Robin blieb stehen. Der schwarze Hengst hatte aufgehört zu grasen und betrachtete ihn aufmerksam. Eine Weile verharrten sie so, dann senkte das Pferd wieder den Kopf, um seine Mahlzeit fortzusetzen. Robin rief leise: “Hibhgawl!” Der Pferdekopf zuckte mit einem Ruck nach oben. Die Ohren waren aufmerksam gespitzt. „Hibhgawl, komm!“ wiederholte Robin.
Der Rappe wieherte freudig und kam auf ihn zu.
Robin rief: “Du hast abgewartet, ob ich deinen Namen noch kenne, mein Freund! Als könnte ich dich je vergessen! Du erinnerst dich also auch?” Der Hengst warf den Kopf hin und her und schnaubte. Robin lachte. “Was soll das heißen? Ich hätte mir Zeit gelassen? Weißt du wie viele elende Jahre ich auf dich gewartet habe? Und erst gestern hörte ich auch nur ein Gerücht von dir. Konntest du diesen Barraid nicht eher loswerden?”
Vorsichtig berührte er den Kopf des Hengstes. “Weißt du noch, du sagtest, ich müsse meinen Weg finden. Ich solle zum König gehen. Ich wollte damals nicht. Aber du sagtest, alles andere habe keine Zukunft. Du hattest Recht. Ich bin ihm begegnet. Und du siehst, als wer ich jetzt gekommen bin. Aber ohne dich war es hart, mein Freund.” Es waren Tränen in seinen Augen.
Der Rappe wieherte leise. Robin nickte. “Verschwenden wir keine Zeit mehr mit Worten.” Leicht schwang er sich auf den Rücken des Hengstes. Kaum hatte er dort einen Halt gefunden, bäumte der Rappe wiehernd etwas auf und sprang los. Sein Gang war weich. Bäume und Felsen zogen schnell und schneller vorüber, der Wind sauste in Haaren und Mähne. Die Sonne blitzte auf dem Wasser des Sees. Eine Weile gab sich Robin ganz dem Glück hin, doch dann fielen ihm wieder Béarisean und ihr Auftrag ein. Es wurde Zeit, dass sie der fremden Stadt näher kamen.
Robin strich leicht über den seidigen Hals des Pferdes. „Halt, mein Freund“, sagte er. „Ich würde gern einfach nur mit dir zusammen sein, aber dort drüben bei den Felsen, von denen ich gekommen bin, wartet noch ein Freund von mir. Wie wäre es, wenn du ihn kennen lernst? Wir haben zusammen noch einen weiten Weg vor uns.“ Der Rappe hielt in seinem Lauf inne und trabte zurück zu den Felsen am See. Béarisean kam ihnen entgegen.
„Darf ich dir meinen alten Freund Hibhgawl vorstellen?“ rief Robin ihm entgegen, als sie nur noch wenige Schritte voneinander entfernt waren.
„Sehr erfreut“, antwortete Béarisean und verbeugte sich scherzhaft. „Nett von dir, Hibhgawl, dass du mich nicht mehr ganz so abschreckend findest wie heute morgen. Meinst du, es wäre mit deiner Ehre vereinbar, wenn du mich hinter unserem gemeinsamen Freund aufsitzen ließest, damit wir so etwas schneller in die Stadt kommen?“
Das Pferd schien ihm aufmerksam zuzuhören, während er redete. Doch bevor es oder sein Reiter auf die Frage reagieren konnten, wurde ihre Unterhaltung jäh unterbrochen.
„Gute Arbeit, Herr Ritter“, rief eine fremde, doch sympathisch klingende Stimme. „Ich fürchtete schon, dass es äußerst schwierig sein würde, diesen schwarzen Wirbelwind jemals wieder einzufangen.“
Die beiden Ritter schauten sich überrascht um und sahen einen fremden Reiter vor sich. Er schien aus dem Wald im unteren Tal heraufgekommen zu sein. Einen Steinwurf vor ihnen hatte er sein goldbronzefarbenes Pferd gezügelt. Er ließ sein Reittier nun im Schritt gehen, als er näher herankam, so dass sie Zeit hatten, ihn genauer zu betrachten. Das Alter des Fremden ließ sich schwer abschätzen. Er wirkte zeitlos, zum einen sehr jung und doch voller Autorität und Erfahrung. Schulterlange dunkelblonde lockige Haare, die im Sonnenlicht fast wie Gold glänzten, umrahmten ein fein geschnittenes Gesicht mit klaren Zügen. Seine Augen waren strahlend blau. Seine Kleidung war aus weißem Leder mit dunkelbraunen Verzierungen; der Schnitt sehr einfach, doch das Schwert an seiner Seite steckte in einer goldbestickten Scheide und am Ringfinger der rechten Hand trug er einen schmalen Goldring mit einem Saphir. Sein Pferd war offensichtlich von genauso edler Abstammung wie der Rappe. Es konnte kaum ein Zweifel daran bestehen: das war einer der Herren dieses fremden Berglandes. Robins Blick blieb jedoch vor allem an dem schmalen Goldreif hängen, der seine Stirn umspannte. Wie der Barraids, dachte er verwundert.
