Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 8.3


Unter dem Bogen flirrte die Luft. Durlong war geblendet und rieb sich die Augen. Dann beobachtete er weiter. Einen Augenblick schien es ihm, als sei nichts geschehen. Dort gingen die zwei Männer weiter auf den Drachen zu. Béarisean in seinem grünen Mantel, Robin in seinem braunen, wie vorher. Doch halt, irgendetwas glitzerte hell wie blank geputztes Metall im Sonnenlicht. Oder doch nicht? Dieses ganze Gerede ließ ihn schon selbst Gespenster sehen. Wie dumm aber auch, es war, als hinge ein Schleier vor dem Torbogen. Vorsichtig machte Durlong ein paar Schritte näher heran. Der Drache rührte sich immer noch nicht von der Stelle. Wie neugierig betrachtete er die näherkommenden Gestalten und richtete sich auf seine Hinterbeine auf. Die beiden Ritter blieben nicht weit vor ihm stehen.
Doch, es waren Ritter. Als sie sich jetzt etwas zur Seite wandten, so dass die weiten Mäntel die Sicht nicht mehr verdeckten, sah Durlong deutlich die silbern schimmernden Brustpanzer, die Schilde und die glänzenden blanken Schwerter. Sie griffen den Drachen nicht an. Auch der Drache ließ sich Zeit.
Durlong, dem die Sache ganz und gar nicht mehr geheuer erschien, wurde immer unruhiger. Würde der Drache nicht angreifen? Doch, da kam er endlich, der doppelte Feuerstrahl. Die Ritter hoben ihre Schilde. Das Feuer brach sich an den Schilden wie Wasser an einem Felsen, und die Schilde schmolzen nicht. Dann erhob der Ritter mit dem grünen Mantel, Béarisean, sein Schwert, machte einen Schritt nach vorn. Die Klinge leuchtete wie eine Flamme. Der Drache fauchte, blies einen weiteren Feuerstrahl. Erfolglos, der Schild fing das die Flammen mühelos ab. Auch der zweite Ritter erhob nun sein Schwert.

Aber es kam zu keinem Kampf. Einige Zeit standen sich die Ritter und der Drache gegenüber, dann wurden die Schwerter in die Scheiden gesteckt, und Robin und Béarisean betraten die Höhle. Der Drache kümmerte sich nicht weiter um sie. Stattdessen wandte er seinen Kopf der Schlucht zu und tappte langsam aber zielsicher auf Durlong zu. Dabei stieß er ab und zu einen spielerischen Feuerstrahl aus, der die Felsen auf seinem Weg zum Schmelzen brachte. Den alten Kämpen packte das Grauen. Er wartete nicht, bis das Untier ihn erreichte, sondern rannte, so schnell er konnte, zum großen Tor.
„Dorban! Dorban!“, schrie er schon von weitem. „Dorban! Das Tor! Schnell, schnell! Sie sind weg! Mach auf!”
Heftig und sehr sinnlos trommelte er auf das erzene Tor. Eine Zeitlang, die ihm eine Ewigkeit schien, tat sich nichts. Durlong durchzuckte schon der schreckliche Gedanke, dass Dorban ihn wirklich aus irgendeinem Grund dem Drachen zum Fraß überlassen wollte, als ein Quietschen endlich den ersten Hinweis darauf lieferte, dass man begann, die schweren Torflügel zu öffnen. Langsam, allzu langsam öffnete sich ein Spalt. Durlong hörte schon den Drachen hinter sich fauchen und glaubte, seinen heißen Atem im Nacken zu fühlen. Er wagte es gar nicht erst, sich umzusehen. Sobald die Toröffnung auch nur annähernd breit genug war, zwängte er sich hindurch.
Seine Kameraden nahmen ihn schnell in Empfang, zogen ihn ganz heraus. Das Tor wurde eilends wieder geschlossen. Dass dazu Zeit verblieb, zeigte, dass ihm das Feuer speiende Monster doch nicht ganz so dicht auf den Fersen gewesen sein konnte, wie es ihm seine Angst vorgegaukelt hatte. Sie hörten nur ein fernes Fauchen, und einmal dröhnte nach einiger Zeit das Tor, als ob der Drache sich dagegen würfe. Vielleicht schmolz jetzt wieder eine Schicht Metall weg.

