V Nächtliche Begegnungen
Robin und Béarisean waren kaum aus der Tür getreten, als sich aus einem der schmalen dunklen Eingänge vor ihnen eine schattenhafte Gestalt löste und unsicheren Schrittes auf sie zuwankte. Sie wichen zur Seite aus, um den Entgegenkommenden vorüber zu lassen. Dieser aber hielt genau auf sie zu. Die nächste der wenigen Straßenlampen war noch weit entfernt, stellte Béarisean fest. Er war beunruhigt. Was konnte der Fremde von ihnen wollen? Nun, sie waren zu zweit und brauchten wohl einen Einzelnen nicht zu fürchten. Der Mann war auch gekleidet wie ein wohl situierter Bürger. Sein Mantel war lässig, sogar etwas nachlässig umgeworfen. Noch bevor er sie erreichte, bemerkte Robin den Geruch einer starken Alkoholfahne. Also nur ein Betrunkener.
Der Fremde schwankte, als er vor ihnen stehen blieb. Haltsuchend griff er nach Béariseans Arm.
„Ha..hallo, Fw-wweunde“, lallte er. „Kommt ihr mit in den Roten Zaubaru .bartu. sauru..Zauberturm? hab mich, etwas verlaufen .. ist hier a-alles so dunkel.“
Béarisean wehrte ab. “Nein, danke für die Einladung. Aber wir haben es eilig. Der Rote Turm ist zwei Straßen weiter. Links und dann noch einmal die nächste rechts. Ihr werdet es leicht finden.“ Er versuchte, den Betrunkenen abzuschütteln. Der Mann blieb aber hartnäckig.
„Wwwer hat jjjetzt noch Wischtisches vor“, protestierte er. „Kommt mit, isch lade euch ein auf ein Gläs-gläs-glä-schen.“ Es dauerte eine Weile, bis Béarisean ihn überzeugen konnte, dass er die Qualität des Weines im Roten Turm und die großzügige Einladung durchaus zu schätzen wisse, aber zur Zeit wirklich anderes vorhabe. Schließlich ließ der Fremde enttäuscht vor sich hin brummend von ihm ab und wankte, sich ab und zu an der Mauer abstützend, weiter seinem Ziel zu. Während er sich trollte, stimmte er lallend ein Trinklied an.
„Uff“, sagte Béarisean. „Wie schön, wieder frische Luft zu riechen!“
„Nicht gerade mein Stil, ein Fest zu feiern“, bemerkte Robin, als sie weitergingen.“ Dann stutzte er. Sie waren jetzt in den Lichtkreis der nächsten Laterne gekommen. „Schau in deinen Ärmelaufschlag, Béarisean“, sagte er leise. „Dort scheint etwas zu stecken. Vielleicht war unser Betrunkener gar nicht so betrunken, wie er vorgab.“
Überrascht sah Béarisean nach. Tatsächlich steckte dort ein Stück gefaltetes Pergament. Einen Augenblick betrachtete er es überlegend, dann steckte er es schnell in die Tasche. „Wenn uns eine Botschaft auf solch eine Weise zugestellt wird, lesen wir sie besser nicht hier auf der Straße“, sagte er. „Wir sollten sofort zurückkehren. Jetzt ist es eindeutig, dass wir beobachtet werden.“
Robin zuckte mit den Schultern. „Noch wissen wir nicht, ob dieser Zettel wirklich für uns bestimmt ist. Vielleicht hat der Mann hat das Papier unabsichtlich verloren, als er sich an dir festhielt. Außerdem, ich hätte gerne eine Gelegenheit, wenigstens etwas mehr von der Stadt zu sehen. Und jeder der sieht, wie wir gleich wieder nach drinnen verschwinden, wird sich noch mehr wundern.”
Sie entschieden sich schließlich, nicht sofort umzukehren, sondern noch eine Weile durch die Straßen zu gehen. Doch die Abenteuer, die dieser Abend für sie bereithielt, waren noch nicht zu Ende. Sie näherten sich nach einer knappen halben Stunde gerade wieder der Gegend, in der die Kupfergasse lag, als ihnen in einer schmalen Straße eine Gruppe junger Männer entgegenkam. Auch sie schienen an diesem Tag schon ausgiebig gefeiert zu haben - den Gesängen nach zu urteilen, denen sich ein paar von ihnen mit ganzer Hingabe widmeten. Zwei von ihnen hatten Stöcke dabei und ließen sie lachend über die Luftklappen der geschlossenen Läden in den Hausfronten rattern. Die anderen unterhielten sich lärmend. Béarisean wich vorsichtig zur Seite aus.
