Erst am frühen Nachmittag kehrte allmählich mehr Ruhe ein. Einige der Soldaten konnten nun entlassen werden. Estohar fühlte sich müde und ausgebrannt. Die Trauer um Airen überwältigte ihn mehr und mehr. Gleichzeitig hatte er ein etwas schlechtes Gewissen, den armen Ciaran mehrmals heftig angefahren zu haben wegen Dingen, derentwegen ihm kaum etwas anzulasten war. Im Gegenteil, hier über den Unterlagen hatte er in den vergangenen Stunden wirklich exzellente Arbeit geleistet. Vielleicht war das überhaupt eine gute Lösung. Man sollte ihn mehr vom aktiven Dienst fernhalten und mehr mit schreiberischen und organisatorischen Aufgaben beschäftigen. Er hatte Talent dazu, und es würde ihn von anderen Unüberlegtheiten abhalten. Wirklich, eine Handschrift wie gemalt hatte der Dalinianer. Nicht einmal die Béariseans war besser. Estohar wusste aber, dass Ciaran aus einem kleinen Dorf tief in den Wäldern Dalinies stammte. Sohn eines Schmiedes, erinnerte er sich. „Wo hast du schreiben gelernt?“, fragte er unvermittelt.
Ciaran sah auf. „Ich habe das Buch abgeschrieben, das es in unserem Dorf gab.“ Wie entschuldigend setzte er hinzu. „In den Wintern gab es nicht viel zu tun.“
„Welches Buch?“
„Es gehörte einem der älteren Männer. Er konnte lesen.“ Leichte Röte stieg ihm in die Wangen. „Die Nife-Sammlung.“ Das Buch enthielt Sagen und Märchen, wie Estohar wohl wusste. In der Stadt lächelte man darüber, aber in der Provinz waren sie sehr beliebt.
„Wolltest du Schreiber werden?“
„Nein, Sir“, die Stimme des Hauptmanns war reserviert. „Es war mehr eine Kinderei.“ Er konnte hier nicht von seinen Hoffnungen sprechen, einmal ein Ritter zu werden. Ein so gut wie unmöglicher Traum, wie er inzwischen wusste. Aber damals hatten ihm diese Geschichten alles bedeutet. „Es hat sich später als nützlich erwiesen.“
Estohar nickte. Er fühlte sich etwas benommen. Es wurde Zeit, dass sie alle dazu kamen zu schlafen. „Du kannst jetzt gehen“, sagte er freundlich. „Es reicht, wenn du ab Mitternacht den üblichen Dienst übernimmst.“ Er beschloss, selbst zu Colin zu gehen und auch diesen für das erste wegzuschicken. Neill war der jüngste der drei anderen, er konnte bis zum Abend durchhalten. Dann konnte Ranalf bis Mitternacht übernehmen
„Zu Befehl, Sir“, sagte Ciaran und salutierte. Sein Gesichtsausdruck war nicht so erfreut, wie Estohar es erwartet hätte.
Ciaran ging schweren Herzens nach Hause. Estohar hatte ihm mit seiner wohlwollenden Geste keinen Gefallen getan. Er hätte es vorgezogen, weiter zu arbeiten. Vielleicht wäre es ihm gelungen, seine Fehler von der Nacht wiedergutzumachen. Er empfand es als ungerecht, weg geschickt zu werden, wenn seine drei Kameraden weiter arbeiteten. Nur er schien entbehrlich. – Es wäre gut gewesen etwas zu tun zu haben. Jetzt, da er Zeit hatte an anderes zu denken, traf ihn die Nachricht über Lady Airens Tod mit neuer Wucht. Er würde nicht einmal Gelegenheit haben, sie ehrlich zu betrauern. Sie hatte ihn stets gefördert und ermutigt. Aber das war im Vorübergehen geschehen, ohne jeden offiziellen Anstrich. Manchmal, wenn er bei ihr über etwas Bericht zu erstatten hatte, hatte sie mehr als nur dienstliche Worte mit ihm gewechselt. Er hatte mit ihr ein wenig über das sprechen können, das ihn wirklich bewegte. Dinge über die man mit Kameraden wie Neill und Ranalf, selbst mit Colin nicht sprechen konnte. Dinge, die eigentlich für einen Hauptmann der Wache nicht von Interesse waren. Kostbare Minuten von denen niemand außer ihm wusste. Die Einsamkeit, die ihn jetzt erwartete, machte ihm Angst. Und er war sich sicher, dass sie ihn des Öfteren vor Estohar verteidigt hatte. Nur zu oft fand dieser Grund, ihn zu tadeln. Gleich wie er sich bemühte, seinen Dienst gut zu machen.