„Lasst uns reiten“, sagte Dorban. „Heute Nacht möchte ich das Sirontal möglichst schon verlassen haben.“
Durlong zitterte noch, als er auf seinem Pferd saß. Aber er hielt sich an Dorbans Seite und damit an der Spitze des Trupps, während sie im schnellen Trab das Sirontal hinunter ritten. Als sie wieder das Gebirgsvorland erreichten, ging die Sonne fast unter. Zu aller Überraschung schlug Dorban nicht den Weg nach Tairg ein, sondern überquerte den Siron und ritt weiter nach Osten. Als sie schließlich an einem geeigneten Platz anhielten, war es schon dunkel geworden, aber er befahl, kein Feuer anzuzünden.

Dorban nahm Durlong zur Seite. „Erzähle mir alles ganz genau“, sagte er. „War es schwierig, sie dazu zu bringen, zu dem Drachen zu gehen?“
„Nein, das war es wirklich nicht“, antwortete Durlong. „Sie waren von Anfang an dazu entschlossen.“
„Was hat dann so lange gedauert?“
„Es war die Inschrift auf dem Torbogen. Sie sagten, sie müssten erst einen feuerfesten Schild finden.“
Dorban schnaufte verächtlich. „Nun, bei den beiden wundert mich gar nichts mehr. Wie ging es weiter?“
„Sie suchten und überlegten lange, und dann zitierte Robin irgendeinenen Dichter und sie gingen - ohne etwas. Ich folgte ihnen mit gutem Abstand. Aber als sie den Felsbogen erreichten, sagte Alan, er sei Béarisean von Sliabh Eoghaí, und dieser Sänger, er lachte und sagte, er sei Anno von Arda, “trotz allem”. Und dann ...“ Er zögerte.
„Weiter!“ forderte Dorban.
„Du wirst mir das nicht glauben“, sagte Durlong mit gepresster Stimme.

Dorban schwieg eine Weile. „Ich vermute, was du mir erzählen wirst, läuft darauf hinaus, dass Barraid die richtigen Ritter auf den Weg nach Alandas geschickt hat.”
„Genau das“, sagte Durlong. „Sie gingen also durch diesen Torbogen und als sie in dem Talkessel waren, da …, da …“ Seine Stimme wurde sehr hastig. „Sie hielten plötzlich Schwerter und Schilde in den Händen und trugen eine Rüstung. Weiß der Teufel, woher das alles plötzlich kam. Ein paar Sekunden vorher waren sie noch unbewaffnet. Der Drache schnaubte Feuer, aber ihre Schilde waren stärker als das Drachenfeuer. Es gab nicht einmal einen Kampf. Der Drache tötete sie nicht, griff sie nicht einmal an, und sie waren offenbar auch nicht an ihm interessiert. Sie gingen in die Höhle.  Dann kam der Drache auf mich zu, und ich floh so schnell ich konnte. Es scheint“, er zögerte, „es waren wohl wirklich Ritter des ...“ Durlong verstummte, er wagte es nicht, das Wort auszusprechen.
„Verdammt!“ fluchte Dorban. „Barraid wird schlimmer toben als damals, als er den Rapphengst verlor. Aber ich muss ihm die Nachricht schicken. Suche einen schnellen Reiter für morgen aus. Ich werde heute Nacht die Botschaft schreiben. Der Bote soll sie dem erstbesten von Barraids Männern geben, den er trifft und sich dann schleunigst aus dem Staub machen.“
„Du hattest ohnehin nicht vor nach Tairg zurückzukehren“, bemerkte Durlong.
„In der Tat nicht. Ich will nach Fuacht. Aber das könnte alles verkomplizieren. Du reitest morgen mit einer Botschaft nach Croinathír. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass du besser alles meidest, was nach Barraids Leuten aussieht. Nimm zwei von den frischesten Pferden.“