Wenige Schritte vor den beiden Freunden zügelte der Reiter sein Pferd. Béarisean verbeugte sich respektvoll. „Béarisean von Sliabh Eoghai, mein Herr“, stellte er sich vor. Robin glitt vom Pferd herunter und verbeugte sich ebenfalls. „Robert Arnold aus Arda“, sagte er. Seine linke Hand blieb auf dem Hals des Rappen liegen, ohne dass er darüber nachdachte.
Auch der unbekannte Reiter verbeugte sich höflich im Sattel: „Ríochan aus Bailodia, der Hauptstadt von Alandas. Seid im Namen des Königs willkommen, edle Ritter. Es ist selten, dass jemand aus den anderen Landen zu uns kommt.“
Béarisean atmete erleichtert auf. „Wir sind also wirklich in Alandas. Wir wollen nach der Hauptstadt. Ist es die Stadt in der Ebene, die wir von weiter oben erblickten?“
Ríochan nickte. „Zu Fuß ist es noch weit genug. Doch da ich hier gefunden habe, wonach ich suchte, könnten wir den Weg gemeinsam reiten.“
„Das wäre eine große Hilfe“, sagte Béarisean. „Wir würden so um vieles schneller vorankommen.“
Ríochan war von seinem Goldfalben gesprungen und ging zu Hibhgawl. Er streichelte die samtene Nase und sagte: „Du bist ihm also entkommen, Schöner. Aber was hat dich abgehalten, nach Bailodia zurückzukehren?“
Der Rappe schnaubte und tänzelte ein paar Schritte zurück. Ríochan lachte. Robin lächelte. Ihre Blicke begegneten sich und Erstaunen trat in beider Augen. Béarisean runzelte verständnislos die Stirn. „Mir scheint, wir sollten bei Gelegenheit mehr mit einander sprechen“, sagte Ríochan. „Dank dir, Robert von Arda. Unser Freund hier duldet nur wenige in seiner Nähe. Deshalb war ich es, der ausritt, um nach ihm zu suchen. Wir hörten Gerüchte, er streife durch die Berge hier.“
„Kommt er aus Bailodia?“, erkundigte Robin sich. „Ihr erwähntet eben, er sei entkommen.“
„Ich habe ihn viele Jahre nicht gesehen“, sagte Ríochan. „Aber er gehört nach Bailodia.“
„Wir hörten, der neue Herrscher auf Carraig habe hier in den Bergen seinen Rappen verloren“, warf Béarisean ein.
Der Alander nickte. „Lasst uns darüber an einem anderen Ort sprechen. Wir sollten aufbrechen.“ Er zauste freundlich die Mähne des Rappen und schwang sich dann wieder auf sein eigenes Pferd.
Robin packte die Mähne des Schwarzen und schwang sich ebenfalls wieder auf dessen Rücken. Als jedoch Béarisean herankam, scheute das Pferd unwillig zurück. Robin redete ihm gut zu. „Hibhgawl, ich weiß, du suchst dir deine Reiter selbst aus. Aber ich bitte dich, lass Béarisean aufsteigen, wie soll er sonst mit uns kommen?“
Der Rappe ließ sich überzeugen. Langsam kam er wieder näher an den von ihm verschmähten Ritter heran. Er verstand es, alle sehen zu lassen, dass das nun ein großes Zugeständnis seinerseits sei. „Danke“, lachte Béarisean, als ihn der Hengst vorsichtig anstupste und ungeduldig mit dem Huf scharrte.
Ríochan hatte sich umgedreht. „Du kennst sogar seinen Namen“, wandte er sich an Robin.