Er erwog kurz, bei Neill vorbeizusehen. Aber wenn er bedachte, wie es auf seinem Posten zugegangen war, waren neugierige Fragen das letzte, das dieser gebrauchen konnte. Jetzt da die Anspannung nachzulassen begann, kam tatsächlich auch Müdigkeit heraus. Mit einem Seufzer warf Ciaran seinen Mantel auf einen Stuhl und wusch sich dann flüchtig. Vielleicht überlegte Estohar es sich doch noch und würde nach ihm schicken, wenn es noch viel zu tun gab. Für diesen Fall war es jetzt wirklich das Beste, etwas zu schlafen, sonst taugte er später nicht mehr viel. Er durfte nicht schon wieder einen Fehler machen.
Er teilte die Unterkunft mit Neill. Es war geräumig genug. Das Appartement in der Kaserne bot Platz genug für alle vier Hauptleute. Aber Colin und Ranalf waren verheiratet und wohnten in der Stadt. Selten, dass sie hier übernachteten. So hatten Ciaran und Neill je ein Zimmer für sich und ein Arbeitszimmer, das sie teilten. Beide verbrachten sie ohnehin nicht viel Zeit dort. Neill lebte für seinen Dienst, und Ciaran arbeitete für seinen Ehrgeiz und seine Träume. Er trainierte viel mit der Waffe oder studierte ihm wichtige Bücher und Unterlagen. Wenn nicht das, dann hielt ihn nicht viel in der Stadt. Doch selten blieb Zeit für einen längeren Ritt.
Jetzt brauchte er jemanden, um zu reden. Da war zu viel, das sein Herz bedrängte. Auch wenn Airen tot war, einen Weg gab es noch. Er hatte es damals aus jenem Sagenbuch gelernt. Er kannte jeden Text auswendig, der auch nur weitgehend mit den Rittern des Königs zu tun hatte. Nachdem Colin von Donnacht aus Alandas zurückgekehrt war, hieß es dort, hatte er es keinen Tag versäumt, mit dem König zu sprechen.
Colin war immer Ciarans Held gewesen. Zwar stammte er aus einem großen Haus, aber es hieß, er habe in relativer Armut und fast wie ein Ausgestoßener gelebt wegen des Verbrechens eines seiner Vorfahren, bevor er dann so großes Ansehen erlangte. Ansehen oder nicht, Ciaran hatte sich geschworen, Colin so ähnlich zu werden, wie es ihm nur möglich war, und er hielt mit eiserner Entschlossenheit daran fest.
Es gab Leute, die sagten, es mache wenig Sinn, mit dem König zu sprechen, da es keine Antwort gäbe. Aber es war nicht wichtig, ob ihn der König hörte oder nicht, er sprach zu dem König, weil Colin das getan hatte und hatte eigentlich nie das Gefühl ins Leere zu sprechen. Er hätte gerne gewusst, was Colin gesagt hatte, aber darauf gab es wenig Hinweise, darum musste er es versuchen, so gut er konnte. Heute erschien es ihm noch notwendiger als sonst.
