Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 12.1


XII Auf Abwegen

Die Tage gingen dahin wie flüchtige Schatten. Weiter, immer weiter ritt Ciaran mit seinen drei Begleitern durch die schier unendlichen Wälder des östlichen Abhaileons. Er hatte schon lange die genaue Orientierung verloren. Selten geschah es, daß sie einem schmalen Pfad für kurze Zeit folgten, bevor Diriac sein Pferd wieder in wegloses Terrain lenkte. Nur die ungefähre Richtung, in die sie sich bewegten, konnte der Hauptmann aus dem Stand der Sonne abschätzen. Sie hielten auf Südost. Und sie querten den Toirseach nicht. Diesen gewaltigen Strom hätte Ciaran sofort erkannt. Die Herbstregenfälle, die schon lange überfällig waren, setzten am zweiten Tag ihrer Reise ein und ließen alle noch einsilbiger und verdrießlicher werden. Stunde um Stunde, Tag um Tag goß der Regen auf sie herab und durchnäßte sie bis auf die Knochen. Fast gleichzeitig sank die Temperatur auf nur wenige Grad über Null. Ciaran war froh, daß die dichtstehenden Bäume sie wenigstens etwas vor dem Wind schützten.
Diriac schwieg sich beharrlich über das Ziel ihres Rittes aus. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ihm Ciaran kaum verübeln konnte. Er begnügte sich damit, mit den andern beiden ein wenig ins Gespräch zu kommen. Aber auch diese waren sehr zurückhaltend mit ihren Äußerungen. Ciaran behielt dennoch einen Großteil seiner guten Laune, da er sich ausmalte, wie er in die Hauptstadt zurückkam und von der Entdeckung von Restacs geheimen Lager berichten würde. Je länger sie ritten, desto mehr wuchs nämlich seine Überzeugung, daß sie genau dorthin unterwegs waren.
´Wer ist eigentlich Diriac, unser Anführer?´ erkundigte er sich einmal bei dem umgänglicheren seiner Begleiter. ´Er scheint eine wichtige Stellung innezuhaben, sonst könnte er mich jetzt doch nicht zu einem geheimen Treffpunkt mitnehmen. Warum hat er mich nicht in dem kleinen Lager zurückgelassen?´
Bob grinste zuerst nur. Dann sagte er: ´Mir scheint, unser Anführer stellt sich eine ähnliche Frage: "Wer ist dieser Cormac, der reitet und sein Schwert führt wie einer der Soldaten der Garden und einen Ton an sich hat, wie jemand, der das Befehlen gewohnt ist?"´ - Ciaran hatte seinen Begleitern nicht seinen richtigen Namen, sondern den seines Vaters, Cormac, angegeben. - Bob spann den Verdacht weiter: ´"Vielleicht ist er ein Spion im Auftrag des Rates. Vielleicht ist er auch ein Deserteur, der wegen einer Straftat verfolgt wird. Jedenfalls wird er einiges Nützliche wissen."´
Ciaran verwünschte im stillen, daß es so gut wie unmöglich war, seine militärische Ausbildung zu verbergen. Das jahrelange harte Training hinterließ eben seine Spuren. Auch war er sich gar nicht bewußt gewesen, daß er seine nach außen hin so selbstsichere, befehlsgewohnte Art beibehalten hatte. ´Und wenn schon´, sagte er nachlässig. ´Egal, was ich einmal war. Ich habe diese Vergangenheit hinter mir zurückgelassen. Jetzt wird der über meinen Dienst verfügen können, der mir etwas Entsprechendes dafür bietet. Doch das beantwortet meine Frage nicht, wer Diriac ist.´
´Warum sollte ich es dir nicht sagen´, meinte der andere. ´Es ist kein Geheimnis. Zudem wirst du keine Gelegenheit erhalten, es auszuplaudern, wenn du ein Spion bist. Er ist ein Verwandter unseres Oberhauptmannes. Einer seiner Unterführer. Bist du nun zufrieden?´
„Ja, danke“, sagte Ciaran und nieste. Er zog den Mantel enger um sich. Eine Erkältung konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen, aber seine Kleidung war nur für einen Ritt für einen warmen Herbsttag gedacht gewesen, nicht für dieses Wetter. Diriac drehte sich zu ihnen um und maß ihn mit einem kritischen Blick. Hatte er ihre Unterhaltung gehört? Bob sagte an diesem Tag auch nicht mehr viel. Aber am Abend befahl der Anführer, Ciaran eine Decke zu geben.