„Wir kennen uns schon sehr lange“, antwortete der Ritter. „Aber auch ich habe ihn viele Jahre lang nicht gesehen.“
“Es erklärt jedenfalls, warum er die Berge nicht verlassen wollte. Wie dicht hinter der Grenze bist du ihm begegnet?”
“Ungefähr so nahe wie ein Pferd an den Steig kommen konnte, den wir aus dem jenseitigen Tal hier herauf fanden.”
Ríochan nickte. “Es ist offensichtlich, dass ihr nicht den direkten Weg gekommen seid. Aber lasst uns jetzt reiten. Der Weg ist noch weit genug und ihr seid sicher hungrig.”
Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern lenkte seinen Falben wieder in den Wald. Dort begann eine neue Steilstufe des Geländes. Die Pferde suchten sich selbst die geeigneten Tritte, während sie den Serpentinen eines schmalen Pfades folgten. Die Bäume und das Unterholz verhinderten dann auch weiter bergab, nebeneinander zu reiten. Erst als sie nach einiger Zeit einen breiteren Weg erreichten, wurde es möglich, sich zu unterhalten, während die Pferde im Schritt nebeneinander hergingen.
Das Gespräch wurde von Ríochan eröffnet. „Ihr kamt also durch Gleann Fhírinne. Was ist dort geschehen?”
“Ihr wisst von dem Drachen dort?”
Ríochan lächelte ein wenig. “Es gibt immer wieder einmal Drachen dort. Aber vielleicht sollte ich in Bailodia Bescheid geben, dass sich jemand darum kümmert. – Ihr kamt zu Fuß. Habt ihr eure Pferde dort zurück gelassen?”
Béarisean zögerte. “Verzeiht. Ich bin mir nicht sicher, wie viel wir Euch jetzt erzählen sollten. Wir kennen Euch nicht wirklich, Herr Ríochan.”
Der Rappe wieherte ungeduldig und warf den Kopf. “Wir können alles erzählen”, sagte Robin ruhig. Zu Ríochan gewandt fuhr er fort: “Ihr wisst, dass Carraig neu erbaut ist?”
Ríochan nickte. “Es steht nicht weit von der alandischen Grenze. Dort am Friedensrücken ist einer der kleineren Übergänge, und es steht stets eine Wache dort.”
“Wir kamen nach Croinathír und schon bald erreichte uns eine Aufforderung, an einen geheimen Treffpunkt zu kommen. Dort begegneten wir Dorban von Tairg, der uns nach Carraig begleitete. Wir wussten nicht, dass dies sein Ziel war, nur, dass wir nach Osten gehen sollten. Als wir es erkannten, war ein Ausweichen nicht mehr möglich. Der Herr von Carraig ließ uns zu sich rufen. Er nannte sich Fürst Barraid. Er sagte, er müsse unbedingt mit uns als Rittern des Königs sprechen. Aber es war offensichtlich, dass er gegen Estohar und den Rat arbeitete. Es gelang uns, den Eindruck zu erwecken, dass wir Hochstapler sind. So schickte Barraid uns mit Dorban nach Gleann Fhírinne, wo wir dem Drachen gegenüber treten sollten. Natürlich in der Annahme, dass das unser Tod sein würde. Das ist eigentlich alles.”
Ríochan lachte fröhlich. Warmer Sommerwind tanzte um sie und Vögel fingen an zu singen. Die Pferde tänzelten freudig. Als er aufhörte, hielt er seinen Falben an, der Rappe blieb von selbst stehen. Ríochan glitt vom Pferd und verbeugte sich vor den beiden: “Ritter des Königs”, sagte er, “meine Hochachtung! Das war ein wahres Meisterstück.” Dann schwang er sich wieder auf seinen Falben.
“Es lag daran, dass wir zu dem Zeitpunkt weder diese Schwerter noch den Rest der Rüstung hatten”, erklärte Béarisean verlegen. “Wir liefen ihm vollkommen ahnungslos in die Falle.”
“Und dann kommt dazu”, ergänzte Robin, “dass es in Breannains Prophezeiung heißt, dass ich dem Gegner im Kampf gegenüber treten werde. Aber ich kann noch nicht sehr gut mit einem Schwert umgehen, und Dorban sah das unterwegs.”
“Nicht zu vergessen die Sache mit dem Rotkehlchen”, fügte Béarisean hinzu und erzählte den Wortwechsel.
Ríochan lachte wieder. “Das werdet ihr unbedingt Rodil erzählen müssen”, meinte er. “Ich glaube, er wird sehr erfreut sein, dich kennen zu lernen, Anno von Arda.”