„Da war noch etwas“, sagte Durlong. „Dieser Béarisean behauptete, der Drache sei noch jung. Wenn er wachse, werde er fliegen können.“
Dorban stöhnte. „Ich hoffe, Drachen wachsen langsam“, sagte er düster.
Durlong ging, hielt aber nach ein paar Schritten inne. „Es ist wohl der Schreck über den Drachen“, begann er entschuldigend, „sonst vergesse ich solche wichtigen Informationen nicht. Es ist auch eigentlich nur ein interessantes Detail. Die Fürsten von Roscrea hatten die Schlüssel für das Tor von Gleann Fhírinne. Vielleicht ist Barraids Kontakt mit Restac gar nicht so neu.“
Die Mitteilung war ein neuerlicher Schock für Dorban. Restac verheerte Roscrea. Und die Schlüssel für die Drachenschlucht kamen aus Roscrea. Das konnte heißen, dass Barraid nicht nur Abmachungen mit den Banditen unterhielt, sondern eventuell ihre Aktionen dirigierte, während er nach außen hin vorgab, sie zu bekämpfen.
In dieser Nacht hatte Dorban Schwierigkeiten einzuschlafen. Seine Gedanken glitten zurück zu einer anderen Nacht in Gleann Fhírinne, die er nun seit Monaten energisch aus seinen Gedanken verdrängt hatte.

Es hatte ganz harmlos angefangen. Im letzten Herbst hatten sie sich bei einem seiner Besuche auf Carraig darüber unterhalten, dass er noch nie in Gleann Fhírinne gewesen war. „Wozu auch?“ hatte Dorban gelacht. „Um ein großes schwarzes Eisentor zu bestaunen? Das ist etwas für Ruandorer und andere Verrückte.“ Aber im kommenden Frühjahr hatte Barraid dann eine Botschaft geschickt, dass er die Schlüssel für das Tor habe. Ob Dorban interessiert sei, den Weg dahinter zu erkunden.
Der Lord hatte die Einladung neugierig angenommen. Es gab Gerüchte genug, hinter den gewaltigen Toren lägen Schätze verborgen – und zu irgendeinem Zweck musste diese gewaltige Sperre doch auch erbaut worden sein. Er hatte dreißig seiner Männer mitgenommen und war fast zeitgleich mit Barraid eingetroffen, der von fünfzig Reitern begleitet wurde. Von den Lords des Fürsten war nur Lùg mitgekommen.

Als sie die großen Tore am Eingang der Schlucht erreichten, war es die Zeit der Abenddämmerung gewesen. Das Land lag friedlich unter dem schwindenden Sonnenlicht. Vögel sangen ihr Abendlied. Eine Schar Rehe, die bereits aus den etwas tiefer liegenden Wäldern auf die Bergwiese herausgetreten war, um zu äsen,  jagte erschreckt davon, als sich der Trupp näherte.
Barraid gab Anweisung, dass an diesem Abend kein Lager aufgeschlagen werden solle, da sie noch in der Nacht weiterreiten würden. Während die Männer ein Feuer anzündeten, um die Abendmahlzeit vorzubereiten, waren Dorban und der Fürst näher an das große Tor heran geritten, das die Schlucht vor ihnen abriegelte. Wie eine schwarze, stählerne Wand ragte es in die Höhe. Barraid richtete sich stolz auf dem Pferderücken auf, die Hand gegen das Tor ausgestreckt und rief: „Heute Nacht noch wird der künftige Herrscher Abhaileons Gleann Fhírinne auf diesem Weg betreten und die Stadt in den Bergen wird erbeben.“
Dorban fühlte einen Schauder über seinen Rücken laufen. Einen Augenblick schien es ihm, die Dämmerung sei bereits zur tiefen Nacht geworden. Vögel unterbrachen ihr Lied.
Barraids schwarzer Hengst schüttelte unwillig den Kopf mit der wallenden Mähne und schnaubte. Es zerbrach die Anspannung; der kurze Moment zuvor erschien nur noch wie eine Sinnestäuschung. Der Fürst fasste die Zügel fester. „Ob du es willst oder nicht, mein schwarzer Dämon“, sagte er leise zu dem Pferd, „du wirst mich dort hineintragen.“

