VI Schritt um Schritt
„Was hältst du von dieser Feier?“ Neill war zu Ciaran getreten, der im Hintergrund der Eingangshalle stand und beobachtete, wie die Gäste eintrafen.
„Er hat Kennard mit eingeladen“, sagte Ciaran nachdenklich, den Blick auf die gerade eingetroffenen Gäste gerichtet.
Neill lachte. „Ja, er stand auf der Liste, wie du sicher gesehen hast. Traust du den Männern nicht zu, es gründlich genug zu überprüfen?“
Ciaran lachte auch. „Kann schon sein. Estohar hat irgendetwas vor. Und ich denke, ich bin nicht der einzige, der das vermutet.“
„Jeder redet darüber. Niemand hatte erwartet, dass er auf die Idee käme, so bald nach dem Staatsbegräbnis Lady Airens ein Fest abzuhalten. Jeder weiß, wie er um sie trauert.“
„Er ist sehr verändert seit der Nacht, in der der Putschversuch stattfand“, meinte Ciaran. „Er hat ein konkretes Ziel, auf das er hinarbeitet. Nun, er hat ja eine Begründung gegeben, warum er feiern will.“
„Ja“, sagte Neill kopfschüttelnd. „Um dem König zu danken, dass er den Anschlag auf sein Leben überlebt hat und die Intrigen gegen ihn so schnell entlarvt werden konnten. – Es ist Jahre her, dass er so offen vom König gesprochen hat. Aber die Gästeliste passt zum Anlass.“
„Genau deswegen wundere ich mich über Kennards Anwesenheit. Estohar muss wissen, dass er in der letzten Zeit öfters bei Turgans Freunden gesehen wurde. – Ich bin froh, dass ich heute hier Dienst habe.“
Neill grinste. „Colin wusste, dass du unbedingt dabei sein willst. Deshalb hat er Estohar etwas von dringenden Gründen erzählt, warum er heute in der Hauptstadt bleiben muss.“ Ciaran blickte überrascht auf. Aber Neill fügte leise hinzu. „Du hast es verdient. Ohne dich wäre es mit dem Putsch nicht so klimpflich abgegangen. Estohar ist der einzige, der so tut, als wüsste er das nicht.“ Er klopfte Ciaran auf die Schulter, bevor er ging. „Ich glaube, diesmal wirst du keine Spione finden – außer den eingeladenen.“
Ciaran blieb nachdenklich zurück. Nicht wegen der Bemerkung über die Spione. Da hatte Neill natürlich Recht. Estohar hatte sicherlich ganz bewusst ein paar Leute eingeladen, die seinen Gegnern das eine oder andere erzählen sollten. Auf diese Weise hatte er die Informationen, die hinausgingen, am besten unter Kontrolle. Nein, ihn überraschte, dass Colin für ihn den Dienst getauscht hatte. Colin war der dienstälteste der vier Hauptleute. Sie wechselten kaum je ein paar Worte miteinander, außer dem, was das Dienstliche betraf. Er hatte bisher immer gedacht, er hielte genauso wenig von ihm wie Estohar. Andererseits hatte er gerade begonnen gehabt, sich in Bezug auf Estohar neue Hoffnungen zu machen, da er nicht der war, der in der Stadt zurückgelassen worden war. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den eintreffenden Gästen zu. Gleich was Estohar dachte, er würde seine Arbeit hier so gründlich wie möglich machen.
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Am späteren Abend bat Estohar einen Teil seiner Gäste zu einer besonderen Besprechung in einem etwas abgelegeneren Zimmer, während in den anderen Räumen die Festlichkeiten weitergingen. Schon vor dem angegebenen Zeitpunkt waren alle versammelt, denn die allgemeine Neugier, was Estohar wohl sagen oder tun werde, war groß. Das Treffen war nicht geheim. Wer nicht dazu gebeten war, wusste zumindest, dass es stattfand.