“Wer ist Rodil?” erkundigte sich Béarisean.
Ríochan lächelte: “Er ist unter anderem ein guter Sänger und mein bester Freund.”
Dann blickte er auf den Rapphengst. “Ich verstehe, Hibhgawl, warum dir dieser Reiter so lieb ist. Und jetzt habt ihr beide dem Herrn von Carraig je einen Streich gespielt, den er so schnell nicht vergessen wird.”
Béarisean begann zweifelnd: “Wenn dies wirklich Barraids Pferd ist ...”
“Er ist nicht sein Pferd”, sagte Robin kategorisch.
Ríochan nickte bestätigend. “Barraid ritt ihn, als er vor einigen Monaten nach Gleann Fhírinne kam. Es dürfte das erste Mal für ihn sein, dass er aus dem Sattel geworfen wurde. Genauso wie es das erste Mal sein dürfte, dass ihn ein Mensch derartig in die Irre geführt hat.”
Während des Gesprächs waren sie aus dem Bergwald allmählich in flacheres Gelände gelangt. Der Weg, dem sie folgten, war auf eine große Straße gestoßen, die nach Nordwesten zu am Fuß der Berge entlanglief und ostwärts nach Bailodia führte. Die Pferde setzten sich in Trab. Zu beiden Seiten glitt das sanft gewellte Grasland der Ebene vorüber. Trotz seiner doppelten Last hielt der Rappe mühelos Schritt mit dem anderen Pferd. Schließlich erreichten sie die hohen weißen Mauern der Hauptstadt von Alandas. Die eisenbeschlagenen Holztore waren weit und einladend geöffnet.
Sie ließen die Pferde wieder im Schritt gehen, als sie die Tore erreichten. Ihr Gastgeber ritt voran. Die Wächter begrüßten sie mit einer Verbeugung. „Er muss ein mächtiger Herr in dieser Stadt sein“, dachte Robin.
Ríochan war indessen vom Pferd gesprungen und hatte sich mit dem Befehlshaber der Wache unterhalten, den er herbeigewinkt hatte. Robin und Béarisean waren ebenfalls abgesessen. Es erschien ihnen doch ein wenig unangemessen, als Ritter des Königs zu zweit auf einem Pferd zu sitzen. Noch dazu einem ohne Sattel und Zaumzeug. Der Rappe legte den Kopf über Robins Schulter, während sie abwarteten.
Nun wandte Ríochan sich ihnen wieder zu: „Meine Freunde, ich bitte euch um Nachsicht, dass ich euch zunächst allein lassen muss. Ich möchte gern voran reiten, da einige dringende Dinge zu erledigen sind, die unter meine Zuständigkeit fallen. Ihr würdet den Weg auch ohne mich nicht verfehlen können, da die Hauptstraße direkt zum Palast führt. Doch ich habe Auftrag gegeben, dass man Euch Pferde bringt und dorthin begleitet. Die Wachen dort am Schloss werden wissen, dass ihr meine Gäste seid.“ Er blickte Robin an. „Ich weiß, es ist nicht gut, Freunde, die sich gerade wieder gefunden haben, zu trennen. Doch ich würde Hibhgawl gerne gleich zurück in seinen Stall bringen. Gestattest du, dass ich den Rappen mitnehme?“
Robin antwortete: “Er gehört nicht mir.”
„Komm, Hibhgawl.“ Ríochan zog ein Halfter hervor, um es dem Pferd anzulegen. Der Hengst war ganz und gar nicht einverstanden mit dem Gang der Dinge. Er wich aus und stellte sich demonstrativ neben Robin. Dessen Gefühle dabei waren recht gemischt. Zum einen freute er sich über die Loyalitätsbekundung des Hengstes, zum anderen war es ihm sehr unangenehm, seinen Gastgeber so zu brüskieren. Doch Ríochan lachte fröhlich: „Du wirst mir noch erzählen müssen, woher ihr beide euch so gut kennt. Noch nicht einmal mir gegenüber war er jemals so freundlich. Würdest du ihm das Halfter anlegen und ihn überreden mitzukommen?“
Robin beeilte sich zuzustimmen, nahm das Halfter und ging damit zu dem Rappen. „Schau, mein Freund“, sagte er zu dem Pferd. „Ich möchte auch lieber, dass wir zusammen bleiben, aber jetzt ist es besser, dass du mit Ríochan gehst. Ich besuche dich dann später. - Ich darf doch?“ wandte er sich fragend an Ríochan. Der nickte. Hibhgawl ließ sich widerstandslos das Halfter anlegen. Er stupste Robin noch einmal zärtlich mit seiner Schnauze an, als wolle er "Mach's gut" sagen, dann ging er von selbst zu Ríochan. Dieser winkte ihnen noch einmal freundlich zu, bevor er sich mit beiden Pferden entfernte.
