Montag, 25. Juli 2011

Kapitel 3.1


III Croinathír


Sie erreichten Croinathír am frühen Nachmittag.  Da sie von einer Anhöhe herabkamen, bekam Robin schon eine Voransicht: Die Stadt lag in einer Schleife des Flusses Terin und wurde an ihrem ungeschützten Ende von der Burg überragt. Diese lag auf einem niedrigen Ausläufer des Höhenrückens, den sie zuletzt überquert hatten.
Je mehr sie sich der Stadt näherten, desto größer wurde die Menschenmenge, die sie umgab. Niemand widmete den beiden auch nur einen zweiten Blick. Sie kamen immer langsamer voran, während sie sich durch das Jahrmarktsgewimmel auf den Wiesen vor der Stadtmauer schoben. Vor dem Westtor herrschte großes Gedränge. Die zehnköpfige Wachmannschaft dort sorgte allerdings nur dafür, dass es nicht so überhand nahm, dass Menschen gefährdet wurden.
“Die Stadtgarde”, bemerkte Béarisean. “Gut ausgebildete Soldaten. Wahrscheinlich können sie sich leicht mit dem Heerbann jedes der Fürsten messen. Wir haben übrigens zwei Garden in der Hauptstadt. Die Palastgarde ist die Elitetruppe und untersteht Estohar als dem Vorsitzenden des Rates.”
“Heißt das, sie stehen auf unserer Seite?”
„Was ist hier schon gewiss”, sagte Béarisean müde. “Wir sollten auf dem schnellsten Weg die Kupfergasse.” Hinter dem Tor war das Gedränge weniger dicht.
Robin zögerte. „Ich wäre schon neugierig, mir das Treiben hier näher anzusehen“, gestand er. „Da vorn steht ein Feuerspucker. Das kenne ich nur aus Geschichten. Und da weiter weg höre ich Musik. Ich würde mir gerne die Instrumente näher ansehen. Ich wollte schon immer wissen, wie es auf so einem Jahrmarkt zugeht.“ Dann nach einem Blick auf Béarisean seufzte er resigniert. „Aber ich denke, es ist das Vernünftigste, erst einmal diesen Thomas aufzuspüren. Du sagtest ja, dass das Fest noch ein paar Tage dauern wird. Da werde ich bestimmt Gelegenheit haben, mir alles näher anzusehen.“
„Es ist nicht weit bis zur Kupfergasse“, sagte Béarisean. „Ich kenne einen kurzen Weg durch die Seitenstraßen. So werden wir nur die große Burgstraße überqueren müssen. Dahinter ist sie dann gleich.“
Robin musterte im Vorbeigehen interessiert seine Umgebung. Die Gässchen waren eng aber sauber. Die meisten Häuser standen dicht aneinander gebaut. Nur wenige wirkten vernachlässigt. An den Ecken und kleinen Plätzen standen größere und geräumigere Bauten. Mit ihren weiß getünchten Wänden, den mit Fachwerk verzierten Oberbauten und Erkern, sowie den ziegelroten Dächern waren sie ein hübscher Anblick. Zunächst kamen sie dank Béariseans Ortskenntnis schnell voran, doch dann wurden die Menschenmassen um sie dichter und dichter. Béarisean wunderte sich: „Was ist nur los, dass alle hierher drängen?“ Weiter vorn schmetterte eine Fanfare und viele Leute jubelten.
„Das hatte ich ganz vergessen!“ seufzte der Lord da. „Der Umzug zu Ehren des Drachentöters. Es scheint, dass wir nicht so schnell auf die andere Seite der Burgstraße kommen können. Am ersten Abend des Festes findet immer das Drachenspiel statt, und am nächsten Tag, also heute, ist dann ein Umzug, an dem alle Honoratioren der Stadt teilnehmen. Sie und viele andere. Nicht zu vergessen, der große nachgemachte Drache. Hoffentlich sehen wir wenigstens etwas, wenn wir schon feststecken.“
Robin war nicht unerfreut über den Aufenthalt. Sie versuchten, sich weiter nach vorn durchzuschieben. Als sie noch etwa sieben Reihen Menschen von der Hauptstraße trennten, ging es nicht mehr weiter. Von denen, die zu Fuß vorüber zogen, konnten sie allenfalls die Federn der Hüte sehen. Mit den Reitern stand es da schon besser. Unübersehbar war dann der Drache, der fauchte und Feuer spuckte. Schon sein Kopf war so groß wie ein erwachsener Mann. Hinter ihm kamen dann der Ritter und die Prinzessin. Zuletzt folgte eine größere Gruppe von Reitern, aus der heraus großzügig kleine Münzen in die Menge geworfen wurden. Béarisean beugte sich an Robins Ohr, um den Lärm zu übertönen und sagte: „Der weißhaarige Mann dort auf dem Schimmel muss Estohar sein.“ Robin bemühte sich, Béariseans alten Freund genauer zu betrachten. Wären nicht die langen schneeweißen Haare und der graue Bart gewesen, hätte man dem Oberhaupt der Regierung seine fast achtzig Jahre kaum angemerkt. Stolz und kraftvoll lenkte er seinen Schimmel und grüßte freundlich in die Menge. Er war zweifellos seinerzeit ein mächtiger Kämpfer gewesen.
Nachdem noch eine Ehrenwache vorüber gezogen war, endete der Festzug und die Menschenmenge begann sich langsam aufzulösen. Mit etwas Mühe überquerten sie die breite Straße und tauchten im Gassengewirr auf der anderen Seite wieder unter. „Hier sind wir“, sagte Béarisean schließlich. „Jetzt müssen wir nur noch das richtige Haus finden.”  Es waren breite Hausfronten mit langen Mauern, die die Gasse begrenzten. Die Tore in den Mauern dienten wohl für Anlieferungen und schienen allesamt fest verschlossen und selten genutzt zu sein. Die eigentlichen Eingänge lagen meist ein paar Stufen erhöht, große Pforten mit gewaltigen Türklopfern aus Messing.