Estohar sah zufrieden aus, als er in das Zimmer trat und alle bereits versammelt fand. „Ich will euch nicht mit langen Reden langweilen“, begann er. „Denn wir alle haben oft und lange darüber gesprochen, wie es mit unserem Land mehr und mehr bergab geht. Wie der Einfluss des Rates in ganz Abhaileon mehr und mehr schwindet. Wie sich viele Fürsten selbst in ihren eigenen Provinzen kaum noch gegen die Banditen durchsetzen können. Und über das eine Thema, das uns alle, die wir hier versammelt sind, sehr berührt und trifft, dass sich parallel zu dem äußeren und inneren Zerfall unseres Landes auch immer mehr Menschen vom Glauben an den wahren Herrscher Abhaileons abwenden und ihm die Treue versagen.“ Hier hielt er inne und blickte auf die Versammelten, als erwarte er etwas Bestimmtes.
Manche blickten sich fragend an. Doch es schien schon als wollten alle weitere Informationen abwarten, bevor sie sich äußerten, als Kennard die Stille unterbrach. „Du sagst ganz richtig, dass wir oft und lange darüber gesprochen haben. Aber sind wir das Problem denn auch richtig angegangen?“
„Was meinst du damit, Kennard?“ fragte Estohar ruhig.
Kennard warf nervöse Blicke um sich. Seine Augen streiften über die Gesichter der Versammelten bei dem Versuch, im vornherein abzuschätzen, wie sie wohl auf seine nächsten Worte reagieren würden. „Nun, ich meine zum Beispiel, dass es absolut hoffnungslos ist, von einem modernen Menschen zu verlangen, an Boten eines Fürsten von Alandas und Ritter des Königs zu glauben. Das passt in Märchen und Mythen. Aber mit unserer täglich erlebten Realität hat das absolut nichts zu tun.“
Seine Worte zeigten weniger Wirkung auf Estohar, als er erwartet hatte. „Sprich nur weiter“, sagte der Vorsitzende freundlich. „Genau über dieses Thema wollte ich heute Abend auch reden.“
Alle – Kennard inbegriffen - starrten auf Estohar, die meisten zutiefst erstaunt, einige schockiert. Früher hätte er auf solche Äußerungen heftig reagiert. Aber noch bevor Kennard weiter sprechen konnte, fand der erste der anderen Gäste seine Sprache wieder. „Was soll das heißen, Kennard?“ fragte in scharfem Tonfall Padraig von Raoba. „Gehörst du seit neuestem zu Turgans Freunden? Dann geh lieber gleich!“
„Ha!“, rief Kennard zornig. „Da wage ich es, auf einen Punkt hinzuweisen, in dem wir nicht so verbohrt auf einem alten, überholten Standpunkt beharren sollten. Ganz bewusst habe ich etwas besonders Unsinniges als Beispiel gewählt. Und sofort wird mir vorgeworfen, ich sei einer von diesen Nihilisten, die an gar nichts mehr glauben. Bist du dir klar darüber, Padraig, was für einen Vorwurf du mir da gerade gemacht hast? Glaubst du nur Leute von deiner Sorte zählen etwas?“
„Na, erlaube mal“, rief Padraig ebenso wütend zurück. „Bist du dir klar darüber, dass das, was du da sagst, der Anfang des Verrates ist? Denk an Diarmaid, an Ken und Ola. Bei denen fing es genauso an.“
„Unsinn“, mischte sich nun Lady Irene ein. „Wenn wir nur stur und steif auf einmal gefassten Meinungen bestehen, ist niemandem geholfen. Ich schließe mich Kennards Auffassung an, dass wir ein paar Abstriche in weniger wichtigen Dingen machen sollten, um besser auf das Entscheidende verweisen zu können.“
„Ich bin die letzte, die sich dagegen aussprechen würde, in weniger wichtigen Dingen Abstriche zu machen“, sagte daraufhin Lady Sharon von Ran. „Aber wie kommt Ihr nur auf die Idee, dass das etwas total Unwichtiges ist?“
„Willst du behaupten, dass du damit rechnest, dass heute oder morgen, so ein sagenhafter Ritter hier hereinspazieren wird, um uns in dieser schwierigen Lage zu helfen?“ fragte Kennard ironisch.
