VII Carraig
Die Herbstnebel, die des Morgens nun aus dem Boden stiegen, hatten sich gerade erst aufgelöst und die Sonne versandte erste stärkere Strahlen, als Dorbans Reiterschar die Wälder verließ, die sie seit vielen Tagen durchritten hatte. Während der letzten Tage war das Gelände fast unmerklich nach Norden hin angestiegen, während die Hügel selbst, zwischen denen hindurch der Reitpfad verlief, immer mehr verflachten. Nun waren sie auf ein ebenes Hochland gelangt, das mit kurzem Gras bewachsen war. Vor ihnen war der Blick auf eine Gebirgskette frei geworden, die sich quer über den Horizont erstreckte. Die Reiter lenkten ihre Pferde weiter nach Osten.
Robin zügelte sein Pferd und betrachtete die Berge mit großem Interesse: „Ein hohes Gebirge. Schau, diese zackigen Felsen auf den Graten. Und das sind Gletscher dort weiter hinten. Hier würde ich gerne mehr Zeit verbringen, um ein paar Gipfel zu besteigen. Sind das die Nordberge, Alan?“
„Ja, wir sind ihnen nahe gekommen“, antwortete Béarisean. „Aber es heißt, sie seien vollkommen unwegsam – bis auf die Pässe, die nach Alandas führen. Andernorts sind es nur steile Klippen, die jäh aus der Ebene aufragen.“ Er sah sich um. „Ich frage mich, wo genau wir sind. Wir sind jetzt schon fast fünf Wochen unterwegs.“
Robin studierte die Bergkette genauer, soweit es aus der Entfernung möglich war. „Das könnte stimmen“ sagte er, mehr zu sich selbst. „Hinter uns liegt Hügelland, aber das Gelände bis dorthin scheint ausgesprochen eben zu sein. Dennoch es muss Taleinschnitte geben.“
„Den Legenden nach nicht. Aber ich war nie dort. Und von hier aus lässt es sich nicht entscheiden. Komm, die anderen entfernen sich schon, und Dorban scheint ungeduldig.“
Tatsächlich hatte der Anführer sein Pferd angehalten und sah sich nach ihnen um. Die beiden Freunde trieben ihre Pferde an und beeilten sich, wieder zur Gruppe aufzuschließen. Robins Blick blieb weiterhin bewundernd auf ein paar besonders markante und beeindruckende Spitzen gerichtet.
Nach etwa zwei Stunden, es war ungefähr Mittagszeit, ging das Grasland, das weiterhin wie vorher der Wald nach Norden hin angestiegen war, in eine steinige, vegetationslose Ebene über. Robin und Béarisean sahen nun, dass sie auf einen kleinen südlichen Ausläufer des Gebirges zuhielten. Béarisean betrachtete ihn grübelnd. Wie zumeist ritten er und Robin am Ende der kleinen Gruppe, wo sie sich ungestört und unbeobachtet miteinander unterhalten konnten. Dorban hielt dennoch stets einen wachsamen Blick auf sie gerichtet. Ab und zu lenkte er sein Pferd neben sie und unterhielt sich kurz mit ihnen. Es geschah wohl mehr aus Höflichkeit als aus Sympathie. Auch jetzt hielt er sein Pferd einmal wieder zurück und wartete, bis sie herankamen.
„Es scheint hier doch Täler zu geben“ meinte Robin gerade. Dort an der westlichen Seite dieses Ausläufers der Berge, das könnte eine Schlucht sein.“
„Das Bett des Fraoch“, sagte Dorban. „Meistens liegt es trocken.“
„Das da oben sieht fast aus wie Türme und Zinnen“, fügte Robin hinzu. „Dort auf der Höhe des Bergrückens ungefähr, wo er an die höheren Hänge stößt. Aber es ist schwer zu sagen, es ist der gleiche schwarze Fels.“
Béarisean hatte die Stirn gerunzelt, seit er den Namen Fraoch gehört hatte. „Dies hier muss der Ort sein, wo Carraig lag“, sagte er plötzlich. „Warum bringt Ihr uns hierher, Herr Dorban? Gedenkt der anonyme Fürst, sich mit uns an diesem unheilvollen Ort zu treffen?“
„Glaubt Ihr etwa an Dämonen und andere Ammenmärchen?“ meinte Dorban verächtlich. „Aber Euer Freund hat gute Augen und Ihr habt gut geraten, der Fürst wartet auf Schloss Carraig, und das recht ungeduldig, wie ich ihn kenne.“ Er blickte überrascht auf.
