beunruhigt, wenn nicht gar erschreckt. Doch sie salutierten ordnungsgemäß und wollten sich dann beeilen, die Türflügel zu öffnen. Davon hielt sie jedoch ein kurzer Wink Estohars ab.
Er runzelte verwundert die Stirn. „Seit wann tut ihr Dienst in der Palastgarde?“ wandte er sich streng an die beiden Posten.
Die blickten verlegen. „Seit heute, Sir. Auf Empfehlung von Lord Donnacha hin“, antwortete der eine.
„Auf dieser Burg befiehlt Lady Airen! Hat sie diesen Befehl bestätigt?“ erwiderte Estohar.
„Lady Airen ist plötzlich schwer erkrankt, Sir. Ihr wart nicht zu erreichen, daher hielt Lord Donnacha es für angebracht, die Wache für dieses Treffen selbst auszusuchen. Er sagte, es sei sehr wichtig, Sir“, gab einer der beiden Männer Auskunft.
Diese Nachricht war eine böse Überraschung, wenn sie auch eine halbwegs glaubwürdige Erklärung für den Austausch der Wache lieferte. Airen sollte krank sein? Noch vor wenigen Stunden war ihr nichts Ernsthaftes anzumerken gewesen. Weniger erstaunlich war, dass Donnacha sich in einem solchen Fall veranlasst fühlen sollte, sofort als ihr Stellvertreter zu agieren. Als Lady Airens Verwandter hatte er ein gewisses Anrecht, sie im Notfall in ihren Pflichten zu vertreten. Jedoch war es unbestreitbar ein Affront, Teile der alten Palastgarde sofort durch die eigenen Leute zu ersetzen. Natürlich war Estohar klar, dass Donnacha die Zusammensetzung der Palastgarde seit langem ein Dorn im Auge war. Die Männer der Garde standen ganz auf der Seite des Vorsitzenden. Schließlich entschieden Estohar und Airen, wer in die Truppe aufgenommen wurde. Donnacha hatte mehrmals vergeblich versucht, Kandidaten seiner Wahl darin unterzubringen. Nun, Neill und Ciaran würden binnen kurzem in Erfahrung gebracht haben, ob es sich hier lediglich um eine Unverschämtheit Donnachas oder um Ernsteres handelte.
„Lord Donnacha sollte besonders gut wissen, dass es das Privileg der altgedienten Männer der Palastgarde ist, hier Wache zu stehen“ sagte Estohar zornig. „ Ich werde mit ihm ein ernstes Wort über sein Vorgehen reden müssen.“
Im Saal selbst war es unterdessen noch lauter geworden. Nun wurde heftig diskutiert. Es herrschte ein so ungewöhnlicher Tumult, dass Estohar nicht sofort bemerkt wurde, als er durch die Tür trat. „Wir können die Beratung nicht beginnen, bevor der Vorsitzende da ist!“ rief eine erregte Stimme, die sich über die anderen erhob. Das war wohl der alte Sharin von Connag.
„Ruhe!“ dröhnte eine andere Stimme noch lauter, während jemand die Glocke ertönen ließ. „Ruhe, meine Damen und Herren! Kraft meines Amtes als Stellvertretender des Vorsitzenden erkläre ich die Sitzung für eröffnet. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass der Vorsitzende selbst heute Abend nicht anwesend sein kann.“
Die Tür schloss sich hinter Estohar, als er eintrat: „Das würde mich aber sehr interessieren, Donnacha, was für eine sichere Quelle das ist“, sagte er in die Stille hinein, die auf die Behauptung seines Stellvertreters gefolgt war.
Donnacha erbleichte. Seine Hände verkrampften sich kurz auf dem Tisch, als wolle er wieder von dem Stuhl aufspringen, auf dem er sich gerade niedergelassen hatte. „Das ist nicht ...“, begann er, gewann aber dann seine Fassung zurück. „Was für eine unerwartete Freude, Euch zu sehen, Ritter von Tarim“, rief er. „Es scheint, dass ich in der Tat falsch informiert wurde. Denn mir wurde berichtet, Euch habe genau wie meine hoch verehrte Kusine, Lady Airen, eine plötzliche Krankheit ereilt.“
„Da wir schon gerade beim Thema sind“, meldete sich eines der Ratsmitglieder zu Wort. „Was ist mit Lady Airen? Warum ist sie nicht hier in der Versammlung?“
Donnacha blickte ernst. „Die Ärzte sind noch bei der Lady. Es scheint sich um einen Herzanfall zu handeln. Ihre Gesundheit, auch wenn sie das verbarg, war während der letzten Wochen nicht mehr die allerbeste, und die Festlichkeiten waren wohl eine zu große Anstrengung für sie.“
„Das ist eine üble Nachricht“, sagte Estohar. „Ich hätte sofort von ihrer Erkrankung unterrichtet werden sollen. Warum ist das unterblieben?“
„Verzeiht“, sagte Donnacha. „Es kam alles so unvorhergesehen. Es hat mich sehr bestürzt, als vor kaum einer Stunde der Anfall kam. Ich verehre meine Kusine sehr, wie Ihr wohl wisst. Wir unterhielten uns gerade miteinander, als das Unglück geschah. Danach war ich so beschäftigt, für einen Arzt und alles Nötige zu sorgen, dass ich gar nicht daran dachte, Euch diese Nachricht zukommen zu lassen. Dazu noch die Vorbereitungen für diese Sitzung. Ich bin selbst erst vor wenigen Minuten mit Verspätung hier im Saal eingetroffen und wunderte mich sehr, Euch nicht anzutreffen. Dann berichtete mir Herr Alan, Ihr wäret erkrankt. Ihr seht, wie es meinerseits zu diesem Missverständnis kam.“ Er warf Alan einen wütenden Blick zu.