Dorban hatte das plötzliche Unbehagen schon wieder abgeschüttelt. „Wie wollt Ihr dort hineinkommen? Ich kann kein Schloss erkennen für den Schlüssel, von dem Ihr schriebt. Oder plant Ihr, die Tore zu zerstören? Dazu hätten wir wohl kaum die richtigen Mittel dabei.“
„Sicherlich nicht“, sagte Barraid fast verächtlich. „Um sich diesen Zugang gewaltsam zu erzwingen, bedürfte es größerer Macht als die, über die du gebietest. Doch für uns werden sie sich jetzt auf ganz gewöhnliche Weise öffnen. Der Schlüssel öffnet das Torhaus.“
Dorban sah sich um. Er konnte nirgends etwas erkennen, das ihn an ein Torhaus erinnert hätte. „Wo ist es?“, fragte er. „Bisher hörte ich noch nie, dass es hier ein Torhaus gebe.“
Statt eine Antwort zu geben, ritt Barraid an die Felswand heran. Dorban folgte ihm neugierig. Der Fürst saß ab, behielt aber die Zügel dicht am Zaum des Rappen fest in der Hand. Dorban war froh, dass er nicht aufgefordert wurde, die Zügel des wilden Pferdes zu halten. Das Tier war unberechenbar, sogar gefährlich. Außer dem Fürsten wurde keiner mit ihm fertig. Zielsicher griff dieser mit der freien Hand in eine kleine Felsvertiefung. Dort musste ein Mechanismus verborgen sein, denn Dorban hörte unmittelbar darauf ein Quietschen und Knarren, das aus dem Fels zu kommen schien. Einen Augenblick schien das Gestein zu erzittern, dann zeichneten sich darin die Umrisse einer unregelmäßig geformten Tür ab. Ihr Umriss folgte den natürlichen Rissen und Spalten des Gesteins. Ein Riegel oder Angeln waren nirgends zu erkennen, dafür aber ein kleines Loch, hinter dem sich das Schloss verbergen mochte. Der Fürst zog einen großen Eisenschlüssel aus seinem Gürtel hervor und reichte ihn Dorban. „Öffne!“ befahl er.
Dorban beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. Er steckte den schweren Schlüssel in die Öffnung, in der er das Schloss vermutete und versuchte ihn zu drehen. Der Mechanismus lief wider Erwarten glatt und flüssig. Nach zwei Umdrehungen hörte er ein leises Klacken und ein Teil des Felsens glitt nach innen. Die Tür gab den Blick auf einen kleinen Raum frei, dessen einzige Ausstattung aus zwei großen Drehrädern und einem für Dorbans Augen verwirrend aussehenden Zahnradmechanismus bestanden.
„Vier Männer genügen, um den Mechanismus zu bedienen“, erklärte der Fürst. „Deine Leute können das Tor nach dem Essen öffnen. Um Mitternacht werden wir dann unseren Einzug halten.“

Dorban fragte: „Warum warten wir nicht bis zum Morgen? Ist das keine bessere Zeit für einen Einzug?“
Barraid lächelte. Irgendwie wirkte es Unheil verkündend. „Nein, Mitternacht ist die beste Zeit.“
Dorban runzelte die Stirn bei diesen Worten. Aber solche Sätze waren typisch für Barraid. Er reagierte äußerst indigniert, wenn er hörte, es gäbe Gerüchte, er sei der wiedererstandene Schwarze Fürst. Er spottete über den Aberglauben der Abhaileoner, pries Dorban für seinen Realismus – und forderte mit dem nächsten Satz die schlimmsten Gerüchte selbst heraus. Manchmal war Dorban zu verwirrt, um nach einer Erklärung zu fragen. Es bestand dabei immer die Gefahr, selbst zum Ziel des Spotts zu werden, aber an diesem Abend stellte er sich ihr: „Was um aller Welt hat die Tageszeit für einen Einfluss darauf?“
„Eine rein strategische Überlegung“, sagte Barraid. „Warum sollte jemand mitten in der Nacht einen unbekannten Weg durch die Berge wählen? Aber ich habe gute Gründe anzunehmen, dass dieser Weg tatsächlich nicht einfach im Gebirge endet sondern über einen Pass nach Alandas führt.“
„Alandas?“ sagte Dorban. „Ihr sprecht von Alandas?“
Barraid lachte. „Ja. Ich spreche von Alandas. Allerdings nicht von dem Alandas eurer abhaileonischen Sagen sondern von einem vom Gebiet südlich der Nordberge gut abgeschirmten Bereich. Du kannst das nicht wissen. Aber weit im Osten sind die Berge nicht mehr so hoch wie hier, so dass Winian und Alandas gelegentlich Kontakt miteinander haben, meistens mit sehr rivalisierenden Interessen. Früher gab es einige Verbindungswege zwischen Alandas und Abhaileon, ganz wie eure Sagen berichten, aber möglicherweise sind sie von Abhaileon aus heute alle unpassierbar bis auf diesen. Daher hätte ich ein gewisses Interesse ihn mir zu sichern, bevor Alandas sich wieder in abhaileonische Angelegenheiten einmischen kann.“