Béarisean hatte so abrupt die Zügel seines Pferdes zurückgenommen, dass dieses sich wiehernd aufbäumte. „Er residiert auf Carraig?“ rief er bestürzt. „Die Festung steht wieder?“
Auch Robin hatte sein Pferd gezügelt. Er blickte mit einem Schauder auf die schwarzen Felsen und das kahle Land. Einen Augenblick schien es ihm, als verdunkele sich die Sonne vor ihm. Aber Dorban winkte nur mürrisch ab. „Schon seit ein paar Jahren. Doch da sich aus Angst vor Geistern und Gespenstern kaum jemand in diese Gegend traut, ist es noch keinem aufgefallen. Die nördliche Oststraße verläuft hier zwei Tagesritte südlich.“
Béarisean hatte sich umgedreht und blickte zurück nach Westen. „Ein paar Stunden westlich liegt also Corimac“, murmelte er wie in Trance und blickte ins Leere. Dann erst begriff er völlig, was Dorban zuletzt gesagt hatte. „Carraig ist wiederaufgebaut?!“
Dorbans Blick wurde noch ungehaltener. „Das sagte ich doch. Wenn man es genau bedenkt, war das eine brillante Idee Barraids ...“
Béarisean unterbrach ihn: „Ganz Abhaileon lag in Schutt und Asche wegen der Machtgier des Schwarzen Fürsten. Und von hier aus nahm das Unheil seinen Anfang. Und er baut Carraig wieder auf?! Wer ist dieser Barraid und was will er?“ Sein Ton war scharf.
Dorban zuckte die Schultern. „Ich hätte mir schon denken können, dass Ihr so abergläubisch seid wie die meisten anderen. Aber ich nehme an, dass Ihr, nachdem Ihr so weit gekommen seid, um ihn zu treffen, auch nicht mehr gleich umkehren werdet, ohne Euch von den Gegebenheiten zu überzeugen. Also kann ich Euch wohl alles erzählen. Können wir dabei weiterreiten?“
Robin lachte plötzlich. „Alan“, sagte er, „was auch immer los sein mag, unser Begleiter hier verhält sich nicht gerade, wie man es von dem gewissenlosen Schergen eines grausamen Schwarzen Fürsten erwarten würde. Lass uns weiterreiten.“ Béarisean zögerte, nickte dann aber widerwillig.
„Ja, diese Geschichten von den Großen Kriegen“, begann Dorban. „Geister und Zauberer. An so etwas glaubte ich, als ich ein kleines Kind war. Inzwischen weiß ich, dass wenigstens die Hälfte davon reine Erfindung sind, auch wenn sie sich historisch geben. Wäre es nicht durchaus möglich, dass der gefürchtete Schwarze Fürst in Wirklichkeit nur ein großer Heerführer war, der das Land aus dem Chaos retten wollte? Dass das den etablierten Herren des Obersten Rates nicht passte und sie diesen Emporkömmling erbittert bekämpften? Dass die Mehrheit der Bevölkerung auf der Seite des großen Führers stand und deshalb die Kämpfe so heftig entbrannten? Nachdem der Gegner besiegt war, waren seine Feinde natürlich sehr daran interessiert, sein Bild so schwarz wie nur möglich zu malen. Schaut euch doch um in Abhaileon. Haben wir nicht eine sehr ähnliche Lage? Der Rat ist zu schwach, um das Land wirklich zu beherrschen. Ja, in den Städten, da erhalten sie mit Mühe und Not die Ordnung aufrecht. Doch kaum ist man wenige Meilen von den großen Siedlungen entfernt, ist kein Mensch mehr seines Lebens und seines Besitzes sicher, denn dort regieren die Räuberbanden. In den weiter entfernten Provinzen rebellieren kleine Fürsten und Ritter und scheren sich keinen Deut um die Verordnungen des Rates. Schreit das denn nicht nach einer starken Hand? Barraid sieht dies alles und will es ändern. Doch dazu braucht er eine sichere Festung und Unterstützung. Nun, Carraig war Niemandsland. Südlich von hier liegt nur mein Land. Und niemand wird ihm diesen Fürstentitel streitig machen wollen.“
„Niemand wird ihn diesen Fürstentitel führen lassen wollen“ sagte Béarisean kühl. „In meinen Ohren klingt das, als bereite er einen Aufstand gegen den Obersten Rat in Croinathír vor. Wenn man dort von ihm erfährt ...“
„Vielleicht“, sagte Dorban. „Vielleicht auch nicht. Dass Estohar Schwierigkeiten machen wird, ist natürlich absehbar. Aber es heißt, sein Einfluss sei bereits stark geschwunden. Nun, er wird nicht ohnehin nicht jünger.“
„Dann denke ich, dass sich unsere Wege hier doch trennen, Herr Dorban“, sagte Béarisean fest. Seine rechte Hand glitt auf den Griff seines Schwertes. „Es scheint, dies alles war ein Missverständnis.“ Er brachte sein Pferd zum Stehen.