„Damit rechnen ist zu viel gesagt“, antwortete Padraig vorsichtig. „Aber ich halte es durchaus für möglich.“
„Ha, ha“, spottete Kennard. „Du weißt genauso gut wie ich, dass so etwas nie passieren wird. Du bist nur nicht ehrlich genug, es zuzugeben.“
Neill warf einen vorsichtigen Seitenblick auf Ciaran. So diszipliniert und fähig wie er sonst war – bei diesem Thema wurde er für gewöhnlich recht hitzig. Und Estohar würde das in dieser Gesellschaft noch weniger zu schätzen wissen als sonst. Aber nein. Heute saß Ciaran gelassen lächelnd neben ihm, seine Aufmerksamkeit ganz auf Estohar gerichtet. Auch Estohar schien keinen Bedarf zu sehen, in die Diskussion einzugreifen. Padraig schnappte auf den letzten Vorwurf hin wütend nach Luft und suchte nach einer Replik, die seiner Empörung angemessenen Ausdruck verleihen konnte. Sein Gesicht lief dunkelrot an, während er fürs erste nicht weiter kam als: „Du .... du ....“
„Aber was ist dann mit Colins Aufzeichnungen aus den Großen Kriegen?“ versuchte Hauptmann Ranalf vorsichtig abzulenken. „Was ist mit dem, was Seanain von Aillean und andere Edelleute in ihren Chroniken festgehalten haben? Wollt Ihr behaupten, dass sie gelogen haben, Herr Kennard?“
„Natürlich haben sie nicht gelogen“, sagte Irene schnell. „Jedenfalls nicht im strikten Sinne. Doch ich würde vermuten, dass sie die Wahrheit etwas verbrämt haben oder einfach eine symbolhafte Sprache für die wirklichen Vorgänge benutzten, die uns heute fremd ist. Es muss richtig interpretiert werden. Eines jedenfalls ist sicher. Heutzutage gibt es keine dieser Ritter und Boten mehr. Das war eine Erscheinung der damaligen Zeit. Wir werden unsere Probleme auf andere Art und Weise lösen müssen.“
Ciaran beugte sich zu Neill hinüber und flüsterte ihm zu: „Das macht Estohar wirklich raffiniert. Jetzt erfährt er, was einige unserer Leute wirklich denken, und wie weit die Spaltung schon in dieser kleinen Gruppe fortgeschritten ist.“
Neill antwortete nichts. Es war ihm sehr rätselhaft, wie Ciaran zu einer solchen Äußerung kam. Er selbst begriff nicht, was mit Estohar geschehen sein konnte oder worauf er mit all dem hinauswollte. Er war überzeugt, dass alles eine zufrieden stellende Erklärung haben würde. Schließlich war es Estohar. – Nun, solange Ciaran sich aus der Diskussion heraushielt, mochte er gerne denken, was er wollte.
Währenddessen hatte der Wortwechsel das kritische Stadium erreicht. Padraig hatte seine Stimme wieder gefunden, wenn auch keine wirklich gute Replik, und schrie: „Du gehst zu weit!“. Er stand auf und näherte sich drohend Kennard. Kaum jemand achtete darauf, denn rundum waren alle anderen selbst dabei, heftig zu debattieren. Einige der zurückhaltenderen Gäste zogen sich vorsichtig an den Rand des Geschehens zurück. Sie warfen Estohar Hilfe suchende und leicht verstörte Blick zu.