So kniete er nieder und sagte: „Mein König, bitte, vergib mir, wenn ich wieder zu wild, stürmisch und unüberlegt war. Es ist nur, dass ich nichts nur mit halbem Herzen tun kann. Bitte, lass mich einen Auftrag finden, in dessen Erfüllung ich alles geben kann. Ich wäre so gerne ein Ritter, möchte in den Kampf ziehen unter Estohars Befehl oder dem eines anderen, das ist mir gleich. Aber nichts scheint mir zu gelingen. Bitte, hilf mir zu verstehen, was ich nicht richtig mache, damit ich nicht wieder und wieder versage. Ich weiß, dass es anmaßend wäre zu denken, dass ich je ein Ritter wie Colin sein könnte. Aber wenn deine Ritter kommen, könnte ich nicht ihnen dienen? Solange sie nicht da sind, bemühe ich mich um Treue gegenüber Estohar, denn niemand steht für diese Dinge wie er. Nur dass er wenig wert auf meinen Dienst legt. So wie es da steht, würde ich vielleicht nie erfahren...“
Er hielt inne. Estohar war jemandem begegnet. Etwas hatte ihn verändert. Was wenn die Ritter des Königs gekommen waren? Gab es eine Möglichkeit, es herauszufinden? „Lass mich ihnen begegnen!“ flüsterte er dringlich. „Wenn sie es sind, lass mich ihnen begegnen!“ Er musste gähnen.
Es war besser, die Gelegenheit zum Schlafen zu nutzen. Er zog nur die Stiefel aus und schnallte das Schwert ab, legte dieses aber neben sich. Es war besser für alles bereit zu sein. Aber nichts unterbrach seinen Schlaf, bis Neill am frühen Abend ins Quartier zurückkehrte.
******
Der Morgen nach ihrer Ankunft in Croinathír war hell und voller Spätsommersonne. Die Schatten der Nacht waren verflogen und keiner von beiden mochte sie zurückrufen. Als sie zum Frühstück gingen, legte Béarisean im Gehen flüchtig eine Hand auf Robins Schulter und sagte: „Es ist gut, nicht allein mit dieser Sache dazustehen.“
Robin nickte nur. „Vielleicht werden wir wirkliche Freunde, nicht nur Weggefährten“, dachte er.
Béarisean fühlte sich verunsichert. „Ich hätte mich gestern abend mehr zusammennehmen sollen“, sagte er sich. „Ein Ritter sollte sich besser beherrschen können. Was denkt er jetzt nur von mir, dieser Ritter aus Arda? Gut, dass er wenigstens nicht darüber redet. Ich will nicht, dass er Mitleid hat oder mich verachtet. Ich hätte gern seine Achtung.“
„Wie war die Nacht?“ erkundigte sich Thomas höflich.
„Danke ausgezeichnet“, antworteten beide gleichzeitig.
„Wir brauchen dringend Waffen“, sagte Béarisean, froh ein Thema zu finden, bei dem er festeren Boden unter sich fühlte. „Ich fühle mich nackt ohne ein Schwert. Und Ausrüstung für eine Reise brauchen wir auch. Gibt es eine Möglichkeit, das alles zu besorgen? Ohne zu sehr aufzufallen.“
Thomas lachte nur. „Dieses Haus gehört Estohar von Tarim. Seinerzeit einer der größten Ritter dieses Landes. Wir haben hier sogar eine eigene kleine Waffenkammer. Da könnt Ihr Euch nach dem Frühstück einmal umsehen und nehmen, was Ihr gebrauchen könnt. Ich glaube kaum, dass Estohar Einwände hat, Euch in dieser Sache behilflich zu sein. Er würde mit Freuden sein bestes Schwert herschenken, wenn ein Ritter des Königs es tragen wollte.“
Die beiden waren übereingekommen, das Haus so wenig wie möglich zu verlassen. Und auf jeden Fall nicht bei Tageslicht. Thomas bot sich an, ihnen das Anwesen zu zeigen. Dieses entpuppte sich als ein richtiges kleines Palais mit schön eingerichteten Räumen, von denen allerdings die meisten schon seit langem außer Gebrauch schienen.