Dorban blieb kritisch. „Warum habt Ihr dann nicht mehr Männer mitgebracht?“
„Heute Nacht werde ich sogar nur zwanzig von meinen mitnehmen. Die anderen bleiben hier unter Lùgs Führung. Dieser Pass ließe sich von einer Handvoll Männer halten, vorausgesetzt ich kann ihn unbemerkt erreichen. Ich würde dir empfehlen, deine Leute hier zu lassen. Es ist kein Unternehmen für die, die abergläubische Bedenken hegen. Aber du selbst kannst mitkommen, wenn du willst. Sagen wir, es ist ein Zeichen, dass ich unser Bündnis sehr schätze.“
„Abgemacht“, sagte Dorban geschmeichelt. Barraid sprach nicht oft über seine politischen Pläne, abgesehen von den Dingen, die Dorban in Dalinie voranbringen konnten. Gelegentlich hatte er erwähnt, einmal den Obersten Rat entmachten zu wollen, aber bisher waren nie konkrete Pläne zur Sprache gekommen.

Nachdem die Nacht hereingebrochen war, öffneten Dorbans Leute die Tore. Die mächtigen Flügel öffneten sich nach außen und ließen sich bis an die Felswände zurückbewegen. Der Mechanismus lief noch immer sehr glatt. Es war lediglich nötig gewesen, ein paar kleinere Felsen aus dem Weg zu räumen, die im Laufe der Jahrhunderte in den Drehbereich der Torflügel geraten. waren.
Barraid brach mit seinen zwanzig Leuten und Dorban gegen Mitternacht auf. Es war eine dunkle bewölkte Nacht. Und sobald sie den schmalen Einschnitt zwischen den Felsen betraten, konnten sie keinen Schritt weit mehr sehen. Nur gelegentlich schimmerte ein verirrter Lichtstrahl auf dem Metall von Schnallen oder Waffen. Barraids Rapphengst war noch widerspenstiger als üblich. Bevor sie in die Schlucht ritten, tänzelte er schnaubend und den Kopf schüttelnd hin und her und versuchte zu steigen.
„Vielleicht wittert er ein Raubtier“, schlug Dorban vor. Aber Barraid hatte das abgetan. Das sei nur ein kleiner Machtkampf zwischen ihm und dem Pferd. Seine Stimme ließ keinen Zweifel offen, wer den Kampf gewinnen werde.
„Aber ist es wirklich das klügste, diesen unberechenbaren Hengst heute Nacht zu reiten?“ fragte Dorban. „Ich begreife, dass Ihr die Herausforderung liebt, aber könnte er mit seinen Eskapaden nicht das Unternehmen gefährden, wenn größte Heimlichkeit angebracht ist?“
„Gerade heute Nacht möchte ich diesen Hengst nicht missen“, erklärte der Fürst mit einem seltsamen Lächeln. „Ich benötige ihn für etwas, das kein anderes Pferd hier tun könnte.“ Näher erklärte er sich nicht.