Der Ratsvorsitzende sah, dass einige so erregt waren, dass es durchaus zu Handgreiflichkeiten kommen mochte. Mit Befriedigung hatte er bemerkt, dass sich die Hauptleute seiner Garde aus dem Streit herausgehalten hatten. Sogar Ciaran. Er stand auf und erhob die Stimme: „Beruhigt euch!“ rief er. Die Streitgespräche verstummten zögernd. „Bitte setzt euch alle wieder. Ich habe ein paar essentielle Dinge in punkto Ritter des Königs zu sagen.“ Die Blicke, die sich auf ihn richteten, entstammten der kompletten Skala von bang über neugierig bis hoffnungsvoll. „Es war für mich sehr interessant, eure verschiedenen Standpunkte zu hören“, begann er. „Auch wenn niemand hier Argumente vorbringen konnte, die einem von uns unbekannt wären. Da wir alle schon mehr oder weniger oft mit anderen über diese Dinge diskutiert haben und wissen, wie fruchtlos das zu verlaufen pflegt. - Kennard, bevor ich weiterrede, möchte ich dir eine Frage stellen: Hältst du mich für einen Realisten oder für einen Träumer?“
„Ich weiß, dass du dich den Tatsachen nie verschlossen hast, Estohar“, sagte Kennard vorsichtig. „Daher habe ich es auch auf mich genommen, dieses Thema vorzubringen, und ich hoffe, dass du die Logik in dem, was ich gesagt habe, würdigst.“
„Ich bin mir sicher, dass alles, was du gesagt hast, von deiner Seite aus gut durchdacht ist“, sagte Estohar und beschwichtigte mit einer Handbewegung Padraig, der bereits den Mund geöffnet hatte. „Ich kann die Plausibilität, in dem, was du sagst, nicht überhören. - Dennoch bist du im Unrecht.“
Jetzt wollte Kennard protestieren, beschloss dann aber, Estohar ausreden zu lassen. Dieser sagte: „Das ist jetzt keine aus der Luft gegriffene Behauptung, Kennard, kein pflichtgemäßes Vorgeben, von etwas überzeugt zu sein. Nein, ganz und gar nicht. Ich bin zweien dieser Ritter begegnet. Hier. In der Hauptstadt. Sie waren in meinem Haus in der Kupfergasse zu Gast.“
„Nein!“ rief Kennard vollkommen entgeistert. „Vielleicht ...“ Er zögerte, es auszusprechen.
Estohar vollendete den Satz. „... habe ich Gespenster gesehen oder geträumt? Nein. Jeder, der mir nicht glauben will, mag nach seiner Rückkehr in die Stadt den alten Thomas befragen. Er hatte Gelegenheit, sich ausführlicher mit ihnen zu unterhalten als ich. Da die Anwesenheit der beiden Ritter dem Feind nicht bekannt werden sollte, konnte ich nur einmal dorthin gehen, um mit ihnen zu sprechen. Sie sind in einem geheimen Auftrag unterwegs, von dem auch ich nichts Genaues weiß. Aber sie forderten mich auf, den Kampf wieder aufzunehmen und nicht zu verzweifeln, so bedrohlich die Lage aussehen mag. Es gibt noch Hoffnung. Als Beweis dafür mag gelten, dass am gleichen Abend der Umsturzversuch Donnachas verhindert werden konnte. Ich versichere euch, wäre ich an jenem Abend nicht in die Kupfergasse gerufen worden, würden wir jetzt nicht hier zusammensitzen.“ Alle schwiegen. Jeder hatte gehört, dass Donnacha und Alan überzeugt gewesen waren, der Ratsvorsitzende sei tot, als die Sondersitzung eröffnet wurde. Es gab viele Gerüchte über jene Nacht. Vielleicht würden sie endlich etwas mehr erfahren können.
Ciaran rang mit sich. Zu gerne hätte er bekannt gegeben, dass auch er den beiden Rittern begegnet war. Aber ein Instinkt warnte ihn, dass Estohar diese Bestätigung vielleicht doch nicht freundlich aufnehmen würde. So hielt er sich zurück.