Béarisean blieb vor einem der Eingänge stehen. “Dieses mit den Löwenköpfen hier gehört Estohar”, erklärte er. “Der Nordberghof. Ich war einmal hier. Vor langer Zeit.“
“Dann lass es uns versuchen“, sagte Robin.
Sie gingen die Stufen hinauf. Béarisean ergriff einen der Türklopfer und schlug kräftig zweimal auf das Holz des Portals. Sie warteten, doch nichts rührte sich. Nach einer Weile klopfte er nochmals kräftiger an. Wieder geschah eine Weile nichts. Doch gerade als Robin schon zur Überzeugung gelangte, dass niemand zu Hause sei, öffnete sich ein Schiebetürchen in Augenhöhe. Jemand, den sie nicht erkennen konnten, spähte misstrauisch heraus und fragte unwirsch: „Was wollt ihr? Kommt ihr mit einer Nachricht?“
„Ist Euer Name Thomas?“ fragte Béarisean. Der Gefragte bestätigte es mürrisch. Béarisean  beugte er sich näher an die Öffnung heran und sagte leise: „Lasst uns ein. Wir kommen im Auftrag des Königs.“
Die Reaktion des Mannes war unerwartet. „Ha!“ rief er. „Mit mir könnt ihr eure dummen Witze nicht machen. Sucht euch einen anderen, den ihr zum Narren halten könnt!“
Das Türchen knallte zu. Robin und Béarisean sahen sich an. Béarisean murmelte ärgerlich: „Die Zeiten haben sich ganz offensichtlich geändert. Bist du sicher, dass Kurt uns hierher geschickt hat?“
Robin zuckte die Schultern. „Er hat mir keine Hausnummer gegeben.“
Béarisean ergriff wieder er den Klopfer und hämmerte heftig gegen die Holztür, bis das Fensterchen erneut aufging. „Macht, dass ihr wegkommt, ihr Tunichtgute!“ wetterte es ihnen entgegen. „Wenn ihr keine Ruhe gebt, rufe ich die Wachen.“
Béarisean ließ sich davon nicht erschüttern. Er wiederholte immer noch leise, aber mit Nachdruck: „Im Namen des Königs. Öffne! Willst du uns alle ins Gerede bringen durch dein Geschrei? Ich glaube kaum, dass das Estohar gefallen würde. Unseren Feinden dafür umso mehr.“
Der Pförtner zögerte, als Béarisean Estohar erwähnte, blieb aber weiterhin misstrauisch. „Ich lasse Euch hier nicht herein ohne einen Beweis für Eure Worte.“
„Nun, Ihr werdet uns auch ohne einen Beweis hereinlassen müssen“, antwortete Béarisean. „Ich gebe Euch mein persönliches Ehrenwort, dass ich die Wahrheit sage.“
Das beeindruckte den Mann hinter dem Fensterchen wenig. „Davon hab ich's aber“, höhnte er. „Steckt Euch Euer Ehrenwort an den Hut!“ Das Türchen wurde bereits wieder geschlossen, da rief Robin: „Halt, ich habe etwas.“ Béarisean blickte erstaunt, als Robin eine kleine Amethystbrosche. aus der Tasche zog. Er reichte sie dem Torhüter durch das Fensterchen. Er erklärte dem Freund leise: „Kurt hat sie mir kurz vor meinem etwas übereilten Abschied in die Hand gedrückt. Ich hatte sie fast vergessen in all der Eile.“
Riegel knirschten. Der rechte Seitenflügel der großen Tür schwang auf. Der Torwächter winkte sie eilig hindurch  und verschloss die Tür wieder sorgfältig. Dann ging er ihnen in das Haus voran. In der Eingangshalle war es recht dunkel, so dass sich ihre Augen erst an das Dämmerlicht gewöhnen mussten. „Ihr hättet Euch gleich ausweisen sollen“, sagte der Pförtner nun schon etwas freundlicher. Robin sah, dass seine Haare grau waren. Er musste an die sechzig Jahre alt sein.
„Es erstaunt mich“, entgegnete Béarisean, „dass ich noch irgendwelcher Beweise bedarf, wenn ich im Namen des Königs um Einlass bitte. Ist sein Name nichts mehr wert in Croinathír?“
„Nun, nicht viel“, sagte Thomas und kniff die Augen zusammen. „Wir leben nicht mehr in den alten Zeiten. Ihr solltet das wohl wissen. Estohar hat Euch also hierher geschickt?“
„Wie kommt Ihr darauf?“ fragte Robin. Dieser Thomas schien gar nichts von ihrer Angelegenheit zu wissen. Es galt, vorsichtig zu sein. Hätte Kurt nur mehr Zeit zum Reden gehabt! Wer weiß, welche wichtige Mitteilung ihnen fehlte.
Thomas blickte sogleich wieder argwöhnisch: „Warum solltet Ihr sonst eine Brosche mit Euch tragen, die ihm gehört?“
„Wir erhielten sie nicht von Estohar“, erklärte Béarisean knapp. „Ich denke, es wäre gut, wenn Ihr sie mit einer Nachricht unauffällig zu ihm schicken könntet, damit er Bescheid weiß. Doch vorsichtig, es braucht nicht jeder zu wissen, dass wir angekommen sind.“
„Würden die Herren mir vielleicht ihre Namen verraten?“ Der alte Mann betrachtete sie mit klar erkennbarem Missfallen.
„Nein, die Herren möchten fürs erste ihre Namen nicht verraten“, sagte Robin entschlossen und warf ihm seinerseits einen Blick zu, der sein Misstrauen deutlich zeigte. „Wir bitten lediglich darum, eine Nachricht an Herrn Estohar zu schicken.“
„Ich werde sie selbst schreiben“, erklärte Béarisean. „Gibt es hier Papier, Feder und Siegellack?“
Der alte Mann brummte etwas, das als Bestätigung gelten konnte. Er befand es, wie es schien, für das Klügste, diesen unerwarteten Besuchern bedingt Glauben zu schenken, führte sie in einen helleren Raum, in dem auch ein Tisch und Stühle standen und brachte das Gewünschte. Béarisean setzte sich und schrieb:

Gruß dir, Estohar von Tarim!
Es ist lange her, dass wir Abschied nahmen. Erinnerst du dich noch an  den Hof Indolas  und an Scairt, dein Geschenk? Es war der Tag, an dem man dir die Botschaft brachte, du sollest nun dem Rat vorsitzen. Ich habe gefunden, was zu suchen, ich aufbrach. Der Feind  scheint darüber Bescheid zu wissen. Wenn du es für richtig hältst, würde ich mich freuen, dich wieder zu sehen.
                                                                                                                                                                  B. S.E.

Er hoffte, dass der Text  unauffällig genug war für den Fall, dass der Brief in falsche Hände geriet. Sorgfältig faltete und versiegelte er das Schreiben und reichte es Thomas. Der ließ sie offenbar nur ungern aus den Augen, musste sie aber nun kurz verlassen, um einen Botengänger zu suchen. Dann kehrte er wieder in die Stube zurück, wo sie sich zu dritt misstrauisch anschwiegen. Selbst das Abendessen brachte nur wenig Entspannung in die Runde. Robin begann inbrünstig zu hoffen, dass Estohar sich bald melden möge. Die Minuten schlichen vorüber. „Wir hätten uns eben doch zuerst das Fest ansehen sollen“, dachte er ärgerlich. „Danach hätten wir immer noch lange genug warten können.“ Es wurde dunkel. Thomas zündete die Kerzen auf den Leuchtern an. Béarisean versuchte zum wiederholten Mal, ein harmloses Gespräch in Gang zu bringen. Doch Thomas wollte sich nicht darauf einlassen, er hätte sie offenbar am liebsten gleich wieder vor die Tür gesetzt.

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