Ciaran folgte den beiden Rittern in angemessener Entfernung. Wäre jener Fremde nicht gewesen, der vorgab, betrunken zu sein, hätte er versucht, die beiden Ritter anzusprechen. Denn es waren wirklich zwei, wie er angenommen hatte: Anno von Arda, rief er sich ins Gedächtnis und der vor langer Zeit verschollene Lord von Sliabh Eoghaí. So wartete er auf eine günstige Gelegenheit, sich ihnen zu nähern. Schon von weitem erkannte er in der entgegenkommenden Gruppe den stadtbekannten Schläger Donald. Das rief nicht gerade die angenehmsten Erinnerungen in ihm wach, denn der war auch bei der Auseinandersetzung in der Taverne "Zum Zigeuner" dabei gewesen. Estohar war über den Zwischenfall außer sich gewesen und hatte allen, insbesondere Ciaran in einem Einzelinterview, eine geharnischte Strafpredigt über diszipliniertes Benehmen in der Öffentlichkeit gehalten. Seine Vorwürfe hatten Ciaran mehr getroffen als die kleinen Ordnungsstrafen, die über sie alle letztendlich verhängt wurden.
Ciaran glitt in die Einmündung einer Seitenstraße. Er wollte einen neuen Zusammenstoß möglichst vermeiden. Zwar war es unwahrscheinlich, dass die Ritter gegen das Gesindel Unterstützung brauchten. Andererseits waren sie unbewaffnet, wie er beobachtet hatte. Es schien also besser, alles im Blick zu behalten. Die beiden Fremden verlangsamten ihren Schritt. Auch sie schienen der Meute junger Burschen nicht so recht zu trauen.
Robin lachte belustigt über Béariseans Ausweichmanöver: „Was hast du? Angst, noch einen Zettel zugesteckt zu bekommen?“
„Ich will weder Ärger noch Aufsehen“, sagte Béarisean leise. „Die da sehen meiner Meinung nach sehr nach Ärger aus. – Und leider habe ich mein Schwert nicht dabei.“
Seine Vorsicht erwies sich alsbald als berechtigt, aber leider nutzlos. Wieder wurde Béarisean als Opfer auserkoren. Einer der Männer hielt ihn fest, als er vorüber wollte. „Wohin so eilig, Kamerad?“ rief er. Dann verengten sich seine Augen. „He, Leute!“, rief er. „Jetzt schaut euch einmal an, was für einen Mantel der trägt. Da soll mich doch der Teufel holen, wenn das keiner von den Parteigängern dieses Betrügers Macath ist. Kein Wunder, dass er da so vorsichtig die Kapuze über den Kopf zieht.“ Ein paar seiner Kameraden murmelten zustimmend.
„Tut mir leid“, sagte Béarisean höflich aber fest und befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff des Fremden. Dabei fiel auch seine Kapuze zurück. „Ich kenne keinen Macath. Würdest du uns freundlicherweise aus dem Weg gehen? Wir sind gerade auf dem Weg nach Hause.“
„Nun höre sich das einer an!“ brüllte sein Kontrahent. „Der denkt, der kann mich reinlegen. Die ganze Stadt weiß, wie der Gangster Macath heute beim Pferderennen unserem Freund Kennard mit einem üblen Trick um den Sieg gebracht hat. Na Freunde, wie wäre es, wenn wir für unseren Freund bei Macaths Freunden ein wenig die Rechnung begleichen?“ Zustimmende Rufe wurden laut.
„Wir waren nicht beim Pferderennen“, sagte Robin ruhig. „Und wir haben heute noch Wichtiges zu erledigen.“ Die Angreifer hatten einen Halbkreis um sie gebildet und rückten näher.
„Hört mal wie komisch der redet“, rief einer. „Der ist nicht von hier. Was willst du in der Hauptstadt, Landei?“
„Ich rate euch im Guten, uns in Ruhe zu lassen“, drohte Béarisean und ging in Verteidigungsstellung. „Sonst werdet ihr im Gefängnis der Stadtwache wieder zur Besinnung kommen müssen.“
Ein paar der Angreifer zögerten. „Lasst euch nicht einschüchtern“, rief ein anderer. „Die Stadtwache hat mit dem Jahrmarkt vollauf zu tun. Der sind diese Gässchen egal. Deshalb konnte sie auch nicht dafür sorgen, dass Kennard zu seinem Recht verholfen wird.”