Kennard war noch nicht überzeugt. „Woher bist du so sicher, dass die beiden Männer wirklich Ritter des Königs waren? Es könnte sich um ein Täuschungsmanöver handeln, das dich und uns als leichtgläubig diskreditieren soll. Freunde Donnachas oder Turgans könnten da ihre Finger im Spiel haben.“
Estohar blickte ihn neugierig an. „Ach. Gab es solche Gerüchte in Turgans Kreisen? Ich hörte, dass du letzthin des Öfteren dort verkehrt haben sollst.“
Kennard stieg Röte ins Gesicht. „Ja, ich war dort“, gab er nach kurzem Zögern zu. „Schließlich ... Es heißt doch, dass Turgan ebenfalls Informanten aus unserem Umkreis hat. Ich dachte ...“
Estohar winkte ab. „Wir brauchen das jetzt nicht zu diskutieren. Nun, wenn du den beiden Rittern begegnet wärest, würdest du nicht fragen, wieso ich mir so sicher sein kann. Solchen Leuten ist eine Autorität gegeben, die kaum in Frage gestellt werden kann; es sei denn, man ist so verhärtet wie Turgan. Aber ich habe einen besseren Beweis für ihre Authentizität: Ich kenne einen der beiden Ritter. Es ist Béarisean von Sliabh Eoghai, der Sohn Eoghans, genau wie es die Prophezeiung ankündigt.“
„Aber dieser Béarisean ist doch schon lange tot“, wandte Irene ein. „Er wurde noch als Kind ermordet.“
„Nein“, sagte Mairtin. „Das stimmt nicht. Es war wohl eines der bestgehüteten Geheimnisse Abhaileons bis zum heutigen Tag. Aber Béarisean überlebte. Als junger Mann ging er nach Arda, um einen zweiten Ritter zu suchen, wie es die Prophezeiung Breannains verlangt, und war seitdem verschollen. Er muss nun auch schon alt sein, aber es scheint, dass seine Mission endlich Erfolg hatte.“
„Mairtin ist einer der wenigen, die über all das informiert sind“, bestätigte Estohar. „Doch in einem Punkt irrt er sich. Béarisean ist kein alter Mann. Dort in Arda vergeht die Zeit offensichtlich langsamer als hier. Wir alle kennen ja die Gerüchte über die Zeitennebel. Auch von uns wusste niemand genau, was für Folgen es haben mochte, den Weg nach Arda zu nehmen. Vielleicht ist es auch ein Wunder. Lord Béarisean ist nur um wenige Jahre älter geworden. Er hat Ritter Anno auf Arda gefunden, wie es Breannains Prophezeiung verlangte, und sie sind zusammen hierher gekommen, um Abhaileon vor dem Untergang zu retten.“
Alle brauchten etwas Zeit, um diese Mitteilungen verarbeiten zu können. Kontakt mit Arda. Das war schon Stoff für Sagen. Ein Nachfahre Colins des Großen lebte. – Das ließ einige alte Sagen schlagartig wirklicher erscheinen. Und Estohar würde nicht lügen; nicht in so einer Sache. Aber was sollte dieser letzte Satz heißen?
„Nun, Untergang ist etwas übertrieben“, warf Diarmaid von Saochra, der sich als erster wieder fasste, sachlich wie immer ein. Während der ganzen Diskussion hatte er sich zurückgehalten. Er war ein paar Jahre jünger als Estohar und einer der wenigen – von politischen Gegnern einmal abgesehen – die keine Schwierigkeit hatten, dem großen Ratsvorsitzenden einfach zu widersprechen. „Ganz so schlimm steht es hier nun doch nicht. Unser einziger wirklicher Feind sind Leute wie Donnacha und Turgan. Die Banditen eine wirkliche Gefahr zu nennen, sträube ich mich ebenfalls. Ich kann jedoch bestätigen, dass uns das Auftauchen dieser Ritter sehr helfen wird, die Richtigkeit unserer Überzeugungen zu beweisen.“
Estohar lächelte grimmig. „Ich spreche nicht von Banditen und politischen Gegnern, obwohl auch diese beiden Gruppen nicht zu unterschätzen sind. Es gibt etwas, das tatsächlich unseren Untergang bedeuten könnte. Es besteht Grund zu vermuten, dass der Schwarze Fürst wieder gegen uns in den Krieg zieht.“ Mit Befriedigung nahm er die Wirkung seiner Worte zu Kenntnis.