„Wer hält es sauber?“ erkundigte Robin sich. „Ihr allein?“
Thomas lachte. „Zwar verbringe ich fast meine ganze Zeit hier drinnen. Doch meistens in der Bibliothek. Ansonsten kümmere ich mich nur um das Notwendigste. Aber die Räume werden nur selten benutzt. Das meiste ist abgedeckt, wie Ihr sehen könnt. Gelegentlich schickt Estohar ein paar Diener vorbei.“
„Estohar scheint sich überhaupt selten hier aufzuhalten“, bemerkte Béarisean.
„Ja“, sagte Thomas. „Das war einmal anders. Seine Frau liebte es sehr, hier zu sein. Seit sie tot ist, meidet er es. Zu viele Erinnerungen.“
„Wer war sie?“ fragte Béarisean. „Ich dachte immer, er und Airen würden ein Paar. Damals, als ich ging, sah es danach aus.“
„Airens Vater hatte andere Pläne“, sagte Thomas. „Er bestand auf einer anderen Verbindung. Aber das sind alte Geschichten. Lady Moire war ein ganz anderer Typ, sehr still und dunkelhaarig. Estohar und Airen blieben Freunde. Sie sagten, das könne ihnen niemand nehmen. Jetzt sind sie beide wieder allein. Die meisten von uns dachten, sie würden heiraten. Aber Estohar sagte einmal, diese Freundschaft sei das einzige, das die letzten Jahrzehnte überdauert habe; er wolle sie durch nichts zerstören, nicht einmal durch eine Heirat.“
Thomas zuckte mit den Schultern. „Er muss es ja wissen; vielleicht gibt es andere Gründe, über die er nicht reden will.“
Schließlich wandten sie sich nach links in den langen, dunklen Korridor hinter der Eingangstür, um die Waffenkammer in Augenschein zu nehmen. Thomas hatte von einem Haken nahe der Tür des Empfangszimmers eine Lampe genommen und zündete sie nun an. Er führte sie ganz ans Ende des dämmrigen Ganges bis vor eine schmale, dunkle Eichentür. Vor der Tür reichte er die Lampe an Béarisean weiter und zog aus einer Innentasche seiner Weste bedächtig einen sehr gewöhnlich aussehenden Schlüssel hervor. Er steckte ihn ins Schloss und drehte ihn zweimal. Außer einem Klicken war nichts zu hören. Bevor er jedoch die Tür öffnete, wandte er sich noch einmal an seine Begleiter und sagte: "Es ist keine wirkliche Waffenkammer, auch wenn Ihr hier wohl finden werdet, was ihr sucht. Es hat sich einiges angesammelt über die Jahre. Auch wenn es zurzeit nicht gebraucht wird, hat jedes Stück hier eine Geschichte oder Bedeutung. Vielleicht kann ich Euch mehr über einiges davon erzählen, solltet Ihr noch ein paar Tage länger hier bleiben.“ Robin amüsierte sich innerlich ein wenig über seinen begeisterten Tonfall. Geschichte war wirklich Thomas‘ Steckenpferd, wie es schien.
Die Tür wurde aufgestoßen. Leise schwang sie nach innen zurück und gab den Blick auf ein großes Zimmer frei, in das die Strahlen der Nachmittagssonne fielen. Die Lampe war hier unnötig. Zwei Fenster gingen nach Westen auf die Kupfergasse hinaus. Das Sonnenlicht machte einen Wirbel von Staubflocken sichtbar und malte helle Flecken auf den Fußboden. Aber der Großteil des Raumes lag im Schatten. Die Luft war warm und roch ein wenig muffig.