„Wer er wohl ist?“ schloss Béarisean an Robins Gedanken von vorher an. Doch sie kamen nicht dazu, sich darüber zu unterhalten, denn nun näherte sich ihnen einer der Befehlshaber der Wache. Es war eine junge Frau. Die langen blonden Haare hatte sie an den Seiten zu Zöpfen geflochten, um die Haare zu hindern, ihr ins Gesicht zu fallen. Wie alle anderen der Wachmannschaft trug sie einen silbernen Waffenrock und einen haubenartigen Helm. Das Emblem auf dem Überwurf, den sie über dem Brustpanzer trug, stellte einen silbernen Falken dar, der vor einem nachtblauen Hintergrund dahinschoss, in dem drei Sterne strahlten.
Sie verbeugte sich respektvoll vor den beiden und sagte: „Seid gegrüßt, edle Ritter. Mein Name ist Norin. Es ist mir eine Ehre, Euch zum Palast zu begleiten.“
Béarisean stellte sich und Robin vor. „Ist der Weg noch weit?“ fragte er dann.
„Zu Fuß ist es eine knappe Stunde. Bailodia ist groß. Ihr habt sicherlich schon einen weiten Weg hinter euch. Die Pferde werden bald da sein.” Wirklich dauerte es nur wenige Minuten, bis ein Wächter drei gesattelte Pferde brachte. Béarisean betrachtete sie bewundernd. “Es gibt nur exzellente Pferde in Bailodia, scheint mir.”
“In ganz Alandas”, korrigierte Norin mit einem Lächeln. “Aber zwei der schönsten hattet Ihr ja bereits gesehen.”
“Welches von beiden ist das bessere?” erkundigte sich Robin. Er hatte keine Zweifel, was die Antwort sein musste. Aber er wollte es gerne aus einem anderen Mund hören.
Norin lachte. “Beide sind herrlich. Aber dieser wilde schwarze Kerl von einem Pferd kennt nicht seinesgleichen.”
“Mir kam er nicht sehr wild vor”, meinte Béarisean. “Vielleicht ein wenig scheu und eigenwillig. Aber ansonsten eigentlich lammfromm.”
“Das lag an Eurer Gesellschaft, Herr Béarisean”, sagte Norin. Robin lächelte nur wissend.
Die breite Hauptstraße war zu beiden Seiten mit großen Steinplatten gepflastert, während in der Mitte ein Torfstreifen freigelassen worden war, der für Pferdehufe angenehmer als die Steine war. Zwischen diesem Mittelstreifen und den gepflasterten Bereichen wuchsen in nicht ganz regelmäßigen Abständen von etwa fünfzehn Metern hohe Laubbäume, die Linden ähnelten. Um viele der Häuser lagen große Gärten voller Sträucher und Zierpflanzen. In manchen von ihnen plätscherten Springbrunnen. In einigen Seitenstraßen standen die Häuser mit ihrer Front an der Straße. Die Vielfalt der Stile war groß, doch jedes einzelne Haus fügte sich gut in das Gesamtbild. Überall zwitscherten Vögel. Sie schienen sich hier sehr heimisch zu fühlen und ließen sich nicht in ihrem Lied stören, selbst wenn die Bewohner der Stadt in einer Entfernung von kaum einem Meter an den Zweigen, auf denen sie saßen, vorübergingen.
Es waren nicht sehr viele der Stadtbewohner unterwegs. Viele hielten sich in den Gärten auf. Aus manchen der Häuser klang Musik. Ihre kleine Gruppe erregte offenbar Aufsehen. Die Leute machten sich gegenseitig auf sie aufmerksam und blickten ihnen neugierig nach. Viele schienen verwundert zu sein. Manche begannen, aufgeregt miteinander zu reden.