Ein paar Sekunden lang herrschte bestürztes Schweigen. Diese Nachricht war noch gravierender als die Mitteilung, dass zwei Ritter des Königs aufgetaucht seien. Der Schwarze Fürst. Der grausame Herrscher aus der Zeit der Großen Kriege. Der Dämon und Zauberer der Sagen. Viele überlief ein Schauder. Diarmaid brach als erster das Schweigen. „Welche konkreten Beweise gibt es dafür?“ fragte er.
„Noch keine, die jedermann glauben könnte und würde“, sagte Estohar. „Wir haben die Warnung der beiden Ritter und die Tatsache, dass ebendiese Ritter gekommen sind. Sie sagten, sie seien nicht gesandt worden, um sich mit ein paar Räuberbanden befassen. Ritter Anno teilte mir mit, dass unsere momentane Situation in Abhaileon, die innenpolitische Zerrissenheit, die allgemeine Uneinigkeit und die Abwendung von allen überkommenen Sitten wohl ein Anzeichen dafür sind, dass jener alte Feind die Finger im Spiel hat.“
„Aber“, wandte Kennard ein. „Das ist hunderte von Jahren her, dass es diesen Fürst gab. Es ist unmöglich, dass er noch lebt. Wenn schon muss es sich um jemand anderes handeln, der jetzt diesen Namen trägt.“
„Wäre das so wichtig?“ fragte Estohar. „Obwohl ich es nicht für unmöglich halte, dass es derselbe Schwarze Fürst ist. Das Entscheidende ist, wofür dieser Name steht: drohende Zerstörung, Unterdrückung, Verrat, Grausamkeit, Menschenverachtung und vieles mehr. Wer immer sich in diesem Namen erhebt, will unsere Vernichtung. Wir müssen uns dagegen rüsten.“
„Ich traue deinem Urteil bezüglich der Ritter“, sagte Sharon vorsichtig. „Doch wie du schon sagtest, hast du keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass es tatsächlich wieder so einen Schwarzen Fürst gibt. Wenn das sich wirklich bestätigen würde, wäre die einzig angemessene Reaktion eine Mobilmachung. Und wie sollten wir das erreichen? Wir können den anderen im Rat doch nicht erzählen, dass wir einen Angriff von jener Seite befürchten. Man würde uns endgültig für verrückt erklären.“
Estohar lächelte darüber mit welch neuer Selbstverständlichkeit die vorherigen Zweifler wieder von „wir“ und „uns“ sprachen. Er erwiderte: „Es ist mir klar, dass ich dem Obersten Rat etwas derartiges nicht unterbreiten kann. Dennoch müssen wir Vorbereitungen treffen auf einen Krieg. Ich werde dem Rat vorschlagen, für das Frühjahr eine Heerschau einzuberufen. Angesichts des überhand nehmenden Banditenunwesens wird das kaum jemand als eine schlechte Idee bezeichnen können. Den Landesfürsten sollte schon lange mehr Unterstützung in diesem Problem zukommen, und sogar hier nahe der Hauptstadt wird es immer ärger mit den Räubern. Eine kleine oder größere Razzia als Militärübung würde gewiss nicht schaden. Ich hoffe, dass sich der Rat überzeugen lässt. Die meisten sollten ein eigenes Interesse an einer solchen Aktion haben, um ihre weiter abgelegenen Besitztümer zu schützen. Wenn unser Verdacht jedoch auf der Wahrheit beruht, werden wir im Verlauf der nächsten Monate sicherlich noch andere Meldungen bekommen, die auf die Gefahr hinweisen. Dann können sich alle anderen für den glücklichen Zufall beglückwünschen, der uns vorbereitet antrifft. Ich möchte euch alle bitten, die Ohren offen zu halten und Informationen zu sammeln. Außerdem wäre es gut, wenn ihr bei euren jeweiligen Bekannten im Rat, soweit euch das möglich ist, im voraus Zustimmung für den Vorschlag mit der Heerschau zu erhalten sucht. Es gibt, wie schon gesagt, einige sehr einsichtige Gründe für eine solche Aktion.“
Paidrig warf leise ein. „Und wenn es jenen Schwarzen Fürst gibt, könnte er auch Verbündete hier in der Hauptstadt haben.“ Er sagte keinen Namen, aber jeder wusste, wer dann der Hauptverdächtige war.