Sie traten ein. Thomas schloss die Tür hinter ihnen. Er selbst blieb in der Nähe des Einganges stehen. Robin und Béarisean begannen sich umzusehen. Bei ihrem Eintreten waren kleine Wolken von Staub aufgestoben. Es war offensichtlich, dass der Raum schon lange nicht mehr betreten worden war - nicht einmal zum Staubwischen. Auf Tischen und auf dem Boden lagen Bücher verschiedener Größen und Formate, Schlüssel, Krüge, Schwerter, bestickte Tücher und Gewänder, Pfeile und Bogen, Stiefel, Dolche, ein Sattel; an der Wand hingen Hörner, Teppiche und seltsam geformte Gegenstände.
Robin ging vorsichtig auf einen der Tische zu, auf dem er ein prachtvolles Schwert liegen sah. Er hob es auf und zog es vorsichtig aus der mit Gold beschlagenen Lederscheide. Die Stahlklinge schimmerte bläulich im Sonnenlicht; keine Spur von Rost war zu sehen. Auf der Klinge schimmerten fein ziselierte Verzierungen, die sich wanden und verschlangen wie die Girlanden. Mit einem Finger prüfte er vorsichtig die Schärfe der Klinge und hielt den Atem an. Fast hätte er sich daran verletzt. Er würde ein gutes Schwert schon gebrauchen können.
Béarisean war ihm gefolgt. Er schüttelte den Kopf. „Es ist schön“, sagte er, „aber mehr Prunkstück als Waffe. Sieh dir den Griff an, an dem hast du keinen Halt, sobald deine Hände anfangen zu schwitzen. Wir brauchen ein paar einfache praktische Waffen und Gegenstände. Schau hier! “ Er deutete auf mehrere gewöhnlichere Schwerter, die an der Wand lehnten. Sie vorsichtig in der Hand wiegend, suchte er zwei aus. „Offensichtlich hat man sie besser gepflegt als den Rest des Raumes. Das könnte für dich das richtige sein“, meinte er. „Wenn du etwas Übung hast, kannst du noch einmal prüfen, ob dir ein anderes besser in der Hand liegt. Wir sollten die Zeit in Croinathír nutzen, dir die Grundkenntnisse im Umgang mit so einer Waffe beizubringen. Sieh mal nach, ob du irgendwo einen guten Dolch für dich auftreiben kannst. Ich kümmere mich um den Rest.“
Robin ließ sich Zeit. Einen guten Dolch hatte er schnell gefunden. Schließlich entschied er sich, auch noch eine kleine Harfe mitzunehmen, die dort lag. Der Weg mochte lang werden. Da könnte ein wenig Übung mit dem Instrument wohl an manchem Abend ein wenig die Zeit vertreiben. Dann hatte er es eilig, den Raum wieder zu verlassen. Er fühlte sich darin wie beobachtet. Bei der Suche hatte er sich dabei ertappt, dass er vor einigen staubigen Büchern stehen geblieben war, die fremdartige Titel hatten. Ein Gefühl war in ihm wach geworden, dass er nicht ganz einordnen konnte. Er hatte versucht, das Merkwürdige abzuschütteln. Dann hatte er die Harfe dort liegen sehen und sie stattdessen ergriffen. Er strich mit dem Finger über die Saiten. Die Stimmung war noch recht gut; es würde nur wenig Korrektur dabei brauchen. Und sobald er sie berührte, verging die seltsame Spannung.
Béarisean lachte, als er den Klang hörte. „Das habe ich mir schon vorhin gedacht, dass du daran hängen bleiben würdest“, sagte er. „Hilf mir mal mit dem anderen Zeug.“ Er drückte Robin ein Schwert und einen Schild in die Hand und hob selbst ein paar Waffen und Ledergegenstände, deren Verwendungszweck Robin unbekannt war, auf.
Sie brachten die Sachen in den Saal, den Béarisean als Übungsraum auserkoren hatte. Dann schlug Thomas vor, den Rest des Tages bei einem Krug Wein zu verbringen und sich zu unterhalten. Er und Béarisean waren auch alsbald in ein Gespräch vertieft. Robin bemühte sich anfangs noch, ihnen zuzuhören, gab dann aber auf. Es fielen zu viele unbekannte Namen. Er hatte die Harfe vor sich auf den Tisch gelegt und betrachtete sie nun in Gedanken versunken. War das vorhin wirklich passiert?