Am elften Tag endlich näherten sie sich einer kleinen Hügelkette, die sich mitten in den Wäldern erhob. Es handelte sich, wie Ciaran später feststellte, um eine kleine Gruppe von Kalkklippen, deren Felsmasse sich tief in den Waldboden hinein fortsetzte und von zahlreichen Höhlen durchzogen war. Ein idealer Platz für einen geheimen Unterschlupf. Von Roscrea, wo einige der Fürsten dieses verborgene Hauptquartier der Räuber vermutet hatten, war diese Gegend jedoch noch etliche Tagesritte entfernt. Sie lag wirklich im Herzen der unzugänglichen Wälder, in einem Niemandsland, wo sich niemand mehr recht über den wirklichen Verlauf der Provinzgrenzen klar war.
„Das ist Arrin“, bemerkte Bob mit einer Spur von Stolz in der Stimme.
´Jetzt gibt es kein Zurück mehr´, wandte sich Diriac an Ciaran. ´Nachdem du hierher gelangt bist, wirst du entweder mit uns leben und kämpfen bis zum Ende oder sterben.´ Auf einen Wink ihres Anführers hin nahmen die beiden Räuber Ciaran in ihre Mitte.
´Ich fürchte weder Tod noch Kampf´, sagte Ciaran. Er war erleichtert, endlich das Ziel zu erreichen. Die Nässe und seine unzureichende Ausrüstung hatten begonnen, ihren Zoll zu fordern. Er fühlte sich fiebrig und hoffte auf ein warmes Feuer und etwas Ruhe.

Wenig später stießen sie auf den ersten Wachposten, der sie auf ein Losungswort hin passieren ließ. Nachdem sie nach einiger Zeit schließlich die dritte, dicht gestaffelte Postenreihe durchquert hatten, konnte Ciaran diesem Restac die Anerkennung für sein Wachsystem kaum noch versagen. Er selbst hätte sich keine bessere Aufstellung ausdenken können. Selbst einem Einzelnen, der sich hervorragend auskannte, würde es unter günstigsten Umständen nur mit größter Mühe und viel Glück gelingen, unbemerkt hindurchzugelangen. Als sie die dritte Postenkette passiert hatten, trafen sie auch auf die ersten Menschen, die in diesem Lager wohnten.

Diriac ließ sie in etwas Abstand halten, als sie den Posten am Lagereingang selbst passierten. Er sprach so leise, dass seine Begleiter nichts verstehen konnten. Aber sie sahen, dass er unwillig die Stirn runzelte bei einer der Mitteilungen. Dann durchquerten sie die Palisade um das Lager.
Nahe der Felsen fielen Ciaran ein paar Holzhütten auf, zwischen denen ein reges Kommen und Gehen herrschte. Diriac kümmerte sich jedoch nicht um die kleine Ansiedlung sondern hielt auf einen der mittleren Hügel zu. Dort angelangt befanden sie sich auf einer großen freien Fläche mit festgestampftem Boden, der mit Holzspänen und Tannenzweigen bestreut war, um zu verhindern, daß er zu sehr verschlammte. Der Platz schien eine Art zentraler Treffpunkt zu sein, denn hier hielten sich viele der Lagerbewohner auf. Ciaran sah auch ein paar Frauen und Kinder unter ihnen. Manche gingen Beschäftigungen nach, andere saßen müßig herum.
Die Neuankömmlinge übergaben ihre Pferde den Leuten, die herbeieilten, als sie abstiegen. Ciaran zögerte zunächst, die Zügel aus der Hand zu geben. „Ich kümmere mich lieber selbst um den Braunen“, sagte er.
Diriac schüttelte den Kopf. „Du gehst nirgendwo ohne Bewachung hin ab jetzt.“ Dann lachte er; denn er hatte kaum übersehen können, wie Ciaran an seinem Braunen hing. „Und bisher braten wir noch keine Pferde. Das da riecht mehr nach Schaf.“ Er nickte zu dem Lagerfeuer hin, dem seine Begleiter sehnsüchtige Blicke zuwarfen. Ein Braten schmorte über der Glut.