“Und die anderen hetzen schon den ganzen Tag hinter irgendwelchen Staatsfeinden her”, bemerkte ein zweiter. “Uns wird niemand stören.” Mit den anderen meinte er die Palastgarde, die weitaus gefürchteter war als ihr städtisches Pendant.
Béarisean dachte sehnsüchtig an sein Schwert, das er nicht dabeihatte. Zwölf gegen zwei war ein übles Verhältnis. Robin warf nun auch Mantel und Kapuze zurück, um freie Sicht zu haben. Doch bevor die Lage sich weiter zuspitzen konnte, nahte den beiden Freunden unerwartet Hilfe. Alle Angreifer fuhren herum, als in der Seitenstraße, die sie gerade vorher passiert hatten, klirrend ein Schwert gezogen wurde und eine befehlsgewohnte Stimme rief: „Kevin, Alan, Ronald hierher! Es gibt Arbeit.“
„Das ist Hauptmann Ciaran von der Palastgarde!“, schrie einer der Gegner erschrocken auf.
„Verdammt!“ fluchte ein anderer. „Denkt an Angus! Geht denen aus dem Weg!“ Er hatte noch nicht geendet, als auch schon die ersten seiner Freunde mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Rückzug angetreten hatten.
Zurück blieben wenige Sekunden später nur Béarisean, Robin und der Offizier der Palastwache, ein junger, aber verwegen aussehender Soldat, der zu ihnen herankam. Er steckte er sein Schwert zurück in die Scheide und wischte sich lachend eine widerspenstige schwarze Locke aus der Stirn. Sich höflich verbeugend sagte er dann: „Ich hoffe, diese Schläger konnten Euch noch nicht belästigen, meine Herren?“
Ciaran betrachtete die beiden mutmaßlichen Ritter des Königs neugierig, soweit das möglich war, ohne aufzufallen.. Die beiden Fremden hatten ihre Kapuzen abnehmen müssen, so dass er nun ihre Gesichter erkennen konnte. Es waren zwei junge Männer etwa seines eigenen Alters. Eigentlich sahen sie recht unauffällig aus. Dennoch war da etwas in Blick und Stimme, das vermuten ließ, dass sie nicht ganz so unbedeutend und harmlos waren, wie es ihr Äußeres vermuten ließ.
„Dank Eures Eingreifens ist es nicht dazu gekommen“, sagte Béarisean. „Wir sind Euch sehr zu Dank verpflichtet. Unser Dank auch an Eure Soldaten.“
Der Hauptmann lächelte flüchtig: „Ehrlich gesagt sind keine davon in der Nähe. Aber ich konnte schließlich nicht ahnen, dass diese Raufbolde da schon vor meinem Namen allein Reißaus nehmen würden. Es war mir eine Ehre, Euch zu Diensten zu sein.“
„Es tut gut zu sehen, was für mutige Kämpfer sich in Estohars Garde finden“, sagte Robin. In seiner Stimme lag Wärme. Ihm gefiel die Art dieses Offiziers.
Ciarans Gesicht strahlte bei diesem Lob auf, wie Robin es bei einem leitenden Offizier niemals erwartet hätte, und er verbeugte sich dankend. „Es war mir ein Privileg“, sagte er. „Ich wünsche Euch eine gute Heimkehr.“ Leiser, aber sehr nachdrücklich fügte er hinzu: „Ehre dem König - und allen, die in Seinem Namen kommen!“.
„Ehre dem König!“, erwiderten die beiden trotz ihrer Verblüffung einstimmig.
Alle drei zögerten und musterten sich eine kurze Weile schweigend im Licht der Straßenlampe, unter der sie standen.
Ciarans Blick blieb zunächst an Béarisean hängen. “Wenn das die Ritter des Königs sind”, dachte er, “dann muss er der Lord von Sliabh Eoghai sein, Colins Nachfahre. Denn der andere, der mit der freundlichen Stimme und dem Licht in den Augen muss ein Fremder sein. Ein ungewöhnlicher Akzent, den er hat. Ein wenig so, wie sie im Nordwesten sprechen. Vielleicht kommt er wirklich aus dem Arda der Sagen. Aber ich kann sie nicht danach fragen. Ich habe mich ohnehin schon in Dinge eingemischt, die mich nicht wirklich angehen.”