Schließlich blickte Béarisean auf. „Oh tut mir leid“, sagte er. „Das muss ziemlich langweilig für dich sein. Aber ich muss einfach einmal hören, was aus meinen ganzen alten Bekannten hier geworden ist.“
„Vorhin ist mir etwas sehr Seltsames passiert“, sagte Robin nachdenklich. „Ich weiß nicht, ob ich es mir eingebildet habe, oder ob da wirklich etwas war. Ich habe eines der Bücher aufgeschlagen. Es standen so eine Art Zaubersprüche darin.“
„Unmöglich“, sagte Thomas sofort. „Ich kenne die Bücher, die da liegen. So etwas ist garantiert nicht dabei.“
„Ich weiß auch nicht“, sagte Robin. „Als ich noch einmal hinschaute, konnte ich es auch nicht mehr entdecken. Aber ich begreife auch nicht, wie ich das alles hätte träumen sollen. Es war .... seltsam.“ Er schwieg hilflos.
Béarisean blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Seine Augen verengten sich. „Ich habe nichts gesehen“, sagte er dann. „Aber eine Zeitlang hatte auch ich ein sehr merkwürdiges Gefühl in diesem Raum. Als würde ich von feindseligen Augen beobachtet. Es war unsinnig. Du und Thomas, ihr schautet in ganz andere Richtungen. Es war auch mehr als käme es von der Straße. Ich warf einen Blick hinaus. Aber da waren nur ein paar Leute, die vorbeigingen. Ich konnte sie nur schemenhaft erkennen durch das Milchglas hindurch. Von dort kann uns niemand beobachtet haben. Jetzt, wo du erzählst, dass bei dir auch etwas Merkwürdiges geschehen ist, beunruhigt mich das noch mehr.“
„Dort kann niemand hineinsehen“, sagte Thomas. „Die Luft da drinnen war heiß und stickig. Vielleicht war es das.“
„Wahrscheinlich“, sagte Béarisean. Aber er glaubte nicht daran, und auch Robin war nicht davon überzeugt. Das sah er ihm an. Er beschloss, in diesem Haus auf keinen Fall länger als nötig zu bleiben. Etwas war nicht in Ordnung.
„Übrigens“, sagte Robin. „Diese Harfe, hat sie eine Geschichte?“
„Nichts, das sich wirklich belegen lässt“, meinte Thomas. „Sie ist alt. Es steht kein Name darauf, aber ein Bekannter, der sich darauf versteht, sagte, sie sei von einem alten Meister.“ Er lachte. „Der Händler, der sie verkaufte, bestand darauf, sie habe einmal Elianna von Saldyr gehört. Aber so alt kann sie nicht sein. Das Holz hätte sich nie über so viele Jahrhunderte so gut gehalten.“
„Wenn sie so wertvoll ist“, sagte Robin. „Werde ich sie besser zurückbringen.“
Thomas schüttelte den Kopf. „Tut das nicht, Herr Anno. Es schien mir ein gutes Omen, dass Ihr nach ihr grifft. Es heißt, eine Harfe habe tatsächlich eine Rolle gespielt damals zur Zeit der Großen Kriege. Wahrscheinlich dachte der Händler daran, als er seine Behauptung machte.“
„Erzähl“, sagte Béarisean. „Ich erinnere mich an nichts davon. Elianna hatte also eine Harfe?“
Thomas lachte. „Nein, es hat zwar mit Elianna zu tun. Aber es ist eines der märchenhaften Elemente im Epos. Es heißt, zu Mittwinter, als Croinathir an den Schwarzen Fürsten gefallen war und es keine Hoffnung mehr zu geben schien, kam ein Barde zu Elianna. Und als er auf seiner Harfe gespielt hatte, stand sie auf, entriss dem Schwarzen Fürsten den Bogen Colins und brachte das Heer von Dalinie zu Colin. – So kann es kaum gewesen sein. Aber es ist ein gutes Omen. Eine Harfe, auf der ein Lied gespielt wird, das Änderung bringt.“
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Ciaran hörte die Tür ins Schloss fallen und war sofort hellwach. Neill war gekommen. Dem Licht nach war es früher Abend. Er fühlte sich jetzt wieder gut ausgeruht. Schnell fuhr er in die Stiefel und griff nach seinem Schwert. Er musste sich beeilen, wenn er noch ein paar Neuigkeiten hören wollte.