Dorban sah sich zu ihm um und hielt ebenfalls an. „Da Ihr schon hier seid, solltet Ihr dennoch mit dem Fürsten sprechen“, sagte er ruhig. „Und ich vermute, Euch bleibt ohnehin keine andere Wahl.“ Er rief seinen Männern, die vorausritten zu, anzuhalten.
„Ihr wollt uns also zwingen?“
„Ich denke, das könnt Ihr mit Lord Lùg und seinen Männern ausmachen“, entgegnete Dorban. „Meine Eskorte scheint hier beendet.“ Er warf wieder einen Blick zurück nach Westen.
„Reiter dicht hinter uns“, sagte Robin. „ Sie müssen schon länger da gewesen sein. Aber die Steppe dämpfte ihren Hufschlag, während wir über steinigen Boden ritten.“
Béarisean sah sich um. Zwei Dutzend schwarz gekleideter Reiter hatten fast zu ihnen aufgeschlossen. „Ihre Pferde sind besser ausgeruht als unsere“, bemerkte Robin. Béarisean nickte. Die anderen hatten alle Vorteile auf ihrer Seite.
Ein jung wirkender Mann mit schulterlangen blonden Locken ritt zu ihnen heran, während die anderen hinter ihm einen Kreis um ihre kleine Gruppe schlossen. „Endlich zurück, Dorban“, sagte er. „Seine Hoheit wurde schon ungeduldig.“ Sein Tonfall wirkte spöttisch als er den Titel sagte. Robin musterte ihn neugierig. Er konnte nicht ganz so jung sein, wie es zunächst geschienen hatte. Er wirkte fast mädchenhaft hübsch, bartlos wie er war, aber in Stimme und Augen lag ein Zynismus, der Jahrtausende alt zu sein schien. „Und wie ich sehe hast du zwei Gäste dabei. Ritter des Königs?“ Er studierte die beiden eingehender. Der Spott schien integraler Bestandteil seiner Stimme zu sein.
„Sie stellten sich so vor“, sagte Dorban kurz. „Das ist die erste Patrouille, die ich Euch führen sehe, Lùg.“
Lùg lächelte. „Nun, unser großer Herr Asrain und der so formidable Herr Fíanael sind in anderen Angelegenheiten unterwegs. Wohlweislich in verschiedenen Gegenden. Und der Fürst hielt es für angebracht, seine hohen Gäste von einem seiner Lords begrüßen zu lassen. Da blieb nur ich.“ Er hob abwehrend die Hände. „Nicht dass ich es mit irgendeinem Ritter aufnehmen könnte.“
„Wir hatten uns gerade entschlossen, unseren Weg nach Süden fortzusetzen“, sagte Béarisean.
Lùg lächelte wieder, ohne dass es seine Augen erreichte: „Ich fürchte, Fürst Barraid würde das als große Unhöflichkeit betrachten. Und ich errege äußerst ungern sein Missfallen.“
Béarisean warf einen letzten Blick auf die Reiter. Einige hielten Bogen schussbereit. Ihnen blieb keine andere Wahl, als mit ihnen zu reiten. Auch Béarisean schien es einzusehen. Obwohl sich seine Finger um die Zügel verkrampften.
Dorban lenkte sein Pferd neben das Lùgs. Er wollte Neuigkeiten erfahren. Robin und Béarisean wurden für sich gelassen, solange sie keine Anstalten machten, sich dem Kreis ihrer Eskorte zu entziehen. Das letzte, was sie von der Unterhaltung der beiden noch hörten, waren Lùgs Worte: „Akan kam schon vor gut einer Woche zurück. Er wechselte nur das Pferd und ritt gleich weiter nach Osten.“
Robin sagte leise zu Béarisean: „Du hast mir nie viel über die Zeit der Großen Kriege erzählt. Was meinst du zu Dorbans Version der Ereignisse? Sie hörte sich schon plausibel an. Vielleicht sogar plausibler als die Geschichten selbst. Ich meine, so etwas ist in Arda oft passiert. Große Ereignisse wurden durch Dichter und Erzähler, die oft im Dienst der Sieger standen, verklärt. Ein paar aufregende Episoden wurden dazu erfunden, der Gegner so schwarz wie möglich und die eigene Seite so positiv wie möglich dargestellt. Wenn die Historiker dann den Kern des ganzen herausarbeiteten, hatten sie plötzlich eine ganz neue Geschichte vor sich. Wie sollten wir jetzt ohne historische Belege und weitere Anhaltspunkte in der Lage sein, die Dinge richtig einzuschätzen. Wir ...“
„ ....sind Gefangene“, beendete Béarisean den Satz.