Béarisean war innerlich hin und her gerissen. Dieser ganze Tag war wie eine Zerreißprobe gewesen. Gefühle von Unheil und Zuversicht hatten sich abgewechselt wie tanzende Windböen, und er wusste nicht, wie er diesen Moment voller Bedeutung einordnen sollte. Wenn der andere etwas sagen würde ...
“Das ist der Ritter, der ich sein sollte”, dachte Robin, während er Ciaran betrachtete. “Er muss nicht einmal sein Schwert ziehen, so gut ist er.” Und da war diese seltsame Anspannung. Wie damals, als er Béarisean an der Quelle begegnete. Vorsichtig begann er: “Vielleicht ist dies nicht unsere letzte Begegnung.”
„Es würde mich sehr freuen“, setzte Ciaran an. Doch da erklangen Stimmen vom anderen Ende der Straße. Schritte kamen näher. Alle drei wechselten schnell Blicke. Dann verbeugte sich Ciaran und verschwand in den Schatten, aus denen er gekommen war, während Robin und Béarisean sich fast gleichzeitig umdrehten und weiter in die alte Richtung gingen.
Ciaran war unendlich glücklich. Er hatte sie gesehen! Sie hatten freundlich zu ihm gesprochen! Er konnte das Besondere der Begegnung noch in sich spüren. Bald, schon bald, würden sie an die Öffentlichkeit treten, und vielleicht erinnerten sie sich dann an ihn. Aus der Ferne wachte er noch über die sichere Heimkehr der beiden Ritter. Dann begab er sich hinauf zum Schloss. Es war noch Zeit bis zu Beginn seiner Wache. Aber es gab neue Informationen, wenn auch nicht die erfreulichsten. Donnacha hatte immer noch nicht gefasst werden können. Es gab keine Hinweise, dass Turgan in den Putschversuch verwickelt war. Dafür war herausgekommen, dass Donnacha beträchtliche Summen unterschlagen hatte. Seine Beweise gegen Estohar schienen allesamt gefälscht zu sein. Seine Zeugen waren unauffindbar. Dem Ratsvorsitzenden ging es weiterhin ausgezeichnet. Ciaran nutzte die Zeit, ein paar Worte mit den Männern auf Wache zu wechseln und die Notizen Ranalfs durchzustudieren. Wie es aussah war Donnacha der Hauptschuldige. Ciaran schüttelte den Kopf. Er persönlich war und blieb überzeugt, dass Turgan hinter all dem steckte.
„Ich frage mich“, sagte Béarisean, als der Hauptmann im Gassengewirr verschwunden war, „was uns auf diesen letzten paar hundert Metern noch bevorsteht. Das waren schon ein paar Begegnungen zuviel für diesen Abend.“
„Dieser Offizier“, sagte Robin. „Er muss irgendetwas über uns wissen.“
„Vielleicht“ sagte Béarisean. „Vielleicht war es nur einfach Höflichkeit.“
„Denk an seinen Abschiedsgruß“, erinnerte Robin. „Es war, als wolle er etwas damit sagen. Ob er ein sehr vertrauter Mitarbeiter Estohars ist? Oder behandelt ein hoher Offizier der Palastgarde dahergelaufene Fremde immer mit soviel Respekt?“
„Nicht soweit ich mich erinnere“, antwortete Béarisean. „Sie sind für gewöhnlich sehr korrekt, diese Offiziere der Garde, aber eher etwas herablassend gegenüber normalen Sterblichen. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass Estohar gegen unseren Wunsch so viel von uns erzählt haben sollte. Nun, wie auch immer, dieser Ciaran hätte zu keiner besseren Zeit vorbeikommen können. Estohars Karten hier scheinen gar nicht so schlecht zu stehen, wenn er solche fähigen Leute zur Verfügung hat. Mich beunruhigt mehr, was diese Rowdys über die Jagd nach Staatsfeinden sagten. Was mag geschehen sein?“
„Vielleicht kann Thomas etwas in Erfahrung bringen“, schlug Robin vor. „Wir hätten den Hauptmann selbst fragen sollen. Er muss ziemlich bekannt sein, wenn diese Raufbolde schon auf seine Stimme so reagierten.“
Béarisean lachte: ‘Einen Ruf für Schlagkraft hat er sicherlich, wie es scheint. Aber wahrscheinlich gibt es hier auch nicht viele Offiziere der Palastwache mit dalinianischem Akzent."
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