Neill hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er nickte nur kurz grüßend und wollte in sein Zimmer. „Warte!“ sagte Ciaran schnell. „Wie steht es?“
„Ranalf hat mich gerade abgelöst“, sagte Neill müde. „Es ist jetzt alles relativ ruhig. Colin ist kurz nach dir gegangen. Vor drei Stunden löste er dann Ranalf ab. Nur ich hing in dieser elendigen Untersuchung fest.“
„Ich hätte dich gerne abgelöst“, sagte Ciaran. „Du hättest nach mir schicken sollen.“
Neill winkte ab. „Es hätte nicht viel Sinn gemacht. Colin bot mir auch an, es mit zu übernehmen. Aber besser, dass das in einer Hand blieb, bis das Wichtigste geklärt war.“
„Was ist herausgekommen?“
Neill wurde etwas lebhafter. „Es war Marbhkraut. Wir haben Spuren davon in zwei Trinkgefäßen gefunden. Lady Airen wurde damit vergiftet. Es ist ziemlich widerwärtig. – Nur eines ist wirklich seltsam. Wir haben keinen zweiten Toten. Colin sagt, Alan schwört, dass Estohar den zweiten Kelch leer getrunken hat. Aber das kann nicht sein.“
„Ich werde einmal bei Colin und Ranalf vorbeisehen“, sagte Ciaran.
„Vermutlich sind sie ohnehin nur auf Bereitschaft“, meinte Neill. „Wie gesagt, zurzeit ist alles ruhig.“ Er gähnte. „Wir brauchen alle ein bisschen Schlaf.“
Er hatte Recht, wie Ciaran bald feststellte. Die beiden anderen Hauptleute hatten befohlen, sie nur zu stören, falls sich Wichtiges ergebe. Ciaran warf einen kurzen Blick in das Dienstzimmer. Ranalf war sogar noch wach. Sie wechselten flüsternd ein paar Worte, um Colin nicht zu stören. „Geh nur“, sagte Ranalf. „Von Mitternacht bis morgen ist es noch lange genug.“
Ciaran nickte. Er war mehr der Form halber herein gekommen. Es wäre unkameradschaftlich gewesen, ausgeruht wie er war, den anderen nicht eine Ablösung anzubieten. Aber Pläne hatte er andere. Er war sich jetzt fast sicher, dass Estohar dort in der Kupfergasse die Ritter des Königs getroffen hatte. Die seltsame Sache mit dem erfolglosen Giftanschlag auf Estohar war ein deutlicher Hinweis. Es musste ein Wunder gewesen sein. Vielleicht waren sie noch dort. Die Wahrscheinlichkeit war nicht groß, aber es war den Versuch sicherlich wert. Auf dem Weg zur Kupfergasse dachte er darüber nach, ob er einen guten Vorwand hatte, das Haus zu betreten. Es war Mehreres denkbar. Nur dass Estohar früher oder später davon erfahren würde. Nein, das konnte er nicht riskieren unter den gegebenen Umständen. Also blieb als einzige Möglichkeit, den Rittern zu begegnen, wenn sie das Haus verließen.
Die Dämmerung fiel, während er näher kam. Es war gerade noch hell genug, dass er selbst alle dunklen Nischen und Ecken überprüfen konnte, bevor er sich selbst in einer davon verbarg. Der lange grüngraue Mantel der Garde eignete sich gut, um mit den Schatten zu verschmelzen. Das Haus lag dort dunkel und leer. Das mochte nichts bedeuten. Denn es gab viele Räume, die nicht auf die Straße hinaus gingen und der alte Thomas wohnte stets dort.