„Was verwundert sie so sehr an uns?“ fragte Béarisean. „Sind Besucher hier so selten?“
„Bitte, verzeiht die Neugier“, antwortete Norin. „Es ist eigentlich nicht unsere Art, unsere Gäste so anzustarren. Aber seit sehr langer Zeit seid Ihr die ersten, die aus den anderen Welten zu uns kommen. Seit einiger Zeit erhalten wir vermehrt Nachrichten, dass in Abhaileon ein großer Krieg droht. Auch in Arda stehen die Dinge nicht zum Besten.
Dann kam vor kurzer Zeit die Botschaft, dass der schwarze Hengst, den der Schwarze Fürst vor vielen Jahren in seine Macht gebracht hatte, in den Südbergen, die ihr Nordberge nennt, gesehen worden war, und nun - kurz darauf - treffen hier zwei Ritter aus den anderen Welten ein. Wenn so vieles Ungewönliche geschieht , muß die Entscheidung bald bevorstehen.“
Robin und Béarisean zogen gleichzeitig die Zügel an. „Weiß denn jeder hier von Abhaileon und von Arda?“ rief Robin überrascht. Während Béarisean gleichzeitig fragte: „Was weiß man hier von unserem Auftrag?“
Norin entschied sich, auf Béariseans Frage zuerst zu antworten. „Seid unbesorgt, Herr Béarisean. Über Euren Auftrag weiß sicherlich nur der Fürst selbst etwas. Und wüssten es andere, so wäre das Wissen bei ihnen sicher aufgehoben. Niemand hier würde Euch verraten, denn diese Furcht hörte ich in Eurer Stimme schwingen. Doch natürlich weiß jeder, dass der König so große Ritter nur in wichtigen Angelegenheiten sendet.“
„Verzeiht mir, bitte“, sagte Béarisean peinlich berührt. „Natürlich würde uns niemand hier verraten. Es ist nur, wir mussten in Abhaileon die ganze Zeit über so vorsichtig sein, dass mir dieses Misstrauen schon in Fleisch und Blut übergegangen ist. Und“, er errötete leicht. „wir sind keine großen Ritter.”
Norin entgegnete: „Ihr seid Ritter des Königs. Es gibt keinen höheren Rang hier. An Euren Schilden kann jeder erkennen, wer Ihr seid.“
Während sie weiter ritten, beantwortete Norin auch Robins Frage: „Natürlich kennen wir hier Abhaileon und Arda. Schließlich gehen wir als Boten in beide Welten. Wusstet Ihr das nicht?“
„Ich wusste nicht, dass ihr auch nach Arda kommt“, sagte Robin erstaunt. „In Abhaileon haben Béarisean und ich schon Boten des Fürsten von Alandas gesehen.“ Es schien, als sei Norin über diese Aussage überrascht, aber sie ging nicht darauf ein.
Eine Weile ritten sie schweigend weiter. Robin dachte über Ríochan nach. Wer war er? Hatten die Verbeugungen am Tor nun ihm gegolten oder ihnen? Norin sagte, sein Pferd sei das beste in Alandas nach dem Rappen. Also musste er wichtig sein. Er hatte sicherlich ihre Schilde auf den ersten Blick erkannt. Er war freundlich gewesen, wenn auch nicht so respektvoll wie Norin. Robin beschloss zu fragen: “Verzeiht, Norin. Aber wer war unser Begleiter, der nun voran geritten ist. Er stellte sich vor als Ríochan von Bailodia. Er ist sicherlich ein großer Herr?”
Norin antwortete nicht sofort. Es war, als überlege sie. Schließlich antwortete sie: “Er ist der, als der er sich vorstellte – und sicherlich groß.”
“Er muss einer der Ratgeber des Fürsten sein”, meinte Béarisean. “Sonst wäre er nicht zum Palast voran geritten. Das ist gut. Dann wird der Fürst schnell über alles unterrichtet sein. – Ob wir ihm wohl selbst begegnen?”
Fast so weit wie die Straße, die an dieser Stelle in einen Platz auslief, stand ein offenes Tor, durch das der Weg zunächst in einen Park und dann zum eigentlichen Schlosskomplex führte.
Robin und Béarisean dankten Norin für die angenehme Gesellschaft. Während sie durch den Park ritten, bemerkte Robin: „Die ganze Ehre, ein Ritter zu sein ist ja schön und gut, und ich will auch nicht undankbar sein, aber im Moment macht sich in meinem Kopf ein anderer Gedanke immer breiter, und der heißt Abendessen. Ich habe Hunger wie ein Wolf im Winter.“
„Ich hätte auch nichts dagegen einzuwenden“, meinte Béarisean.
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