Dorban schüttelte nur stumm den Kopf, als der Fürst leise begann, seine Männer zu instruieren. Er zweifelte nicht, dass Barraid letztendlich dem Tier seinen Willen aufzwingen würde. Das gelang ihm immer, wie es schien. Es war nur nicht sinnvoll, es überhaupt zu reiten. Entweder konnte es nicht gebrochen werden oder Barraid wollte es nicht brechen. Er legte ihm nie etwas anderes als normales Zaumzeug an, gebrauchte weder Sporen noch Peitsche. Aber nach nun fast fünfzehn Jahren war es offensichtlich, dass der Rappe keinerlei Sympathie für seinen Reiter hegte und nur darauf wartete, entkommen zu können. Man sah ihm sein Alter bisher auch in keiner Weise an, doch es musste immer noch dasselbe Pferd sein.
Dorbans Männer waren erleichtert gewesen, nicht mit in die Schlucht zu reiten. Er hörte, wie sie hinter seinem Rücken über irgendwelche alten Märchen redeten, die schlimme Folgen für den vorhersagten, der diesen Weg nach Alandas betrat, ohne dazu gerufen zu sein. Er ignorierte es, solange sie halbwegs heimlich davon sprachen.

Dann ging es im Schritt die sich windende enge Schlucht entlang. Dorban ritt dicht hinter  Barraid. Der Weg schien sich endlos hinzuziehen, aber in Wahrheit mochten es vielleicht fünfzehnhundert Schritt gewesen sein, bis sich die Schlucht etwas erweiterte und der Fürst sein Pferd zügelte. Vor ihnen stieg der Boden ein wenig an zu einem Art Torbogen aus Fels hin. Der Schein des Mondes fiel aus einer Lücke in den sonst dichten Wolken heraus genau auf das Felsentor und tauchte es und den dahinter liegenden Talkessel in silbernes Licht. Dorbans Pferd begann nervös zu tänzeln, aber es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass seine eigenen Hände feucht wurden vor Unruhe. Unbemerkt war Panik in ihm aufgestiegen, eine Furcht etwas Entsetzliches werde geschehen, wenn er weiter reite – und er bemühte sich vergebens, diese Regung zu unterdrücken.
Barraid befahl nur: „Wartet hier!“ Und Dorban war erleichtert, mit den anderen zurückbleiben zu können. Der Rapphengst ging nun vollkommen ruhig mit leichten Schritten den Hang hinauf. Vor dem Felsbogen blieb er kurz stehen, aber Barraid drängte ihn weiter. Bei seinem ersten Schritt durch den Felsbogen brach mit unglaublicher Plötzlichkeit ein Inferno los. Wind sprang auf aus vollkommener Stille heraus. Donner krachte und Blitze sprühten in so schneller Folge herab, dass die Schlucht taghell erleuchtet war. Fast schien es als kämen auch Blitze aus dem Torbogen heraus, aber das war wohl eine optische Täuschung. Dorbans Pferd und auch manche der anderen begannen zu scheuen. Nur der Rappe und sein Reiter standen dort in dem Felsbogen ruhig wie ein Standbild. Heftiger Regen setzte ein.
Barraid ließ das Pferd einen Schritt weiter gehen. Feuerstrahlen schossen aus der Wölbung herab –diesmal war es eindeutig keine Täuschung - aber Barraid wehrte sie mit der flachen Hand ab, während er mit der anderen fest die Zügel hielt. Von Flammen umzüngelt taten Reiter und Pferd den nächsten Schritt. Damit war der Felsbogen fast durchquert. Barraids schattenhafter Umriss schien ins Riesenhafte gewachsen zu sein.
Da kam der Drache. Niemand wusste später, woher er aufgetaucht war. Dorban hätte schwören können, dass der hell erleuchtete Talkessel einen Augenblick vorher noch vollkommen leer gewesen war. Andererseits war er zu diesem Zeitpunkt schon so damit beschäftigt, sein Pferd unter Kontrolle zu halten, dass er sich nicht ganz sicher sein konnte. Plötzlich jedenfalls richtete sich ein Feuer speiender Schatten vor dem Rapphengst und seinem Reiter auf.
Der Rappe schien vollkommen ungerührt. Irgendwie wirkte es aus, als könne das Feuer ihm nichts anhaben. Aber für Barraid schien die Notwendigkeit zu bestehen sich gegen das Feuer zu schützen. Der Beginn des Feuerwerks hatte ihn zwar nicht überrascht.  Doch das Auftauchen des Drachen schien auch für ihn unerwartet gekommen zu sein. In einer Abwehrbewegung ließ er die Zügel fallen und hob beide Hände. Das Manöver war durchaus erfolgreich, das Feuer berührte ihn nicht. Aber sein schneller Griff nach den Zügeln kam einen Sekundenbruchteil zu spät. Sein Reittier, das bisher so ruhig durch das Feuer gegangen war, hatte sich bereits in einen wild bockenden Schatten verwandelt, der zähnefletschend nach ihm schnappte, als er versuchte, die Zügel wieder zu ergreifen. Einen Augenblick schien Barraid wild entschlossen, die Kontrolle über das Pferd zurückzugewinnen. Aber weder die Blitze aus dem Torbogen noch der Angriff des Drachen ließen für einen Augenblick an Stärke nach. Es schien, dass einer der Feuerstöße Barraids Seite streifte und er musste sich wieder auf die Abwehr konzentrieren statt auf das Pferd. Der Hengst stieg wild wiehernd auf und sein Reiter wurde abgeworfen
Der Rappe warf triumphierend den Kopf zurück. Wenn er wieherte, war es unter dem Donnern, dem Prasseln des Regens, dem Fauchen des Feuers und den heulenden Windböen nicht zu hören. Er drehte noch einmal seinen Kopf nach dem Reiter, dann schritt er ruhig an dem Drachen vorbei in den Talkessel hinein. Dort erst fiel er in Trab. Barraid war bereits wieder auf den Beinen. Sein Sturz hatte ihn aus dem Bereich des Torbogens wieder herausgebracht – aber der Drache setzte ihm jetzt nach.