Während der letzten Tage war es ihnen wegen des Regens nicht möglich gewesen, selbst ein Feuer zu entzünden. So hatten sie nur kalte Mahlzeiten zu sich nehmen können. Es war kein Vergnügen gewesen bei den kalten Temperaturen und der feuchten Witterung.  Bob seufzte: „Könnten wir ihn nicht dort bewachen?“
„Oder ihn fesseln“, schlug Stan vor. „Warum können das nicht andere übernehmen?“
„Was bin ich?“ fragte Ciaran ruhig. „Ein Gefangener?“ Mit einem Schulterzucken schnallte er seine Satteltaschen ab und gab die Zügel des Braunen her.
„Nur ein Verdächtiger“, sagte Diriac knapp. „Alles weitere entscheidet Restac.“
Ciaran lächelte. Diesen Namen hatte bisher niemand genannt gehabt.  „Ich bin also wirklich da, wo ich hin wollte.“
„Vielleicht“, sagte der Unterführer. Er ging ihnen voran zum Fuß des Hügels, in dem sich eine große Höhle zu befinden schien.

Bob runzelte jetzt auch die Stirn. „Besuch“, murmelte er Stan zu. „Schon wieder“, knurrte der zurück. Diriac drehte sich zu ihnen um und sie verstummten.
Kurz bevor sie den Eingang der Höhle erreichen konnten, trat eine Gruppe von Männern heraus. Einer von ihnen, ein pockennarbiger, hellhaariger Mann, der Ciaran auf den ersten Blick unsympathisch war, blickte auf und unterbrach sofort das Gespräch, das er führte. Er begrüßte Diriac freundlich: ´Willkommen, Diriac´, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. ´Wen bringst du da mit? Hielt dich das so lange auf?´
Diriac flüsterte ihm etwas zu, woraufhin Restac den jungen Offizier aufmerksam betrachtete. Dann winkte er Ciaran näherzukommen.
´Was bewegt einen Offizier oder Unteroffizier einer der beiden Garden unter die Räuber zu gehen?´ fragte er dann.

Nach der Unterhaltung mit Bob war Ciaran auf so eine Frage mehr oder weniger gefaßt gewesen. ´Meine Vergangenheit tut hier nicht viel zur Sache´, sagte er. ´Ich habe mit ihr gebrochen. Oder sie mit mir. Ich bin auf der Suche nach einem neuen Dienst.´
´Und du glaubst, ich sei an dem Dienst eines fahnenflüchtigen Verräters und Mörders interessiert?´ sagte Restac verächtlich.
´Ich bin kein Mörder´, brauste Ciaran auf und ob dieser Anschuldigung und der abschätzigen Art, wie sie vorgebracht wurde, brauchte er den Zorn nicht einmal zu spielen. ´Ich habe meinen Gegner im ehrlichen Kampf getötet. Mein Pech wollte es, daß er mächtige Freunde hatte. Es gibt kein Recht mehr. Die Regierung dort in Croinathír ist unfähig.´
´Es erscheint mir dennoch etwas unglaubwürdig, daß sich so ein aufrechter Soldat und Kämpfer für die gerechte Sache aus diesem Grund gleich den Banditen anschließen will´, spottete Restac.