„Dennoch nicht das, was man nach den Legenden erwarten würde.“
„Dann eben wichtige Gefangene. Dieser Barraid, wer er auch ist, wird uns nicht gehen lassen, um dem Rat Bericht zu erstatten. Vielleicht will er uns auf seine Seite ziehen.“
„Nun, was Dorban sagte, war nicht so unsinnig. Der Rat ist schwach. Das Land wird immer gesetzloser. Es bräuchte einen neuen Regenten, und du ...“
Ganz leise, so dass keiner der Voranreitenden es hören konnte, sagte Béarisean: „Ritter Anno, schau dich hier um und frage dein Herz nicht deinen Verstand, was hier vor sich geht.“
Robin blickte ihn überrascht an. Falls Béariseans Verdacht stimmte, war das einer der Namen, der hier nicht genannt werden sollte. Was bewegte Béarisean, ihn gerade jetzt so zu nennen?
Ritter Anno - er konnte diesen Namen nicht hören, ohne sich an seine erste Zeit als Ritter zu erinnern und an den Herrn, dem er die Treue geschworen hatte. Noch einmal fühlte er das Licht jenes Tages in sich. Er schaute auf. Sie waren inzwischen ein gutes Stück näher an die Berge herangekommen. Auf dem Bergrücken vor ihnen erkannte er bereits die gewaltigen Mauern einer Festung, die direkt aus den schwarzen Felsen herauszuwachsen schien. Aus dem gleichen Gestein gehauen, wie der Fels, auf dem sie standen, schwangen sich Mauern um Mauern empor. Türme und feste Zinnen ragten trotzig in den Himmel. Die wenigen Fenster, die er in den oberen Mauern erkennen konnte, waren schmal und schießschartenförmig. Drohend und abweisend schaute die Festung über das Land. Zu ihr hinauf führte nur ein schmaler Pfad, der sich in Serpentinen an der Felswand entlang wand. Kein Feind würde unbemerkt und unbehelligt dort hinaufgelangen können. Es gab keinerlei Schutz gegen die Waffen der Verteidiger.
Robin betrachtete die Steinwüste um sich und die drohende und mächtige Festung vor sich. Auf einmal verspürte er eine große innere Unruhe. „Ich verstehe, was du meinst“, sagte er leise.
Béarisean nickte. „Robin“, sagte er langsam und eindringlich „Wir haben eine einzige kleine Chance. Dorban ist nicht ganz überzeugt, dass wir die richtigen Ritter sind. Nach der Vorführung deiner Fechtkünste“ - Robin seufzte - „scheint er Zweifel zu hegen, dass wir tatsächlich die Gesuchten sind. Vielleicht kommt auch dieser Barraid zur selben Einsicht. Ich fürchte allerdings, unsere Aussichten sind auch dann noch schlecht.“
Robin lächelte schräg: “Irgendwie fängt unsere Geschichte wohl am falschen Ende an: Die Helden treffen den Bösewicht. Nur wird es keinen Showdown geben. - Dennoch. Vielleicht täuschst du dich, und Fürst Barraid steht doch auf unserer Seite. Denn es fällt mir einfach schwer zu glauben, dass wir jemandem wie dem Schwarzen Fürst aus diesen alten Geschichten begegnen sollten. Besonders nicht, wenn dieser jemand mit einem Dorban zusammenarbeitet, der niemals an ihn glauben würde.“
„Vielleicht“, gab Béarisean zu. „Doch wir dürfen nichts riskieren. Wenn er es ist, dann bedenke, dass du einem Meister der Lüge und Verstellung gegenüber stehst.“ Sie hatten jetzt den Beginn des Anstieges erreicht. Der Pfad verengte sich und die anderen Reiter kamen näher zu ihnen heran. Den weiteren Weg schwiegen sie.
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