Dorban ließ seinem Pferd die Zügel, und es lief in wilder Panik den Weg durch die Schlucht zurück. Was dort weiter hinten geschah, interessierte ihn nicht weiter. Er hielt erst an, als er das Eisentor erreichte. Sich umdrehend sah er, dass auch Barraids Männer jetzt aus der Schlucht heraus waren. In einem der Blitze erkannte er Barraid wieder hoch zu Ross – und sah die hell lodernden Funken des Drachenfeuers aufstieben. „Schließt das Tor!“ rief er.
Langsam, sehr langsam begannen sich die riesigen Torflügel zu bewegen. Die anderen Reiter galoppierten heraus. Barraid riss sein Pferd herum, sobald er das Tor durchquert hatte, hob die Hand in Richtung der Schlucht und rief etwas, das Dorban nicht verstehen konnte. Er hörte die Männer im Torhaus aufschreien und unter lautem Rasseln schlugen die schweren Eisenflügel zu. Kurz darauf hörten sie Fauchen und Heulen, und Funken stoben über das Tor.
„Kein Grund zur Beunruhigung“, rief Barraid Dorban zu. „Er kann nicht fliegen.“ Dann blickte er zurück auf das Tor, als überlege er, in die Schlucht zurückzukehren. Tatsächlich, er nahm die Zügel auf und ritt wieder näher an die Eisenflügel heran.

Dorban bemerkte, dass Lord Lùg zu ihm heran geritten war. „Was hat er vor?“ rief er ihm zu.
Lùg antwortete. „Ich vermute, er will den Rappen zurück.“
„Aber wir können das Tor nicht öffnen. Was will er tun?“
Lùg zuckte nur mit den Schultern. Das Gewitter tobte immer noch um sie herum. Inzwischen saßen alle auf ihren Pferden. Plötzlich ertönten Rufe vom andern Ende des Tals her. Dorban fuhr herum. Feuer stob im Sirontal auf. Dorban glaubte, Fauchen und Schreie zu hören. Er blickte zurück zur Schlucht; der Drache war eindeutig noch dort. Er blickte auf Lùg. Der Lord verzog das Gesicht. „Noch ein Drache“, rief er. „Diesmal ein fliegender. Aber einer von der üblichen Sorte.“ Dorbans Gesichtsausdruck musste mehr verraten haben, als er wollte, denn der winianische Lord lachte auf einmal. „Der Ort hier heißt nicht umsonst Drachenschlucht.“