Ciaran ging aufs Ganze. Er blickte Restac fest in die Augen und sagte leise: ´Man sagt, die Banditen seien nicht irgendwelche Banditen, sondern stünden unter der Leitung eines Führers, der die Geschicke dieses Landes wenden kann.´
Restacs Augen verengten sich. Er sagte ebenfalls leise: ´Wer hat dir das gesagt?´
´Jemand der es weiß“, erwiderte Ciaran. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß er jetzt nichts falsch machte.  „Er hat des öfteren mit Turgan zu tun.´

Bevor Restac darauf reagieren konnte, hielt ihn einer der anderen Männer mit einer knappen Geste davon ab zu antworten. Er war gerade erst aus der Höhle herausgekommen. Restac protestierte nicht. Ciaran wunderte sich jetzt, daß er diesen Fremden auch nur einen Augenblick lang hatte übersehen können. Sein Erscheinungsbild war mehr als auffallend. Alles an ihm verriet Macht und Einfluß und rief zugleich ein Gefühl des Respektes - oder war es eines der Furcht? - hervor. Es war ein großer, dunkler Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren, dessen Bewegungen an die geschmeidige, kraftvolle Eleganz eines schwarzen Panthers erinnerten. Seine bernsteinfarbenen Augen verstärkten diesen katzenhaften Eindruck noch mehr. Er trug eine schwarze Uniform mit einem weiten Mantel, auf dem als Emblem eine silberne Krone prangte. In diesem Lager wirkte er mehr als fremd. Wie ein Fürst unter Bettlern. Doch Ciaran kannte die meisten der Fürsten vom Sehen her und niemals hatte jemand eine solch beeindruckende Persönlichkeit erwähnt.

 Der Fremde ließ Ciaran keine Zeit, sich zu wundern. Seine seltsam beunruhigenden Augen bohrten sich tief in die des jungen Hauptmanns. Ciaran fühlte das unbändige Verlangen, davor zurückzuweichen  Aber er nahm all seinen Mut zusammen und erwiderte stolz diesen Blick. Dennoch blieb ein unangenehmes Gefühl zurück. Es war, als könne dieser Fremde tief in sein Herz und in seine Gedanken sehen. ´Ich will ihn kämpfen sehen´, sagte der Schwarzgekleidete schließlich und entließ Ciaran aus dem brennenden Blick seiner Augen.
´Wie Ihr wollt, Lord Fíanael´, sagte Restac. Er hatte die Arme verschränkt. ´Er soll gegen einen meiner besten Leute antreten. Ian!´ Ein rothaariger Hüne in der Gruppe um Restac ließ seine Zähne blitzen und warf den Mantel zurück. ´Unser hoher Gast möchte wissen, ob sich meine Leute mit einem aus der Garde in der Hauptstadt messen können. Glaubst du, du kannst für uns Ehre einlegen?´
Ian musterte Ciaran sorgfältig von oben bis unten und meinte dann mit einem herablassenden Lächeln: ´Ich glaube nicht, daß mir das große Schwierigkeiten bereiten wird.´
Angesichts dieses hochmütigen Gebarens fühlte Ciaran tatsächlich nicht übel Lust, diesem Großmaul eine Lektion zu erteilen.

Überraschenderweise protestierte Diriac. „Kann das nicht warten, bis wir mehr erfahren haben?“
Restac zog überrascht eine Augenbraue hoch, er zögerte. Aber der Lord sagte: „Jetzt“, und der Anführer der Banditen zuckte nur bedauernd mit einer Schulter.
Fíanael, wie Restac ihn genannt hatte, blickte nochmals auf Ciaran. ´Zeig ob du mit deinem Schwert umgehen kannst, kleiner Kämpfer´, sagte er mit einem spöttischen Lächeln. ´Wenn du diesen Kampf überlebst, wirst du die Ehre haben, meinem Herrn die Treue schwören zu dürfen.´
Ciaran fühlte ein Zittern in sich bei diesen Worten, aber er schob es auf die Erkältung. Er hatte keinerlei Absicht, irgendwelche Treueide zu schwören. Wer war der Fremde überhaupt? Doch für das erste hatte er keine Zeit an solche Fragen zu verschwenden. Dieser Riese von Ian hatte bereits seinen Mantel abgelegt und mit einem breiten Grinsen sein Schwert gezogen. Die anderen wichen vorsichtig zurück.
„Streng dich an, Junge“, murmelte Diriac, bevor auch er Platz machte. „Wenn du gut genug bist ...“

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