Die Nachricht über Lady Airens Erkrankung war Anlass für weitere Gespräche unter den Ratsmitgliedern, die immer noch nicht ihre Sitze aufgesucht hatten. Auf eine Verspätung mehr oder weniger kam es allmählich nicht mehr an. Estohar war eine Verzögerung sogar lieb, so gewannen Neill und Ciaran Zeit zum Handeln. Er verdrängte seine Angst um Airen, denn es galt einen klaren Kopf zu behalten. Er winkte Sharin von Connag zu sich. „Wer hielt vor der Tür Wache, als du in den Saal kamst?“ fragte er.
„Tut mir leid“, sagte Sharin. „So gut kenne ich die Männer der Palastgarde nicht, dass ich dir da Auskunft geben könnte. Aber du bist doch selbst an den beiden vorbei.“
„Es waren also Männer der Palastgarde“, forschte Estohar nach. „Dir ist sonst nichts aufgefallen?“
„Aber natürlich waren es Männer der Garde“, sagte Sharin verwundert. „Wer sonst? Was sollte mir denn auffallen? - Das mit Airen ist doch wirklich schrecklich.“
Währenddessen hatte Donnacha die Gelegenheit genutzt, ein paar Worte mit Alan zu wechseln. „Warum lebt er?“ zischte er. „Du hast doch behauptet, mit eigener Hand dafür sorgen zu wollen, dass alles heute Abend glatt über die Bühne geht. Vorhin noch ...“
„Ich begreife es selbst nicht“, raunte Alan bestürzt zurück. „Ich habe genau gesehen, wie er den Kelch geleert hat. Aller Logik nach müsste er tot sein oder zumindest kurz davor. Ihm hatte ich eine deutlich stärkere Dosis zugedacht als der Lady. Ich war vorhin dort, wie ich sagte. Alles schien nach Plan zu gehen.“
„Und wie es nach Plan geht”, zischte Donnacha zurück. Unruhig schaute er sich im Saal um. Zum Glück schien Estohar noch keinen Verdacht zu schöpfen. Anzeichen einer Erkrankung zeigte er allerdings leider ebenfalls nicht. Es war offensichtlich, dass dieser Abend nicht so reibungslos wie geplant laufen würde.
Estohar war weiter geschlendert zu seinem Freund Mairtin von Bhrige. „Scheint ein seltsamer Abend zu sein“, begrüßte der ihn.
„Wie kommst du darauf?“ fragte Estohar um eine Spur schärfer, als er eigentlich beabsichtigt hatte.
Mairtins Gesicht bekam plötzlich einen wachsameren Ausdruck. „Eigentlich hatte ich damit nur zum Ausdruck bringen wollen, dass es seit zwanzig Jahren oder mehr das erste Mal ist, dass du zu spät zu einer Sitzung kommst. Doch jetzt, da ich dich genauer betrachte und diesen Unterton in deiner Stimme höre, ist mir klar, dass tatsächlich etwas Wichtiges geschehen sein muss. Etwas dass deine alte Kämpfernatur wieder etwas mehr zum Vorschein bringt. Verrätst du einem alten Freund, was es ist oder ist es noch ein Staatsgeheimnis?“
„Teils, teils“, sagte Estohar. Er sah sich vorsichtig um, ob jemand sie belauschen konnte. „Einerseits gibt es eine gute Nachricht, von der ich dir leider noch nichts erzählen kann, andererseits haben wir hier im Palast ein Problem. Wie weit, glaubst du, würden Donnacha und Turgan gehen, um die Macht an sich zu reißen?“
„Die Frage, wie weit sie nicht gehen würden, wäre schwieriger zu beantworten“, lachte Mairtin. Doch als er Estohars Gesicht sah, wurde er sofort vollkommen ernst. „Ich hatte schon die ganze Zeit so eine Ahnung, dass an diesem Abend ein Schlag gegen uns geführt werden soll, aber du scheinst mehr als einen Verdacht zu haben.“
„Alle Wachen der Palastgarde sind durch Donnachas Männer ersetzt worden“, sagte Estohar. „Du weißt, welcher Schluss da nahe liegt.“
„Du meinst...? Grundgütiger Himmel. An so etwas hatte ich nicht gedacht. Wir müssen etwas unternehmen!“ rief Martin.
„Nur ruhig“, sagte Estohar. „Es wird schon etwas unternommen. Unsere Widersacher haben keine Übung in solchen Dingen, wie es scheint. Jedenfalls kam ich mit zweien der Offiziere vollkommen unbemerkt und unbehelligt durch den Seiteneingang im Westflügel herein. Durch Zufall fiel uns der Wechsel der Wachen auf, bevor irgendjemand uns erblickte. Die beiden Offiziere kümmern sich jetzt um die Angelegenheit. Ich habe begründete Hoffnung, dass sich die Dinge ab heute abend wirklich noch zum Guten wenden werden.“
„Deine gute Nachricht, die du mir nicht verraten willst, scheint wirklich gut zu sein“, Maitin immer noch sehr beunruhigt.
„Das ist sie“, bestätigte Estohar. „Sie verringert nicht die Gefahren, aber gibt uns Hoffnung, sie zu bestehen. Das ist viel in unserer Zeit. Sprich jetzt mit keinem anderen davon.“ Nach diesem Gespräch plauderte er noch kurz mit verschiedenen Ratsmitgliedern, begab sich dann aber schließlich an seinen Platz und bat um Ruhe.
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