Barraid hatte unten sein Pferd herumgerissen und ritt zu ihnen heran. „Lùg, kümmere dich darum!“ befahl er. „Wir reiten zurück“, sagte er zu Dorban gewandt und lenkte sein Pferd in Richtung des Sirontals, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dorban schien es, dass er ein wenig im Sattel wankte; er musste tatsächlich verletzt worden sein.
Lùg galoppierte bereits in Richtung des Tales. Barraid und seine Männer folgten ihm langsamer. Dorbans Leute blieben unschlüssig zurück, bis auch er Barraid folgte. Sie waren sich wohl unsicher gewesen, was die größere Gefahr darstellen mochte. An einzelnen Stellen der Hänge brannte Feuer, das von dem heftigen Gewitterregen wohl bald wieder gelöscht werden würde. Einen Drachen sahen sie nicht mehr. Sie erreichten den Fuß der Berge im Morgengrauen. Nicht lange zuvor war Lùg wieder zu ihnen aufgeschlossen. Er hatte kurz mit Barraid gesprochen. Als Barraid dann sofort den Rückweg nach Carraig einschlug, wie es aussah, wartete der Lord auf Dorban.

„Was ist mit dem anderen Drachen?“ erkundigte sich Dorban.
„Drache?“ fragte Lùg zurück. „Oh, ich erinnere mich. Nein, was ich sagte, war nur ein Scherz, eine gewagte Vermutung. Ich habe mich genau umgesehen. Es waren wohl nur Blitzschläge, die da ein paar Feuer gelegt hatten, aber der Regen hat sie schnell gelöscht. Oder meinst du den in der Schlucht?“
Dorban sagte nichts, aber warf ihm einen Blick zu, der sagte, dass er ihm kein Wort glaubte. „Ich hatte den Eindruck, der Fürst ist verletzt“, sagte er.
Lùg lächelte, spöttisch wie immer. „Am meisten in seiner Ehre. Es war etwas unglücklich, dass er diesen Rappen verloren hat. Ich würde dir dringend empfehlen, ihn nie auf diese Angelegenheit anzusprechen. Ich habe ihn schon lange nicht so zornig gesehen.“ Er warf einen Blick auf die sich entfernenden Reiter. „Dieser Ritt zurück nach Carraig wird kein Vergnügen werden. Hast du ihn schon einmal erlebt, wenn er in Zorn gerät?“
Dorban nickte. „Vor drei Jahren im August war ich auf Carraig, als ein Bote mit irgendeiner schlechten Nachricht aus dem Osten kam. Ich bin vorzeitig abgereist.“
„O das“, sagte Lùg. „Ich erinnere mich. Das war eine reine Kleinigkeit gegen die Sache mit diesem Pferd. Insbesondere hatte jemand anderes einen Fehler gemacht, und dieses Mal ...“ Er blickte Dorban auffordernd an.

Dorban war nicht dumm. „Es war ein einziges Inferno da drinnen. In dem Moment, als das Gewitter begann, konnte ich kaum mein eigenes Pferd bändigen. Und dann war aus dem Nichts dieses Ungeheuer da. Ihr saht ja, ich war der erste, der wieder nach draußen kam.“
Lùg nickte. „Eine kluge Entscheidung deinerseits. Mit Drachen ist nicht zu scherzen. Seine Hoheit hat natürlich alles getan, um das Monster so lange wie möglich aufzuhalten.“ Er hob grüßend die Hand und ritt davon.

So war das damals gewesen. Und er hatte sich selbst eingeredet, dass es für alles eine natürliche Erklärung gab. Der Drache hatte schon lange in der Schlucht gelebt. Der Rappe war in der Panik durchgegangen. Eine Sturmbö hatte das Eisentor zugeschlagen. Normale Feuer hatten im Bergwald getobt.
Aber vielleicht verfügte Barraid doch über ein paar Eigenschaften, die dem schwarzen Fürsten zugeschrieben wurden. Vielleicht gab es noch einen Herrscher, den Fürsten von Alandas, der auch über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügte. Und möglicherweise war er mächtiger als Barraid. Vielleicht gab es wirklich eine Art Ritter des Königs, die ebenfalls ungewöhnliche Dinge tun konnten. Die Erklärung für all das Seltsame mochte sich ja noch finden. Und vielleicht, vielleicht gab es tatsächlich den König.
Es bestand derzeit keine Möglichkeit, diese Rätsel zu lösen. Aber zu einem war Dorban entschlossen. Er würde sich nicht weiterhin auf die Informationen beschränken, die Barraid ihm zukommen ließ. Ab jetzt würde er einiges auf eigene Faust erledigen und erforschen.

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