Die Zeit verging sehr langsam. Aber Ciaran wusste, dass diese paar Stunden vor Mitternacht vielleicht seine einzige Chance, den Rittern des Königs zu begegnen, boten. Er war entschlossen, sie so gut er konnte zu nutzen. Ab und zu kamen ein paar Passanten vorbei, die ihn nicht bemerkten. Dann bemerkte er einen Mann, der sich auffällig benahm. Der gut gekleidete Fremde blickte prüfend in die dunklen Ecken, als er vorbeiging, genau wie Ciaran selbst es einige Zeit vorher getan hatte. Doch jetzt war es bereits dunkel. Der Hauptmann schmiegte sich dicht an die Wand seines Verstecks und entging tatsächlich den forschenden Blicken. Schließlich blickte sich der andere vorsichtig um, ob auch kein eventueller Beobachter die Straße entlangkomme und verschwand in einem Hauseingang nur wenige Meter von Ciarans Beobachtungsposten entfernt. Die Tür dort wurde nicht geöffnet. Es war also offensichtlich, dass der Fremde dort ebenfalls auf etwas wartete. Ciarans Hand strich über das Heft seines Schwertes. Aber dann lächelte er und entspannte sich. Ein Ritter des Königs würde nicht gerade ihn benötigen, um sich zu verteidigen.
*******
„Ich möchte noch ein wenig hinaus. Was meinst du, Béarisean, hast du Lust mitzukommen?“ sagte Robin. Es war nun schon spät am Abend. Seine Hand ruhte wieder auf der Harfe. Sie war perfekt in Stimmung, so unglaublich das auch schien. Wann immer er sie berührte, war es als fiele eine Last von ihm ab, von der er noch einen Augenblick vorher nichts gespürt hatte. Während Thomas und Béarisean unentwegt weiter über die abhaileonische politische Lage diskutiert hatten, hatte er leise begonnen, damit zu üben. Sobald er das Instrument aus der Hand legte, erschien ihm der Raum dumpf und bedrückend.
Thomas protestierte sofort: „Ich halte das für sehr gewagt. Ihr sagtet doch, dass der Feind Euch schon in Arda dicht auf den Fersen war.” Dann fügte er noch hinzu: “Turgan hat Spitzel in seinem Dienst, die alles, was mit Estohar zu tun hat, beobachten. Es waren schon öfters welche hier in der Gasse.”
“Wurde er auch gestern verfolgt?” fragte Béarisean interessiert.
“Er sagte, dass nicht. Soweit er es ausmachen konnte. Er war auch nicht allein hier. Er hatte zwei Leute, die draußen Wache hielten.“
Robin warf einen letzten Blick auf die Harfe und widerstand dem Impuls sie anzufassen. Das Gefühl, es in diesem Raum nicht mehr aushalten zu können, wurde immer stärker. “Gehen wir”, sagte er. “Wir müssen eine Entscheidung treffen, wie wir weiter vorgehen wollen, und die frische Luft wird uns helfen, klarer zu denken.”
Béarisean nickte. „Es ist ein wenig stickig hier drinnen. Ein kleiner Spaziergang kann nicht schaden.“
Vorsichtshalber zogen sie die Kapuzen ihrer Mäntel über den Kopf, bevor sie dem Drang hinauszugehen folgten. Es war besser, wenn niemand ihre Gesichter zu deutlich sah. Béarisean, der sich in der Stadt auskannte, beabsichtigte einen kleinen Rundgang durch das Viertel nahe der westlichen Mauer zu machen. Dort standen die Häuser vieler Mitglieder des Rates. Die Gebäude waren dort nicht dicht aneinander gebaut, sondern von parkähnlichen Anlagen umgeben, so dass man sich fast wie im freien Feld fühlen konnte.
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