Estohar blickte sich in der Runde um: „Hat jemand noch Fragen?“
Diarmaid sagte: „Jede Menge davon, aber das müssen wir nicht hier und jetzt diskutieren. Ich werde ein wenig Zeit benötigen, diese Neuigkeiten wirklich in ihrer vollen Tragweise erfassen zu können. So wie die meisten hier.“ Allgemeines Kopfnicken bestätigte seine Worte.
„Ja“, sagte Sharon. „Und wo ist der dritte Ritter? Die Überlieferung verlangt, dass es drei sind.“
„Wir wissen es nicht“, sagte Estohar. „Er hält sich noch verborgen. Weitere Fragen?“ Alle schwiegen. „Dann erkläre ich diese Besprechung für beendet“, sagte er.
Auf dem Ritt zurück in die Stadt am nächsten Tag war Ciaran noch schweigsamer als sonst. Er dachte über seine Begegnung mit den beiden Rittern nach. Nur Estohar und Thomas hatten sie gesehen – und er. Sorgfältig katalogisierte er die neuen Informationen. Einer von ihnen war wirklich der legendäre Béarisean von Sliabh Eoghaí. Es hieß, seine Familie stammte noch von Colin dem Drachentöter ab. Dann der Ardaner Anno. Ja, ihm war der fremdartige Akzent aufgefallen, den er keiner Provinz Abhaileons so recht hatte zuordnen können.
Er wandte sich Neill zu: „Ist das nicht alles herrlich?“ fragte er.
Neill blickte ihn befremdet an. „Herrlich? Ich finde es eher schrecklich. Wenn sich die Befürchtungen bewahrheiten, und damit rechne ich fest, wenn ein erfahrener Krieger wie Estohar von so etwas spricht, dann gibt es bald einen furchtbaren Krieg. Mir waren die friedlichen Zeiten bisher lieber.“
„Ach ja, der Krieg“, sagte Ciaran. Es war offensichtlich, dass die Aussicht darauf ihn nicht sehr beunruhigte. „Ich meinte die Tatsache, dass zwei Ritter des Königs zu uns gekommen sind, dass all das wahr ist, was sogar die meisten unserer eigenen Leute schon nicht mehr glauben wollten. Diese schreckliche Intrigiererei und Unehrlichkeit, die unklaren Fronten, das bedrückt mich mehr. Die vielen Tabus, die es verbieten, die Fragen zu stellen, die nötig wären, um zu klären, wer wirklich auf wessen Seite steht. Ist es nicht besser seinen Gegner zu kennen, als gegen eine Nebelwand zu stehen? Wäre alles so weitergegangen wie bisher, wären wir sicherlich schnell und unweigerlich gescheitert mit all dem, wofür wir stehen.“
„Lass das Estohar nicht hören“, sagte Neill knapp. „Es ist der Erfolg seiner jahrzehntelangen Bemühungen.“
Ciaran nickte. „Er hat immer alles ihm Mögliche getan.“ In Gedanken fügte er jedoch hinzu: „Wäre es nur mehr gewesen.“
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